Helmut Digel
Der deutschen Gesellschaft ist die Gesundheit ihrer Bürger[1] ein wichtiges Anliegen. Der Staat wendet sehr viel Mittel auf, um die Bevölkerung im Krankheitsfall zu versorgen. Auch im Bereich der Prävention ist ein erheblicher finanzieller Aufwand zu beobachten. Vor allem die Krankenkassen möchten ihre Mitglieder motivieren und befähigen, für ihre eigene Gesundheit Verantwortung zu übernehmen. Die Versicherten sollen ihr Verhalten ändern. Das Rauchen sollte möglichst ganz aufgegeben werden. Die Versicherten sollen sich mehr bewegen und Sport treiben, sie sollen sich ausgewogen ernähren und sie sollen möglichst wenig Alkohol konsumieren. Menschen, die vermehrt Stresssituationen ausgesetzt sind, sollen die ihnen angebotenen Hilfen zur psychischen Erholung annehmen. Solche Initiativen zielen meist auf ganz konkrete Institutionen unserer Gesellschaft: auf den Kindergarten, auf die Schulen, auf Sportvereine, auf den Arbeitsplatz. Dabei ist überwiegend eine Ausrichtung der Gesundheitsförderung auf das einzelne Individuum zu erkennen.
Gleichzeitig muss man jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die Anzahl der von den Menschen krank verbrachten Lebensjahre und ein krankheitsbedingtes vorzeitiges Versterben nicht, wie erhofft, durch die bislang ergriffenen Präventionsmaßnahmen ausreichend gemindert wurde. So steigen insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die durch Hypertonie, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Adipositas sowie gesundheitsbeeinträchtigende Verhaltensweisen wie Rauchen, körperliche Inaktivität und ungesunde Ernährung ausgelöst bzw. beeinflusst werden. Leider sind in den letzten Jahren zunehmend auch junge Menschen betroffen.
Die Anzahl der jungen Raucher ist leider wieder im Steigen begriffen und aus den Hautkliniken wird berichtet, dass die Anzahl der Hautkrebserkrankungen angestiegen ist, obgleich immer wieder vor den Gefahren des „Sonnenbadens“ gewarnt wird. Auch die Lebenserwartung ist in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in den letzten Jahren kaum noch angewachsen.
Wir wissen schon seit langem, dass Appelle an die Vernunft der Bürger und Bürgerinnen meist nicht sehr weitreichend und erfolgreich sind und die Einsicht in dringend notwendige Veränderungen oft nicht lange anhält. Nahezu jeder von uns hat nach einem Krankenhausaufenthalt und nach der klugen Belehrung durch die ihn behandelnden Ärzte gute Vorsätze mit nach Hause genommen: Sich täglich in der frischen Luft bewegen, weniger essen, weniger Alkohol, gesündere Ernährung, weniger Fernsehen, weniger Smartphone, öfter gesellig mit anderen zusammen sein, ausreichend lang schlafen etc. Vielleicht hat der eine oder andere sich auch vorgenommen, endlich wieder mehr Sport zu treiben und nicht seine wertvolle Freizeit mit „E-Sport“ an Spielkonsolen zu verschwenden.
Doch bereits nach wenigen Wochen ist von diesen guten Vorsätzen nichts oder nur noch sehr wenig übriggeblieben.
Der „Alltagstrott“ ist dominant und auch sehr wirkungsvoll. Alte Gewohnheiten, die der eigenen Gesundheit nicht besonders zuträglich sind, gewinnen immer wieder von neuem die Oberhand. Wobei der Einzelne bei seinen Bemühungen um eine bessere Gesundheit oft auf sich selbst gestellt ist.
Was ist daraus zu lernen?
Es reicht offensichtlich nicht aus, dass man den einzelnen Bürgern und Bürgerinnen zwar die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung im Sinne der Prävention vermittelt, sie dann aber bei der Umsetzung allein lässt und sie nicht fachlich begleitet. Ganz offensichtlich muss auch das „System“ gestärkt werden, in dem das Individuum arbeitet und lebt. Für eine Gemeinde wie Unterwössen, in der ich seit zehn Jahren lebe, heißt das, die gesundheitsbezogene dörfliche Verwaltungs- und Infrastruktur weiterhin zu stärken und dabei stets deren Weiterentwicklungsnotwendigkeiten und – Möglichkeiten im Blick zu behalten. Eine „systemische Perspektive“ – so die einhellige Meinung der führenden Gesundheitswissenschaftler in Deutschland – darf nicht nur das einzelne Individuum im Blick haben und ihm die gesamte Verantwortung für seine Gesundheit auferlegen, sondern muss vielmehr auch auf die konkreten „Lebenswelten“ in Gemeinden, Städten und Landkreisen ausgerichtet sein, sollen die Menschen, die in diesen sozialen „Räumen“ leben, möglichst lange ihre Gesundheit erhalten können.
Eine „systemische Perspektive“ des Gesundheitswesens beruht somit auf dem Entscheidungsverhalten politischer Akteurinnen und Akteure in den Städten und Gemeinden. Mit ihren politischen Entscheidungen ermöglichen oder verhindern sie, dass die in ihrem Gemeinwesen lebenden Bürgerinnen und Bürger ihren je individuellen Weg zu ihrer eigenen Gesundheit finden können.
Bei diesem Ansatz geht es also darum, dass es Aufgabe von Politik und Verwaltung ist, die „Möglichkeitsräume“ für ein individuelles Verhalten so zu gestalten, dass sie geeignet sind, die Erkrankungs-Risiken zu senken. Dazu gehört auch, dass in den bestehenden und noch neu zu schaffenden „Möglichkeitsräumen“ einer Gemeinde – wie z.B. in meiner Heimatgemeinde Unterwössen – für die Freiheitund die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren des sich schon seit längerer Zeit abzeichnenden Klimawandels Vorsorge getroffen wird. Dazu gehört aber auch, dass man an notwendige „Schutzräume“ denkt, die den Bewohnern zur Verfügung stehen werden, sollte es zu einem – hoffentlich nie eintretenden – Katastrophenfall mit den unterschiedlichsten Ursachen kommen.
Jede Gemeinde steht schon heute vor vielfältigen Herausforderungen, die alle (möglichst) gleichzeitig zu bewältigen sind. Einige dieser Herausforderungen sind bereits vor Ort zu beobachten, andere sind indirekter Natur und werden durch Ereignisse und Gefahren in anderen Ländern oder auf anderen Kontinenten bereits sichtbar.
Dazu gehören:
- die Klimakrise mit längeren Regen und Trockenperioden
- Fluchtbewegungen in Folge von Hitze und Dürre,
- Kriege, die Flüchtlingsströme zur Folge haben,
- Energiekrisen,
- Artensterben und Reduktion der Artenvielfalt,
- Bodenerosion,
- der demographische Wandel,
- immer häufiger anzutreffende Viruserkrankungen
Es geht für uns alle darum, das Geflecht zwischen Artenvielfalt, Klimawandel, Wasserressourcen, Ernährung und menschlicher Gesundheit zu erkennen. Wir müssen begreifen, wie all diese Fakten und Ereignisse miteinander interagieren und wie diese
für uns alle als „Anzeichen“ von Krisen zu erkennen sind.
Die damit verbundenen Herausforderungen bedrohen in der letzten Konsequenz die Gesundheit eines jeden Gemeinwesens. Werden die damit verbundenen Probleme nicht angegangen, so werden den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeitsräume verstellt, sich gesund zu verhalten. Die mentale, seelische und körperliche Gesundheit des Einzelnen wird bedroht und das Gemeinwesen wird fragil, wenn die Menschen, die auf unserer Erde wohnen, und dazu gehört jeder von uns, die dringend benötigten Transformationswenden nicht schaffen und sie nicht zum Gelingen bringen. Jede einzelne Wende – die Klimawende, die Migrationswende, die Energiewende, die Mobilitätswende, die Wende im Wohnungsbau, die digitale Wende, die Wende in der industriellen Produktion – stellen dabei für jedes Gemeinwesen immer schwerer zu bewältigende Herausforderungen dar.
Was kann dies für eine Gemeinde, für deren Verwaltung und für die politischen Akteure dieser Gemeinde bedeuten?
Als Bürger von Unterwössen, einer kleinen Dorfgemeinde mit 3800 Einwohnern in den Chiemgauer Alpen, möchte ich im Folgenden einen Vorschlag unterbreiten, der nur als ein erster Anstoß verstanden werden sollte. Ich würde mich freuen, wenn er als hilfreich empfunden würde. Meines Erachtens könnte man der Verwaltung meiner Gemeinde und dessen Gemeinderat das folgende„Fünf-Schritte-Programm“empfehlen:
In einem ersten Schritt könnten der Gemeinderat und die Verwaltung alle die bereits in der Vergangenheit und bis heute geschaffenen Strukturen der Gemeinde in Bezug auf die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger dokumentieren und über diese Errungenschaften die Einwohner umfassend informieren.
Dank der vorsorglichen Kommunalpolitik der letzten Jahre hat die Gemeinde bereits sehr viel unter dem Gesichtspunkt der Gesundheitsprävention zu bieten:
– Mit einem Bergbach verfügt die Gemeinde über die schönste, längste und beste „Kneipp- Anlage“ in Bayern und vermutlich auch darüber hinaus.
– Die Gemeinde verfügt über eine beispiellos schöne Almenlandschaft, die zu gut beschilderten Bergwanderungen mit einer Einkehr zu einer Brotzeit geradezu einlädt.
– In der Umgebung des Dorfes gibt es ausreichende Möglichkeiten zum Schwimmen lernen, zum Schwimmen und zum Baden in Seen, die auch ausreichend gepflegt werden.
-Es wurden attraktive Wanderwege ausgebaut und sie werden ständig erweitert und verbessert.
– Die Qualität der Höhenluft in dem Gebirgsdorf entspricht höchsten gesundheitlichen Anforderungen.
– Die Wasserversorgung mit ausreichend gutem Wasser ist für die Bevölkerung mittel- und langfristig gesichert.
– Das Dorf bietet seinen Bürgern Freiheit und Sicherheit gleichermaßen. Es weist eine äußerst geringe Kriminalitätsrate auf, und auch die Verkehrsunfallsrate ist vergleichsweise niedrig.
Auf der Grundlage dieser Erfolge verpflichtet sich der Gemeinderat in einem zweiten Schritt, alle bislang ergriffenen gesundheitsfördernden Maßnahmen haushaltspolitisch abzusichern und für die weitere Zukunft fortzuschreiben. Ferner vereinbart er, bei steigendem Bedarf in erforderlichem Ausmaß weitere „Möglichkeitsräume“ für Wandern Joggen und Radfahren zu schaffen.
In einem dritten Schritt werden von der Verwaltung und vom Gemeinderat überprüft, inwiefern man „Neue Initiativen“ zu Gunsten einer aktiven Sport-, Spiel- und Bewegungskultur benötigt, die über das bestehende Angebot des örtlichen Sportvereins hinausgehen und die für alle Altersgruppen und Geschlechter offen zugänglich sind. Zu prüfen ist dabei auch, ob für das dringend benötigte neue Bewegungsprogramm ein bei der Gemeindeverwaltung angestellter lizensierter Übungsleiter finanziert werden kann. Das anzutreffende Sport-, Spiel- und Bewegungsangebot bedarf einer Evaluation. Das Angebot sollte unter Beachtung der vier Jahreszeiten überprüft werden und eine genaue Auswertung des Freiluftangebots im Vergleich zum Angebot in überdachten Räumen enthalten. Auf der Grundlage der Evaluation sollten Projekte zur Erweiterung des Spiel-, Bewegungs- und Sportangebots erarbeitet und umgesetzt werden. Die Gemeinde sollte sich u.a. auch der Förderung sportlicher Talente verpflichten und neue Formen der Würdigung sportlicher Leistungen in ihrer Gemeindekultur berücksichtigen. Auch der Durchführung von Sportveranstaltungen, die sich durch eine besondere aktive Mitmachkomponente auszeichnen, sollte sich der Gemeinderat mit seiner Gemeindeverwaltung verpflichtet fühlen (jährlicher „Spendenlauf für die Welthungerhilfe“ durch die gesamte Gemeinde, „Tag des Fahrrads“ auf den Straßen und Wegen von Unterwössen, „Jedermann und Jedefrau Fußballturnier“ für alle in der Gemeinde bestehenden Institutionen und Gruppierungen, „Tag des Sportabzeichen“ etc.).
Zu einem vierten Schritt gehört, dass die bereits ergriffenen Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger vor klimabedingten Hitzewellen, Kälteeinbrüchen und Überschwemmungen zu schützen, kontinuierlich ausgebaut werden.
Zum Schutz vor Unwetter und Stürmen sind auf Vorschlag von Experten ggfls. weitere Entscheidungen zu treffen.
Die Sicherung einer sauberen Atemluft für jeden Bürger hat für die Verantwortlichen der Gemeinde, für Gemeinderat und Verwaltung, weiterhin höchste Priorität.
Gleiches gilt für das Trinkwasser, das auch zukünftig höchsten gesundheitlichen Ansprüchen gerecht werden muss.
Ein sehr wichtiger fünfter Schritt der Gemeindeverwaltung und des Gemeinderats hat sich auf die zunehmend sich verschärfende Verkehrsproblematik zu beziehen. Inzwischen ist der hohe und weiterhin zunehmende Individualverkehr zu einer allgemeinen Gefährdung insbesondere von Kindern und älteren Menschen beim Überqueren von Straßen geworden. Höchste Priorität muss daher der Schutz dieser Personengruppen, aber auch der Schutz der Radfahrerinnen und Radfahrer haben. Angesichts des Verkehrs im und durch das Dorf ist zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung der Verkehrswege-Plan zu überprüfen und zu aktualisieren. Eine neue Verkehrszählung ist hierzu erforderlich.
Mit diesem „Fünf Schritte Programm“ könnte die Gemeinde ihren Bürgerinnen und Bürgern die Chance bieten, sich individuell in Bezug auf deren Gesundheit und Wohlbefinden zu verwirklichen.
Zu empfehlen sind ferner kommunale Workshops unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, in denen diese gemeinsam mit den Entscheidungsträgern in der Gemeinde die kommunalen Gesundheits- und Sicherheitsprobleme diskutieren, gemeinsam Wege und Lösungen suchen und damit die notwendigen Entscheidungen in den politischen Gremien in einer fundierten und nachvollziehbaren Weise vorbereiten. Ein einmal im Jahr stattfindender „Dorf- Dialog“ könnte hierzu ein geeignetes Format sein.
Im kommunalen Leitbild der Gemeinde sollte die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger eine hohe Priorität erhalten. Ökologische und transformative Resilienz ist für jedes Gemeinwesen das Gebot der Stunde.
Es ist ein Glücksfall und in vieler Hinsicht auch sehr beruhigend für die Gemeinde, in der ich lebe, dass unter der aktuellen politischen Führung durch dessen Gemeinderat, durch den Bürgermeister und dessen Gemeindeverwaltung bereits wichtige Beschlüsse und Vorleistungen zu Gunsten unseres Dorfes erbracht wurden, die auch den Schutz der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen. Zur Fortführung seiner gesundheitsökologischen Politik ist den Verantwortlichen der Gemeinde zu empfehlen, die vom Land Bayern und vom Bund bereitgestellten finanziellen und personellen Hilfen zu nutzen, die es bereits heute in vielfältiger Weise für zukünftige Schutzmaßnahmen gibt. Es ist auch zu empfehlen, sich durch eine gutachterliche Expertise der zuständigen Landes- und Bundesbehörden sowie des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und des Umweltbundesamtes beraten zu lassen.
Letzte Überarbeitung: 8.2.2025
Themenzuordnung: Gesellschaftliche Entwicklung und Sportentwicklung
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.