Der Weltsport im Olympischen Jahr 2024

Der Weltsport kann einen ökonomischen Systemerfolg im Jahr der Olympischen Spiele 2024 aufweisen wie es bei keinem anderen gesellschaftlichen Teilsystem der Fall ist. Die Olympischen Spiele in Paris können dabei als der zwischenzeitlich erreichte Höhepunkt bezeichnet werden, der sehr schnell durch den nächsten Höhepunkt, der weltweit größten Fußballshow im Jahr 2026, abgelöst wird. Die kapitalistische Devise „Wachstum“ gilt für dieses System wie für kein anderes und es werden trotz aller, oder gerade wegen aller politischen Krisen, höhere Umsätze und Gewinne erzielt als jemals zuvor. Die in diesem System handelnden Personen zeichnen sich vor allem durch eine unersättliche Geldgier aus. Dies gilt für die sportlichen Akteure¹, für die verantwortlichen Funktionäre, für die Veranstalter, für die Sponsoren und wirtschaftlichen Partner, für die begleitenden Massen- und sozialen Medien, d.h. für alle Beteiligten wohl nicht im gleichen Umfang aber doch in der anzutreffenden Ausrichtung gleichermaßen. Obszöne Transfersummen, überhöhte Gehälter, maßlose Antrittsgelder, fragwürdige Werbeverträge, noch immer anwachsende Kosten für Übertragungsrechte, rechtlich kaum nachvollziehbare Erlasse von Steuern rufen dabei nahezu täglich öffentliche Verwunderung hervor, ohne dass dabei infrage gestellt wird, dass diese Obszönität auf dem Rücken der Steuerzahler stattfindet.

Die Erfolgsgeschichte des Weltsports reicht zurück bis in die Anfänge des modernen Sports im 18. Jahrhundert in England und hat mittlerweile ein globales Ausmaß und jede Nation dieser Welt erreicht. Nahezu jährlich gewachsen ist dabei die Anzahl der sportlichen Aktivitäten, die als Wettkämpfe ausgetragen werden, die Anzahl der daran teilnehmenden Athletinnen und Athleten, die Anzahl der Wettbewerbe in den jeweiligen Sportarten, die Anzahl der „aktiven“ Zuschauer bei den Wettkämpfen selbst und nicht zuletzt die Anzahl  der „passiven“ Zuschauer in den Massen- und sozialen Medien. Antriebsmotoren für dieses Wachstum waren zunächst zahlreiche industrielle Errungenschaften, neue Transportmittel und neue Transportwege, der allgemeine Globalisierungsprozess und nicht zuletzt die Digitalisierung unserer Welt. Aber auch sportspezifische Entwicklungen müssen beachtet werden: die Erfindung neuer Sportarten und neuer Sportgeräte, die veränderte Turnus- Planung für die internationalen Sportveranstaltungen (z.B. werden heute immer mehr internationale Sportveranstaltungen, die zunächst alle vier Jahre, dann alle zwei Jahre durchgeführt wurden, mittlerweile jährlich angeboten), das politische Bemühen um touristische Attraktionen und Events für Metropolen und Nationen, die Marketing- und Sponsoringstrategien von nationalen und internationalen Wirtschaftsunternehmen, der Konkurrenzkampf zwischen staatlichen und privaten Fernsehgesellschaften und Internetbetreibern, der noch immer wachsende Freizeitkonsum der Bürgerinnen und Bürger, etc. Besonders zu erwähnen ist die in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich so weitreichende Emanzipation der Frau wie im Sport, die dazu geführt hat, dass mittlerweile nahezu jede Sportart sowohl von Männern als auch von Frauen (möglicherweise auch von weiteren Geschlechtern) ausgeübt wird und mittlerweile auch bei Olympischen Spielen sowohl in Bezug auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als auch was die angebotenen Wettbewerbe betrifft eine völlige Gleichberechtigung erreicht ist. Dabei ist in vielen Sportarten nach wie vor ein Gender- Pay- Gap und eine unzureichende Mitbestimmung zu beklagen.

Bei einer oberflächlichen Betrachtung dieser Entwicklung kann man durchaus von einer Win- Win- Situation sprechen, in der es keinen Grund gibt, dass der eingeschlagene Wachstumsweg geändert wird. Die Geldgier aller wird befriedigt und alle, die diesen Weltsport begleiten, stellen dessen Entwicklung nicht infrage. Durch ihre Beteiligung daran erfährt er meistens sogar noch eine sehr intensive Förderung. Dies gilt für das System der Politik gleichermaßen wie für das System der Wirtschaft, der Massenmedien und nicht zuletzt für die Zuschauer.

Betrachten wir jedoch die aktuelle Situation des Weltsports mit einem etwas genaueren Blick und aus einer kritischen Perspektive, so werden allerdings Merkmale dieses Weltsports sichtbar, die man in jeder Hinsicht als gefährlich und bedrohlich bezeichnen muss. Einige dieser Merkmale sollen hier hervorgehoben werden:

1. Ökologischer Overkill

Durch sein unersättliches Wachstum ist der Weltsport längst zu einem der führenden Umweltsünder geworden. Dieses Wachstum zeigt sich uns in allen professionell betriebenen Sportarten und in sämtlichen olympischen Sportarten. Als besonders drastisches Beispiel ist die FIFA zu nennen. Nahmen noch im Jahr 1930 bei der ersten WM in Uruguay lediglich 13 Mannschaften teil, so waren es 1974 bei der ersten WM in Deutschland bereits 16, beim sog. Sommermärchen 2006 waren es 32 Mannschaften und bei der nächsten Fußball WM in USA, Kanada und Mexiko im Jahr 2026 werden es 48 Mannschaften sein. Die WM in Katar wurde von 3,4 Millionen Stadionzuschauern besucht. Pro Spiel wurde ein Durchschnitt von 53.185 Zuschauern ausgewiesen.
Bei der jüngsten Handball- Europameisterschaft in Deutschland glaubte der DHB sich rühmen zu müssen, dass er beim Eröffnungsspiel einen Zuschauerweltrekord mit mehr als 50. 000 Zuschauern bei einem Hallenhandballspiel erzielt hat, indem er das Spiel in einer Fußball- Arena ausgetragen hat, bei der ein Zuschauer in den oberen Rängen für das genauere Verfolgen des Spiels eine Sehhilfe benötigte.
Die ständige Vermehrung von Weltmeisterschaften, Weltcups, Formel 1 Rennen, Continental Meisterschaften und nationalen Meisterschaften, die Verlängerung der Dauer dieser Wettkämpfe, die Erhöhung der Anzahl der teilnehmenden Nationen, die Steigerung der Teilnehmerzahlen der an den internationalen Wettkämpfen teilnehmenden Athletinnen und Athleten, die ständig wachsenden vorbereitenden Maßnahmen zur Durchführung dieser internationalen Veranstaltungen und die nicht enden wollenden Bemühungen um die höchsten Zuschauerzahlen haben zu einem internationalen Verkehrsaufkommen geführt, dessen CO2 Emissionen sich mit den weltweit führenden Umweltsündern vergleichen lassen. Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen kennzeichnen dabei lediglich die verschleiernde und geradezu kriminelle Rhetorik jener Personen, die für dieses unsägliche Wachstum verantwortlich sind. Symbolische Pflanzaktionen von Bäumen und Jungwäldern können dabei nur als eine Ablenkung vom skandalösen Sündenfall gedeutet werden, für den der Weltsport verantwortlich zeichnet.

2. Zunahme krimineller Strukturen und Zunahme von Korruptionsfällen

Der Weltsport stellt sich uns als eine globale Wirtschaftssparte dar, in der die beteiligten Akteure Umsätze in Milliarden Höhe tätigen und in nahezu derselben Höhe außergewöhnlich hohe Gewinne erzielt werden. Zur Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen bedienen sich die Akteure lobbyistischer Strukturen wie sie auch in anderen internationalen Wirtschaftszweigen üblich sind. Durch die vermehrte Beteiligung von Agenturen, Agenten und Lobbyisten, die die Entscheidungsprozesse über die Vergabe der internationalen Events des Weltsports vorbereiten, beeinflussen und mitentscheiden, sind Tor und Tür für korrupte Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren geöffnet. Als besonders empfänglich haben sich dabei die Entscheidungsgremien der internationalen Sportfachverbände erwiesen, die bei jeder Vergabe eines internationalen Sportevents in ihrer Sportart erwarten, dass sie dabei mit – in einer verharmlosenden Sprache bezeichneten – sog. „Incentives“ konfrontiert sind und neben den Interessen ihres Verbandes auch persönliche Interessen realisieren können. Auch bezogen auf diese Problematik lässt sich das für den Weltsport typische Merkmal des Widerspruchs zwischen „Talk und Action“ beobachten. So wie es eine heuchlerische und folgenlose „ökologische Rhetorik“ gibt, so gibt es auch eine folgenlose „Ethik-, Governance- und Compliance- Rhetorik“, die als bloßer „Talk“, aber ohne „Action“ immerhin zur Beruhigung der Partner und Stakeholder des Weltsports beiträgt und damit ein folgenloses „Weiter so“ möglich macht. Jede Neuwahl in die Führungsgremien des Weltsports und die dabei zur Diskussion stehenden Kandidaten bestätigen dabei immer wieder von neuem, wie wirkungsvoll die „Talk-Action-Philosophie“ des Weltsports in diesem Zusammenhang ist.

3. Zunahme sozialer Ungleichheit im System des Sports

So wie die Zunahme der Kluft zwischen Arm & Reich in den vergangenen Jahrzehnten in allen Gesellschaften dieser Welt zu beklagen ist, so hat auch die Entwicklung des Weltsports in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, dass das für den Sport äußerst bedeutsame Gleichheitsideal immer häufiger infrage gestellt wurde. Das Phänomen der sozialen Ungleichheit zwischen Athletinnen und Athleten, Trainern und Trainerinnen, zwischen Sportarten, zwischen sporttreibenden Nationen, zwischen Vereinen und Verbänden ist immer mehr angewachsen.
Die reichsten 1 % der Bevölkerung dieser Welt besitzen doppelt so viel wie die restlichen 99 % (Oxfam Studie 2022). Die zehn Superstars des Weltsports verfügen über ein Einkommen und ein Vermögen, das höher ist als das gesamte Vermögen aller 10.000 Teilnehmer bei Olympischen Spielen und aller Athletinnen und Athleten, die in den Weltranglisten der internationalen Sportfachverbände geführt werden. Formel-1-Weltmeister Max Verstappen hatte im Jahr 2023 ein Vermögen von 100 Millionen € aufzuweisen. Sein Gehalt bei Red Bull betrug 52 Millionen €. Das Vermögen von Lionel Messi wird auf 550 Millionen € geschätzt, sein Einkommen betrug im Jahr 2023 110 Millionen €. Im August 2023 war Cristiano Ronaldo mit einem Jahresgehalt von 177 Millionen £ der bestverdienende Fußballspieler der Saudi-Arabischen Fußballprofiliga. Die Ablösesumme für Neymar betrug 220 Millionen € als dieser 2018 vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain wechselte. Novak Djoković weist 2023 ein Vermögen von 180 Mio. Euro und ein Einkommen von 20 Mio. Euro auf.
Beim Tennis betrug das Budget der letzten „Australian Open“ 74 Millionen $ und der Turniersieger erhielt ein Preisgeld von 1,9 Millionen $. Ein Jahr zuvor bei den „French Open“ in Paris gab es bereits ein Preisgeld für den Sieger von 2,3 Millionen $. Der Sieg bei der Tour de France 2022 war mit 500.000 € ausgelobt.
Die Kluft zwischen Arm und Reich im System des Hochleistungssports des Weltsports wird vor allem dann sichtbar, wenn man die finanzielle Lage und die Honorierung von sportlichen Höchstleistungen, d.h. von Leistungen, die durchaus in Bezug auf zeitlichen und materiellen Aufwand für Training und Wettkampf mit den höchstdotierten Leistungen der Sportstars vergleichbar sind, in der großen Mehrheit aller als Wettkampfsport betriebenen Sportarten betrachtet. In Sportarten wie Rudern, Feldhockey, Badminton oder Kajak  muss die große Mehrheit der Athletinnen und Athleten damit zufrieden sein, eine Aufwandsentschädigung für ihren mit mindestens genauso hohem Aufwand betriebenen Sport zu erhalten. Meist müssen sie sich sogar mit einer diskriminierenden Bezeichnung ihres Sports als “Randsport“ abfinden. Selbst wenn sie bei Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewinnen, so ist nicht nur ihr „Ruhm“ sehr schnell vergänglich, sondern auch die nur sehr kurzfristig angelegte finanzielle Entschädigung.
Die zahlreichen Nicht-olympischen Sportarten, in denen ebenfalls Höchstleistungen vollbracht werden, sind dabei noch nicht einmal im Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit.

4. Zunahme von Gewalt

In der Welt des Hochleistungssports hat man sich seit mehreren Jahrzehnten damit abgefunden, dass vor, während und nach sportlichen nationalen und internationalen Wettkämpfen sämtliche denkbare Ausdrucksformen von Gewalt beobachtet werden können. Besonders betroffen sind dabei die Mannschaftssportarten, wobei es mittlerweile auch zu einer Zunahme psychischer Gewalt in allen übrigen Sportarten gekommen ist.
Die zu beobachtende Gewalt der Athletinnen und Athleten untereinander ist in einem direkten Zusammenhang mit der Zunahme der ökonomischen Bedeutung der jeweiligen Wettkämpfe zu sehen, bei denen die Gewaltausschreitungen, gravierende Regelverstöße und Foulhandlungen zu beobachten sind. Die mediale Aufwertung der sportlichen Wettkämpfe begünstigt die immer zahlreicher werdenden Zuschauerausschreitungen. Bestimmte „Fan“- Gruppierungen erhalten dabei eine öffentliche Plattform für ihre von physischer und psychischer Gewalt geprägten Aktionen und für ihre Auseinandersetzungen mit konkurrierenden „Fans“. Die in sehr vielen Stadien und Arenen zu beobachtende physische und psychische Gewalt, das Anwachsen von unfairen Ausdrucksformen und damit die Verletzung sämtlicher ethischen Maximen des Leistungssports wird auch durch spezifische Inszenierungen begünstigt, die die Veranstalter der Sportereignisse zu verantworten haben. Gesänge und musikalische Inszenierungen, das „Anheizen“ und „Einpeitschen“ der Zuschauer durch Hallen- und Stadionsprecher sind ursächlich an einer Entwicklung beteiligt, die dazu führt, dass gegnerische Mannschaften zu „Feinden“ werden, dass Chauvinismus und Rassismus im Weltsport immer häufiger anzutreffen sind und dass selbst Sportarten heute von diesen Entwicklungen erfasst werden, in denen es noch vor wenigen Jahren so gut wie keine nationalistischen Exzesse gegeben hat. Die Politisierung der internationalen Sportveranstaltungen führt immer häufiger dazu, dass sogar das sportliche Ereignis Auslöser für Kriegshandlungen zwischen Nationen werden kann und damit letztendlich Ursache für den Tod vieler unschuldiger Opfer wird.

5. Verlust der Autonomie der Sportorganisationen

Noch vor wenigen Jahrzehnten waren nationale und internationale Sportwettkämpfe Freizeitereignisse, die in ihrem Kern auf Vereinbarungen zwischen Athletinnen und Athleten beruhten, die die „Idee“ ihrer jeweiligen Sportart festgelegt, sich auf gemeinsame Regeln verständigt und sich über eine Wettkampfstruktur, auf der Grundlage von erbrachten sportlichen Leistungen, geeinigt hatten. Die Situation des Wettkampfsports war somit von Autonomie und Selbstverantwortung geprägt und mittels ehrenamtlicher Strukturen wurde die Regelbefolgung überwacht und bei Verstößen entsprechend sanktioniert. Zur Durchsetzung der Sportinteressen der jeweiligen Athletinnen und Athleten fand man sich in sog. freiwilligen Vereinigungen zusammen, die intermediär zwischen Staat und Privatheit positioniert gewesen sind. Diese freiwilligen Vereinigungen waren parteipolitisch neutral, sie steuerten autonom ihre eigenen Geschicke und waren nur ihren eigenen Mitgliedern verpflichtet. Mitgliedsbeiträge bildeten die ökonomische Basis für den von den jeweiligen Vereinsmitgliedern geliebten Wettkampfsport.
Betrachten wir hierzu im Vergleich die Situation des Hochleistungssports in diesen Tagen, so kann sehr schnell erkannt werden, dass von dieser in gewisser Weise idealen Ausgangssituation nur noch ganz wenig übriggeblieben ist. Die politische und ökonomische Aufwertung des nationalen und internationalen Wettkampfsports, wie sie in den letzten Jahrzehnten rapide fortgeschritten ist, hatte zur Folge, dass sich immer mehr externe Interessensgruppen in die Belange des Sports eingemischt haben und auf diese Weise dessen Autonomie und politische Neutralität zunehmend gefährdet haben. Die parteipolitische Inanspruchnahme vieler Führungsgremien des organisierten Wettkampfsports ist aber ebenso wenig zu übersehen wie die zunehmende Beeinflussung durch Wirtschaftsunternehmen, durch Massenmedien und im vergangenen Jahrzehnt vor allem durch die sozialen Medien. Die Olympischen Spiele 2024 in Paris sind dabei der unrühmliche Höhepunkt einer Entwicklung, bei der die Autonomie des organisierten Sports und seine parteipolitische Neutralität infrage gestellt werden. Immer häufiger haben gegenüber der Wirtschaft, den Massenmedien und vor allem gegenüber den sich einmischenden Staaten devote und teilweise direkt abhängige Sportfunktionäre das „Sagen“, die nicht wissen, wodurch sich autonome Sportpolitik von staatlicher Politik zu unterscheiden hat.

6. Zunahme von Privatisierungsmaßnahmen

Der noch immer wachsende Autonomieverlust der Sportorganisationen und ihre unterwürfige Abhängigkeit zur staatlichen Politik haben vor allem einen Machtverlust zur Folge. Dies wiederum bedeutet, dass der „Alleinvertretungsanspruch“ der Sportorganisationen für die jeweilige von ihnen vertretenen Sportart, der viele Jahrzehnte lang von allen am Weltsport Beteiligten akzeptiert wurde, immer häufiger infrage gestellt wird. In immer mehr Sportarten lassen sich Abspaltungstendenzen beobachten, die zunächst nicht selten in unzufriedenen Athletinnen und Athleten ihre Ursache hatten. Gemeinsam mit Managern und Veranstaltern wurden teilweise nicht genehmigte Sportwettbewerbe ausgetragen, die nicht nur von den betroffenen Sportverbänden als eine drohende Gefahr bewertet wurden, sie wurden auch als „illegal“ bezeichnet. Tendenziell war damit allerdings der Anstoß für privatwirtschaftliche Unternehmen gegeben, sportliche Wettkämpfe unabhängig von Sportverbänden durchzuführen. In den letzten Jahren hat sich diese Tendenz zur Privatisierung erheblich beschleunigt. Immer häufiger finden Sportereignisse ohne organisatorische Verantwortung von Sportfachverbänden statt. Selbst internationale Multi- Sportevents werden mittlerweile offeriert und stellen einen beachtlichen Faktor im Kalender des Weltsports im Jahr 2024 dar. Dazu gehören auch so fragliche „Innovationen“, wie die „Enhanced Games“, von denen man sich ihr Scheitern nur wünschen kann. Besonders beachtenswert sind die Interventionen in den Weltsport durch die arabische Welt, wobei es zu privatwirtschaftlichen Initiativen kommt, die jedoch staatskapitalistisch politisch totalitär gesteuert werden. Zu erwähnen sind dabei die „LIV- Golf -Tour“ und die neuen Profi-Fußballligen in Saudi-Arabien und in mehreren Emiraten. Vergleichbare pseudoprivate Entwicklungen mit staatskapitalistischer Steuerung lassen sich auch in China beobachten.

7. Zunahme der Fremdbestimmung durch staatliche Politik

In der Vergangenheit war von „Staatssport“ immer dann die Rede, wenn diktatorische oder monarchische Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern Sport und Sportereignisse offerierten. Folgen wir dem Demokratie- Index so leben 45,3 % der Weltbevölkerung in Demokratien und 36,9 % in Diktaturen. „Staatssport“ ist somit sehr weit verbreitet und es kann eigentlich kaum noch verwundern, dass bestimmte Staatengemeinschaften ihre eigenen Sportorganisationen aufweisen und damit auch eigene internationale Sportveranstaltungen zu verantworten haben. Als immer häufiger nachgeahmtes Beispiel müssen dabei die Commonwealth Games erwähnt werden. Nationale Sportwettkämpfe, die auf politischen Bündnissen beruhen, haben mittlerweile ebenfalls eine langjährige Tradition. In jüngster Zeit sind es vor allem Russland und China, die sich um politische „Gegenspiele“ zu den bestehenden internationalen Sportereignissen bemühen. Die „BRICS- Games“² sind dabei ebenso eine Gefahr für den durch Sportverbände organisierten Weltsport wie die russischen „Freundschaftsspiele“ in Kasan 2024, die als Reaktion auf den Ausschluss Russlands von den Olympischen Spielen in Paris zu verstehen sind.
War die Fremdbestimmung des internationalen Sports durch staatliche Politik in der Vergangenheit vorrangig ein Problem, das durch totalitäre und kommunistische Politiksysteme verursacht wurde, so kann in jüngster Zeit auch eine vermehrte staatliche Beeinflussung der Sportentwicklung durch Staaten mit demokratischer Gesellschaftsordnung beobachtet werden. Die Tendenzen zur Verstaatlichung sind in fast allen demokratischen Gesellschaften in den vergangenen Jahren weiter vorangeschritten, was im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 2024 sogar dazu geführt hat, dass sich westliche Demokratien in die Frage der Teilnahmeberechtigung, Qualifizierung und Nominierung von Teilnehmern für Olympische Spiele eingemischt haben. Beispielhaft sei hier die Nötigung des NOKs für Deutschland zu einem Verstoß gegen die Olympische Charta des IOC durch eine Ministerin der Bundesregierung erwähnt.

8. Beschleunigter Werteverfall

Angesichts des überall in der Welt zu beobachten sozialen Wandels, angesichts politischer und ökonomischer Krisen, angesichts einer noch immer wachsenden Anzahl an militärischen Konflikten, angesichts zunehmender religiöser Auseinandersetzungen, angesichts der unterschiedlich verlaufenden demographischen Veränderungen und angesichts weltweit zu beklagenden Menschenrechtsverletzungen kann es eigentlich kaum überraschen, dass auch der Weltsport von einer kritischen Diskussion über dessen Werte betroffen ist. Es ist geradezu bezeichnend, dass sich das IOC mit dessen Präsidenten geradezu genötigt gesehen hat, das olympische Motto „altius, fortius, citius“ mit einem „communiter“ zu erweitern, um auf die Gefährdung des für den Weltsport äußerst bedeutsamen Wertemusters der Solidarität hinzuweisen. Die nicht nur für den Olympischen Sport konstitutiven Werte des Fair Play, der Höchstleistung auf der Grundlage von Konkurrenz und Assoziierung, der Freundschaft, der solidarischen Hilfe und des Respekts sind bei immer mehr Veranstaltungen und Erscheinungsformen des Weltsports in diesen Tagen bedroht und gefährdet. Der Weltsport befindet sich in einer bereits seit längerer Zeit andauernden Phase des ethischen Verfalls.

9. Machtübernahme durch externes und fremdbestimmtes Führungspersonal

Mit der Zunahme der Stakeholder, die an den finanziellen Gewinnmöglichkeiten des Weltsports interessiert sind, und dem Bedeutungszuwachs des Teilsystems „Sport“ für die den Sport umgebenden gesellschaftlichen Teilsysteme „Wirtschaft“, „Massenmedien“ und „Politik“ hat schon sehr früh ein schleichender Prozess der Veränderung bezogen auf das Führungspersonal in den Organisationen des Sports stattgefunden. Der in früheren Zeiten noch übliche Rekrutierungsprozess des Führungspersonals aus dem Kreis der ehemaligen aktiven Athletinnen und Athleten aus den jeweiligen Sportarten wurde längst ersetzt durch ein „Machtspiel“, bei dem immer mehr Persönlichkeiten außerhalb des Systems des Sports sich immer intensiver für die durchaus begehrenswerten Führungspositionen des Weltsports interessierten und sich bemühten, die Spitzenposition der Verbände zu übernehmen. Teilweise geschieht dies aus dem Bemühen um eine höhere Kompetenz aus den Bereichen Management, Marketing, Kommunikation und vor allem aus verschiedenen juristischen Kompetenzbereichen. Häufiger geschieht dies jedoch aus reiner Gier und purem Machtstreben einzelner Personen, denen bei dem Erreichen ihrer Ziele nahezu jedes Mittel recht ist.

10. Zunahme des Wettbetrugs

Der Begriff „Wettkampfsport“ weist daraufhin, dass bereits bei der Geburt des modernen Sports in England dieser Art von Sport- und Körperkultur das Wetten in die Wiege gelegt wurde und die weitere Entwicklung des modernen Hochleistungssports bis heute begleitet. Das Wetten kann als ergänzendes „Spiel“ zum eigentlichen Spiel des Sports gedeutet werden und es muss keineswegs notwendigerweise mit Betrug und Korruption einhergehen. Doch wo immer es zu einem Bedeutungszuwachs eines gesellschaftlichen Phänomens kommt, wo sich die Wetteinsätze und Risiken erhöhen, geht es immer auch um mehr Geld als zuvor und es besteht Suchtgefahr. Gleichzeitig wächst die Gefahr der Manipulation all jener sportlichen Wettkämpfe, auf die gewettet wird.
Heute werden weltweit 1,5 Billionen € mit Sportwetten umgesetzt. In Deutschland betrugen im Jahr 2019 die Wetteinsätze 9,0 Milliarden €. Das Volumen hat sich in wenigen Jahren verdreifacht. Beim Wettbetrug geht es vor allem um Bestechung von sportlichen Akteuren und um die Manipulation von sportlichen Wettkämpfen („Match Fixing“). Für das Jahr 2022 hat die Analysefirma „Sportradar“ 1.212 manipulierte Spiele in 92 Ländern und zwölf Sportarten verzeichnet. Dies waren 307 Manipulationen mehr als zwei Jahre zuvor. Am häufigsten findet der Betrug in Mannschaftssportarten vor allem beim Fußball und Basketball aber auch beim Cricket statt. Besonders betroffen sind die Länder Brasilien, Russland, Tschechien und mehrere asiatische Staaten. Es kommt zunehmend auch zu Manipulationen von Wettkämpfen im Frauensport und selbst der E-Sport rückt mittlerweile immer häufiger in das Visier von Wettbetrügern.

11. Zunahme der Manipulation sportlicher Leistungen

Im Januar 2024 wurde von der WADA eine Studie mit dem Titel „Operation Refuge“ veröffentlicht, in der der Dopingmissbrauch von Jugendlichen untersucht wurde. Demnach waren in dem untersuchten Zeitraum 1500 Dopingfälle unter Minderjährigen zu beklagen und der Konsum illegaler Substanzen ist bei Nachwuchsathleten ganz offensichtlich weltweit sehr verbreitet. Damit wird ein Kapitel in der nicht enden wollenden Geschichte des internationalen Dopingbetruges im Hochleistungssport fortgeschrieben, in dem einmal mehr das Phänomen der pharmakologischen Manipulation sportlicher Leistungen beschrieben wird, das mittlerweile den gesamten Hochleistungssport in allen seinen Ausprägungen erfasst hat und leider auch schon längst den Behinderten- und Seniorensport ebenso wie den Freizeit- und Gesundheitssport erreichen konnte. Trotz aller Schutzmaßnahmen, die ohne Zweifel sinnvoll und auch wirkungsvoll sind, trotz aller Kontrollen und Sanktionsbemühungen, trotz aller Präventionsmaßnahmen hat sich die Gefahr des Doping- Betruges eher erhöht als vermindert, was angesichts der durch den Betrug in Aussicht gestellten Gewinnmaximierung und angesichts des relativ geringen Aufklärungsrisikos, das die Betrüger eingehen, zumindest für Experten kaum überraschend sein kann.

12. Entdemokratisierung und Entwicklung scheindemokratischer Strukturen

Die demokratische Qualität des Weltsports muss über die Fragen beantwortet werden wie sich die Gremien des Weltsports zusammensetzen, auf der Grundlage welcher Wahl- und Auswahlprozesse die Positionen in den Gremien besetzt werden, wie transparent und nachvollziehbar die Entscheidungsprozesse in diesen Gremien stattfinden und es muss vor allem die Frage gestellt werden, wie und durch welche Delegierungsformen die Athleten und Athletinnen an den Entscheidungen über die Entwicklung des Weltsports beteiligt sind. Stellt man diese Fragen, so wird nahezu in allen Gremien des Weltsports und dessen internationalen Sportfachverbände ein erhebliches Demokratiedefizit sichtbar. Dies lässt sich bereits in den nationalen Basisgremien der jeweiligen Sportarten, d.h. für Deutschland in den Vorständen und Mitgliederversammlungen von Turn- und Sportvereinen, in den Vorständen von Landesverbänden und der nationalen Spitzensportverbänden beobachten. Dabei muss begriffen werden, dass in der großen Mehrheit aller Nationen, die im System des Weltsports beteiligt sind, vergleichbare demokratische Basisstrukturen wie die der deutschen Turn- und Sportvereine erst gar nicht existieren und damit die für den Sport in westlichen Demokratien üblichen demokratischen Delegierungsprozesse für die Ausübung von Macht und Einfluss im System des Sports gar nicht vorhanden sind. Auch von einer wirksamen Athletenmitbestimmung kann deshalb aus einer globalen Perspektive ganz gewiss nicht gesprochen werden. Selbst das Auswahlverfahren zur Mitbestimmung durch Athleten in westlichen Demokratien kann dem Ideal der demokratischen Mitbestimmung nicht genügen.
Ganz gravierend sind die Defizite bei den Wahlen zu den Führungsgremien der internationalen Sportfachverbände und bei vielen Entscheidungen dieser Führungsgremien. Das IOC stellt in diesem Zusammenhang einen Sonderfall dar, doch ein Demokratiedefizit bei der Rekrutierung neuer Mitglieder für das IOC ist ebenfalls offensichtlich. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass das IOC anders als die internationalen Fachverbände auf der Grundlage einer entschiedenen Reformpolitik seit mehr als zehn Jahren bemüht ist, sich für eine transparente und nachhaltige Sportpolitik einzusetzen, sich vermehrt der Arbeit von Kontrollgremien zur Überwachung der eigenen Arbeit bedient und seine wirtschaftliche Bilanz bis in alle Details offenlegt.

13. Zunahme der Gefährdung der Gesundheit der teilnehmenden Athletinnen und Athleten

Als der wohl größte Sündenfall des Weltsports, der schon seit längerer Zeit und vor allem auch in diesen Tagen zu beklagen ist, muss der Umgang des Weltsports mit dessen wichtigster Ressource, der Gesundheit der Athletinnen und Athleten, benannt und hervorgehoben werden. Ganz gleich welche fragwürdigen politischen und ökonomischen Interessen in diesen Tagen an den Weltsport herangetragen werden, ihre Realisierung ist an die Erbringung von sportlichen Leistungen durch Athletinnen und Athleten auf höchstem Niveau bei nationalen und internationalen Wettkämpfen gebunden. Fast alle sportlichen Höchstleistungen weisen dabei ein Gesundheitsrisiko auf, das sowohl psychischer als auch physischer Natur ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieses Risiko für die Spitzenathletinnen und -athleten, die am Weltsport teilnehmen, in einer kaum noch verantwortbaren Weise erhöht. Die ständige Vermehrung der Anzahl der Wettkämpfe, die Verlängerung der Saison für die einzelnen Wettkämpfe, die Verlängerung der Dauer der Wettkämpfe, die Steigerung der Trainingsbelastungen in der Vorbereitung auf Wettkämpfe, die Reduzierung der Regenerationszeiten für die Athletinnen und Athleten haben die Gesundheitsrisiken für die wichtigsten Stakeholder des Weltsports in nahezu unermesslicher Weise anwachsen lassen. Ursächlich hierfür ist die Gewinnsucht aller Beteiligten, wobei trotz der immer wieder geforderten Athletenmündigkeit die Athletinnen und Athleten selbst ein hohes Maß an Mitschuld und Verantwortung für die aktuelle Situation haben. Die Hauptschuld ist jedoch den verantwortlichen Funktionären in den internationalen Sportorganisationen anzulasten, die sich allen medizinischen und pädagogischen Mahnungen widersetzen. Mit ihren Entscheidungen zu Gunsten eines grenzenlosen Wachstums der internationalen Sportveranstaltungen und zu Gunsten ihrer eigenen Geldgier gefährden sie die Gesundheit der Athletinnen und Athleten und nehmen damit die Gefährdung der für die Zukunft des modernen Sports wichtigsten Ressource „Athlet“ wissentlich und sehenden Auges in Kauf.

Abschließende Bemerkungen

Der Blick unter die Oberfläche der aktuellen Situation des Weltsports muss nicht nur Erschrecken, Empörung und teilweise auch Abscheu hervorrufen. Er sollte vor allem als ein Weckruf gegenüber all jenen verstanden werden, die heute noch über das notwendige Wissen über die positive Bedeutung dessen verfügen, was ein gesellschaftspolitisch verantwortungsvolles Teilsystem „Sport“ für die Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens haben kann und warum dies von den Gründungsvätern moderner Demokratien als förderungswürdig angesehen wurde. Dieser Weckruf muss mit der Einsicht einhergehen, dass ein Weltsport, in dem eine kritiklose kapitalistische Wachstumsideologie zum Tragen kommt, nicht gefördert, sondern bekämpft werden muss. Die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger – insbesondere als Konsumenten dieses Weltsports – ist dabei ebenso gefordert wie die Verantwortung der Regierungen, der Wirtschaft und der Massenmedien. Sie haben für eine nachhaltige Entwicklung der Erde und deren Lebenswürdigkeit – nicht nur mit Blick auf die Menschheit – zu sorgen.

Letzte Bearbeitung: 17.2.2024

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
² Das Akronym (ein aus Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter gebildetes Kurzwort) setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Mitgliedstaaten Brasilien, Russland,  Indien, China und Südafrika Zusammen.