Sportfans in Paris? Über Parteilichkeit im Sport

von Sven Güldenpfennig

Die gerade zuende gegangenen Olympischen Spiele von Paris 2024 haben wieder einmal die Frage nach dem Status von Parteilichkeit auf und neben dem Sportplatz aufgeworfen, obwohl sie dort buchstäblich niemals gestellt worden ist. Nach der Wahl des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger zum Oberhaupt der Katholischen Kirche namens Benedikt XVI. hielt die BILD-Zeitung es für eine verkaufssteigernde Idee, mit der Schlagzeile „Wir sind Papst“ herauszukommen. Diese Idee fand nach einem wiederholten Titelgewinn der deutschen Frauen-Fußball-Nationalmannschaft später ein sportliches Echo in Gestalt von „Deutschland ist Europameisterin“. Beide Anekdoten bringen zweierlei Erfahrungen zum Ausdruck:

Zum einen drücken sie eine allgemeine Neigung aus, die ohnehin schon spontan unter Menschen ungemein verbreitet ist sowie durch Eigeninteressen von Medien und Politik noch entschieden und notorisch verstärkt wird: Man fokussiert den Blick auf Bemerkenswertes selektiv und oft sogar exklusiv aus dem je eigenen persönlichen, sozialen, lokalen oder nationalen Umfeld, ungeachtet der Tatsache, dass häufig sogar weitaus Bedeutenderes sich in weiteren Umfeldern bis hin zur internationalen und globalen Ebene abspielt. Dazu passt das eine der beiden zitierten Beispiele: Ein deutscher Kardinal zwar wurde zum Papst gekürt. Aber war das ein hinreichender Grund, um nationales Pathos zu mobilisieren? Eher das Gegenteil war der Fall: Mit Ratzinger wurde erstmals nach Jahrhunderten wieder ein Deutscher auf Petri Stuhl erhoben nicht deshalb, weil er ein Deutscher war, sondern weil er sich mit einer besonders konservativen bisherigen Amtsführung dafür empfohlen hatte, womit er eher im Konflikt mit der deutschen Katholischen Kirche stand, die seit längerem vergeblich von Rom mehr Reformbereitschaft einfordert.

Zum anderen drücken sie –  das zeigt das zweite Beispiel mit direktem Sportbezug – die Neigung aus, bestimmte Sachverhalte für Zielsetzungen zu instrumentalisieren, die außerhalb ihres angestammten Sinnfeldes liegen. Sie verstehen die systemische Differenzierung und Arbeitsteilung in der Gesellschaft nicht und ignorieren deren Vorzüge, die sie für die freiheitliche und kulturell bereichernde Entfaltung der Menschen erbringen können. Konkret auf den Beispielfall Paris 2024 angewendet, heißen diese abstrakte Feststellungen:

Beim Sport – wohlverstanden, also ungeachtet aller spekulativen weiterreichenden Zuschreibungen, die permanent durch den öffentlichen Diskurs geistern – geht es um nicht mehr als genau das, was sich auf dem Platz abspielt. Von seiner Idee ausgehend kommt seine Leistung für die Gesellschaft „nur“ von dort her und verbleibt auch innerhalb dieses Sinnfeldes, ohne dass es durch diese Begrenzung seinen kulturell bestimmten gesellschaftlichen Wert einbüßen würde. Denn die dort agierenden Menschen erfüllen wie Akteure auf einer Theater- oder Musikbühne die von der Sportidee und den darauf gegründeten Regeln vorgegebenen Rollen, zwar in möglichst freier inspirierter und kreativer Auslegung, aber vor allem anderen gebunden durch jene sportspezifischen Vorgaben. Außersportliche Eigenschaften und Erwartungen jeglicher Art seitens der Akteure wie auch ihrer Veranstalter und Beobachter hingegen sollen im Interesse des Gelingens der sportspezifischen Botschaft der Sportereignisse so weit wie möglich außer Betracht bleiben. Ja sie müssen geradezu neutralisier und vorsätzlich ignoriert werden. Es soll keine Rolle spielen, wer sie sind, welcher sozialen oder nationalen Gruppe sie angehören, welche Hautfarbe sie tragen, welchen außersportlichen Ansichten und geschlechtlichen Orientierungen sie anhängen. Folglich konnten „wir“, also Deutschland und seine Bevölkerung, weder durch jenes Fußballturnier noch durch jene Konklavewahl „Europameisterin“ oder „Papst“ werden.

Das Fußball-WM-Turnier 2006, das sogenannte „Sommermärchen“, bot ein typisches Beispiel für ein Verfehlen dieser Kernbotschaft eines Sportereignisses: Alles spekulierte und freute sich durchaus zu Recht über die insgesamt sympathische Atmosphäre, die das Ausrichterland rund um das Turnier, und über das politisch entspannte Selbstbild, welches das Land von sich selbst geschaffen hatte. Aber selbst mit diesem allseits so demonstrativ herausgestellten Erfolg war das Kernanliegen als Sport-Ereignis verfehlt worden, bei dem die Qualität der sportlichen Performance (nicht einmal unbedingt der schließlich erreichte Erfolgsgrad der beteiligten Mannschaften) ausschlaggebend für eine aus Sportsicht angemessene Urteilsbildung hätte sein müssen.

Gleiches galt erneut für das ebenfalls von Deutschland ausgerichtete EM-Turnier der Männer im Jahr 2024: Auch hier wurde wieder viel geraunt über – aus der Perspektive der Sportidee gesehen – Epi- und Sekundärphänomene wie insbesondere die europa- und deutschlandweiten Bilder von höchst eindrucksvollen Volksaufläufen „ihre“ Mannschaften feiernder Fans und, ja!, sogar anrührenden Verbrüderungsszenen zwischen Fans unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeit außerhalb der Wettbewerbe. Das Turnier bot ein weiteres Beispiel für Irrtümer, denen die öffentliche Kommunikation über große Sportereignisse notorisch unterliegt. Sie entstehen aus jener Neigung zu außersportlichen Überdeterminierungen, mit denen man den auf seine kulturelle Botschaften begrenzten Sportsinn überzieht: Gern wird behauptet, solche Ereignisse bedeuteten „weit mehr als nur Sport“. Etwa das Fußball-WM-Turnier 1998 in Frankreich mit dem Titelgewinn von dessen multiethischem Team habe die sozialintegrative Leistung einer Vereinigung von „black, blanc et beur“ (also von schwarz, weiß und arabisch) erbracht. Schon kurz darauf jedoch hatte die gewaltsame Rebellion der „Vergessenen“ in den Banlieues von Paris die Realitätsfremdheit dieser Spekulation offengelegt.

Die vermeintliche außersportliche Macht des Fußballs ist kaum mehr als ein Phantom. Diese Denkfigur überinterpretiert und überlastet die Sinnstruktur des Sports, die gleichzeitig eine Voraussetzung für sportlichen Erfolg ist, nämlich ebenjene Ausblendung und Neutralisierung aller außersportlichen sozialen Unterscheidungen bei der Zusammensetzung eines Teams und bei der Austragung der Wettbewerbe. Die Überforderung entsteht durch die Annahme, dieses Prinzip übertrage sich wie von selbst auf das soziale Umfeld, in dem und vor dessen Auge sich das Sportereignis abspielt. Entsprechend waren erneut viele Interviews bei den Spielen von Paris 2024 bestimmt von der Hoffnung, die deutlich spürbare positive Energie bei diesem Sportereignis möge die französische Gesellschaft weiter in die Zukunft begleiten und tragen.

Selbstverständlich ist niemand frei von dem spontanen Reflex, bei Sportereignissen den Fokus seiner Beobachtung stärker auf die Performance und das Abschneiden der „eigenen“ Leute in der Arena zu richten, also bevorzugt ihnen und sich ein erfolgreiches Abschneiden zu wünschen. Das ist Folge sowohl eines natürlichen Gruppen-Reflexes als auch eines sozialen „Lern“-Prozesses durch langanhaltende und unausgesetzte Verstärkung des Reflexes durch alle Medien der öffentlichen Kommunikation bis hinunter auf die Kleingruppenebene der Familie. Anders ist es kaum erklärlich, dass zum Beispiel ein vielleicht 3- oder 4-jähriger Steppke auf den Schultern seines Vaters in einer TV-Einblendung bei der jüngsten Fußball-Europameisterschaft frenetisch die „eigene“ Mannschaft anfeuert, die er in dem Alter allein von sich aus noch gar nicht von anderen „Nationen“  unterscheiden würde.

Aber: Ein höchst engagierter parteilicher Einsatz für die eigene Seite ist strikt gefordert von allen Akteuren auf dem Platz, weil nur so das sinngerechte Gelingen des Sports ermöglicht wird. Er ist jedoch ebenso strikt begrenzt auf diese und nur diese Ebene. Denn das Hereintragen alltagsweltlicher Zugehörigkeits-Ansprüche von Beobachtern am Rande des Spiels bedeutet ein Durchbrechen der Grenze zwischen der Profanität des Alltags und der Aura des Sportereignisses als eines Festtags schöpferisch-ästhetischen Handelns. Es ist ein unzivilisierter Einbruch außersportlicher Interessen aus der rohen Alltagswelt in die außeralltägliche fiktive Spielwelt. Es ist der meist gedankenlose Versuch, einseitig Profit in Gestalt von Trophäen namens Titeln und Medaillen zu schlagen, welche allein die Sportlerinnen und Sportler für sich erringen und die zudem ja ohnehin nicht mehr als real „greifbare“ materielle Substrate für den ideellen Wert sportlichen Erfolgs sind.

Dieser Versuch enteignet gleichsam den Erfolg der eigenen Leute und zugleich darüber hinaus auch den Anteil, den die Gegenseite an dem „Sportwerk“ hat, das von allen direkt Beteiligten in Gestalt einer engagiert ausgetragenen „Kooperenz“ geschaffen wird, eines Zusammenspiels aus Konkurrenz und Kooperation. Ein solcher Blick auf den Sport nimmt in Kauf, dass die Feier des Gesamtkunstwerks namens sportlicher Wettkampf beschädigt oder ganz zerstört wird. Was die öffentliche Kommunikation hier feiert, ist vor allem anderen eine narzisstische Selbstfeier von Menschen, die ja gar nicht zum Kreis der Schöpfer des Sportwerkes zählen. Denn anstelle der Feier des Sports feiert ein sehr großer Teil dieser „Afinicionados“ nur ihre eigenen Leute, in denen man vermeintliche Vorkämpfer des eigenen Narzissmus imaginiert. Aufgrund dieser Parteinahme nur für die Parteien des Spiels teilt und verstärkt das Publikum sichtbar nur Freude und Trauer der Akteure über den Ausgang des Dramas, feiert aber nicht das dramatische Werk selbst, das diese im Gegeneinander gemeinsam aufgeführt haben.

Wohlbegründete Teilhabe an der Sportidee als Zuschauer bei deren praktischer Umsetzung hingegen ist gekennzeichnet von der Forderung nach einer Trennung: Man muss trennen können zwischen jener sozialpsychologisch induzierten Neigung zu einseitiger Parteinahme für die „Eigenen“ und der von den sinninternen Imperativen der Sportidee vorgegebenen Pflicht zur Neutralisierung jeglicher außersportlich motivierter Parteilichkeit. Diese Trennung gebietet die übergeordnete Hegemonie eines Respekts vor der Sportidee. Und die grundsätzliche Geltung dieser Forderung wird keineswegs dadurch aufgehoben, dass aufgrund  menschlicher Schwäche allzuoft die Anstrengung der Pflicht das Nachsehen hat gegenüber der Bequemlichkeit der Neigung. Deshalb sollte zumindest das Bemühen erkennbar sein, dauerhaft den Stachel wach und aktiv zu halten, der von jener Pflicht auf die notorische Schwachheit des tatsächlichen Handelns ausgeübt wird. Das ist im Umgang mit dem Sport grundsätzlich nicht anders als in jeder konkreten Handlungssituation, in der unmoralische, also mit den übergeordneten Ansprüchen der Allgemeinheit aller Menschen nicht vereinbare spontane Neigungen gemäß der kantschen Pflichtethik der Kontrolle, gegebenenfalls der Einschränkung durch vorrangige Normen und Regeln unterworfen und im Extremfall zum gänzlichen Verzicht führen müssen.

Nicht zuletzt könnte eine solche Einstellung eine ebenso erstaunliche wie erfreuliche Nebenwirkung haben: Der Blick auf die sportlichen Ereignisse würde umso reicher und erfüllter, je erfolgreicher man diesen Kampf austrägt und je offener man folglich dem Gesamtgeschehen gegenübertritt. Man würde sich dadurch zudem offenhalten für die Anerkennung von Leistungen auch derjenigen, die nicht zur „eigenen“ Seite gehören, statt sie, wie es inzwischen üblich geworden ist, Gegner allein deshalb mit einem Pfeifkonzert zu schmähen, weil sie der Gegner sind.

Ein wohlbegründetes Credo zur Parteilichkeit im Sport, zu dem man freilich spontan kaum mehr auf Verständnis oder gar Zustimmung stoßen dürfte, lässt sich so zusammenfassen:

Unter republikanisch und demokratisch Gesinnten besteht Konsens darüber, dass Menschen als soziale Wesen gegenüber den sozialen Gemeinschaften, in denen sie leben, auf Gemeinsinn ebenso verpflichtet wie angewiesen sind. Auf nationaler Ebene tritt dann oft der Begriff Patriotismus an dessen Stelle. Er erschöpft sich nicht in einem Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Mitgliedern der nationalstaatlichen Gemeinschaft, sondern stellt darüber hinaus insbesondere die folgenden Forderungen an sie: Gehorsam gegenüber den von ihnen indirekt selbst erlassenen Gesetzen sowie Bereitschaft zur Steuerzahlung und zur Mitwirkung bei der Verteidigung des Landes. Loyalität gegenüber Sportteams des eigenen Landes gehört nicht dazu. Das ist bislang weithin unverstanden geblieben, vielmehr, wie man bei jedem Sportereignis beobachten kann, erscheint sie den meisten Sportinteressierten offenbar als so etwas wie die erste Bürgerpflicht, was zusätzlich von den Medien lautstark und aufdringlich bestärkt wird.

Tatsächlich aber handelt es sich um eine Art von Kategorienfehler, eine Verwechslung zwischen politischer und kultureller Ebene. Denn die Loyalität in kulturellen Kontexten gilt dem kulturellen Geschehen, im Sport also der sportlichen Qualität der Wettbewerbe, nicht jedoch der nationalen Zugehörigkeit der Akteure, auf dem Konzert- und Ballettpodium wie in der Arena. Begründete Beurteilungskriterien entstammen hier ausschließlich der ästhetisch-schöpferischen Ebene. Gibt man diese Prioritätensetzung, diese vollständige kulturelle Immanenz der Urteilsbildung auf und verlagert sie nach außen in den politischen Raum, verfehlt man den „Witz“ des sportlich-kulturellen Geschehens. Deshalb ging bereits der Hinweis, etwa die Euphorie um die Fußball-WM 2006 oder um die angestrebte und erhoffte Wiederholung des „Sommermärchens“ anlässlich der EM 2024 sei doch als unschuldig-friedliche patriotische Feier zu begrüßen gewesen, am kulturellen Kern des Geschehens vorbei.

Man hatte sich gleichsam gegen den falschen Gegner behauptet. Dass dieser Gegenpart namens Nationalismus als schwere und inzwischen „aus der Zeit gefallene“ Belastung des friedlichen Zusammenlebens der Nationen allgemeinpolitisch strikt abzulehnen und so weit wie möglich in die Schranken zu weisen ist, darüber besteht unter aufgeklärten Zeitgenoss*innen inzwischen Konsens. Doch sich gegen ihn abzugrenzen, ist zwar notwendig, aber eben keineswegs hinreichend, um dem Sportsinn als Kulturgut gerecht zu werden.

Was also haben wir nun bei den vordergründig so gelungenen Olympischen Spielen von Paris erlebt? Erneut zeigte sich exemplarisch die beschriebene Schieflage der öffentlichen Kommunikation über Sport. Besonders drastisch war das in der befremdlichen, ja regelrecht einfältigen Praxis etwa der TV-Anstalten, das Publikum unentwegt darauf einzustimmen, ja zu fixieren, welche „eigenen“ nationalen Athlet*innen im nächsten Wettbewerb die Chance haben werden, Medaillen „zu holen“ – und sie anschließend nach dem oft bereits vorab absehbaren Scheitern dabei zur Stellungnahme über die Gründe dafür zu nötigen. Kaum jemand schien auf den einfachen und naheliegenden Gedanken zu kommen, neutral und ohne nationale Brille das tatsächliche dramatische Geschehen auf dem Platz dem Publikum nahezubringen und dabei alle beteiligten Protagonisten gemäß ihres Beitrages zur Schaffung des Sportwerkes zu würdigen, wie es vergleichbar auch bei einer Theater-, Ausstellungs- oder Konzertrezension der Fall wäre.

Mit dieser Fixierung und Verengung wird der Blick von der Faszination des Geschehens selbst ab- und nur auf das hypothetische und ersehnte Ende, die „eigene“ Medaille, hingelenkt. Auch die Athlet*innen selbst haben sich inzwischen mit in die Nationalfahne gehüllter Ehrenrunde und Interviewäußerungen voll in diese Spur ziehen lassen. Davon abgesehen jedoch sind sie die Einzigen innerhalb des Gesamtereignisses, die zu strikter Parteilichkeit für ihr eigenes Team tatsächlich nicht nur legitimiert, sondern sogar verpflichtet sind. Denn dies ist ihr unverzichtbarer Tribut an das Gelingen des sportlichen Wettbewerbs und damit den kulturellen Eigensinn der Sportidee, die andernfalls ja gar nicht zustandekäme. Ein Tribut an die eigene nationale Gemeinschaft hingegen ist es, zumindest von der Logik der Sportidee her, nicht.

Allein eine innersportliche Begründung ist somit bereits hinreichend, um endlich den scheinbar aussichtslosen Kampf darum aufzunehmen, dem allgegenwärtigen Hype um jeweils „unsere“ Erfolge einen Platzverweis zu erteilen. Man muss hierzu gar nicht in die allgemeinpolitische Arena gehen, die große Keule hervorholen und in alarmistischer Attitüde den Kampf gegen die Gefahren des Nationalismus oder gar Chauvinismus – der natürlich sowieso geboten ist! – beschwören, um ihn auch in der Sportarena auszutragen.

Wie weit die Realität des Sports von dieser kultureigenen Logik entfernt ist, zeigte erneut die spontan herzerwärmende Feier des Sports, die sich prima vista bei den Spielen von Paris 2024 scheinbar ereignete. Bei genauerem Hin-Sehen und insbesondere Hin-Hören zeigte sich folgendes: Aus dem allgemein freundlichen Beifall bei der Begrüßung aller Akteure stach jeweils in exzessiver Weise der aufbrandende Jubelsturm im Publikum heraus, sobald ein französisches Trikot gesichtet wurde. Und die Stimme des deutschen Reitsport-Reporters Carsten Sostmeier überschlug sich, als er wegen natürlich „historischer“ deutscher Reit-Olympiasiege im Schlosspark von Versailles schier ausflippte und Michael Jung zum „Sonnenkönig der Vielseitigkeitsreiter“ ausrief. Aufmerksames Hinhören also erwies: Das sich von außen stellende Bild eines Publikums, welches das Geschehen begeistert feierte und dafür von externen Kommentatoren seinerseits gefeiert wurde, täuschte eine Gemeinsamkeit vor, die in Wirklichkeit so kaum gegeben war. Tatsächlich war es der Zusammenklang mehrerer separater Publika, die oft von weit her angereist waren, bestens mit Versatzstücken nationaler Emblematik ausgerüstet, um jeweils „ihre eigenen“ Emissäre in der Arena anzufeuern. Was man erlebte, war also, dass sich die Feier eher an zwei unterschiedlichen Grenzlinien abspielte:

Selbst im positiveren (und hier mehrheitlichen) Fall geschah dies allenfalls an der Grenzlinie zwischen Feier des Sports und Feier des je eigenen Narzissmus. Im negativeren (hier zum Glück seltenen) Fall jedoch verlief die Grenzlinie zwischen Feier des je eigenenzissmus und Feier nationalistischer Hybris. Natürlich gab es auch – freilich musste man sehr genau hinschauen, um sie in dem ganzen vielfach symbolisch überformten Getümmel zu entdecken – die reine Feier des Sports ohne alle außersportlichen Nebengesten. Sie beschränkten sich zwar nahezu ausschließlich auf den Verkehr zwischen den Athlet*innen. Doch das war ja keineswegs eine schlechte Nachricht. Denn sie bilden schließlich stets den Mittelpunkt des gesamten Ereignisses. Aber in manchen Sportarten besteht sogar darüber hinaus auch das Publikum diese Prüfung auf eine rein sport-bezogene Feierkultur.

Doch insgesamt dominierte auch wieder bei den Spielen von Paris der Eindruck, wie fast besinnungslos alle Welt sich mehr an den nationalen Attributen des Erfolgs statt an den oft herausragenden sportlichen Spitzenleistungen und faszinierenden Wettbewerbsverläufen selbst berauschte. Und man bemerkte ganz offenkundig gar nicht, wie weit man sich damit von dem Eigensinn der Sportidee, von der Olympischen Idee und zugleich von den Verwandtent in den anderen performativen Künsten entfernte, in denen stets die Feier der Kunst im Mittelpunkt steht und nicht die nationale Herkunft ihrer Schöpfer*innen. Und es war ein Armutszeugnis, dass die sich sonst so kritisch gebenden Medien diesen Trend erneut fröhlich mitmachten, ja nach Kräften noch weiter anheizten, statt ihn „gegen den Strich“ zu lesen und zu kommentieren, und dass sie ihr aufklärerisches Pulver stattdessen weiterhin im donquijotischen Kampf gegen die Windmühlenflügel namens IOC und sein vermeintliches allgemeinpolitisches Versagen verschossen.

Eine Szene bei den Spielen von Paris warf ein kurzes Spotlight auf die Widersinnigkeit solcher eindeutig einseitigen nationalen Parteinahme: Als sich beim Wettbewerb der Freiwasser-Schwimmerinnen über 10 km in der Seine (es ging tatsächlich!) am 8. August der Sieg der Niederländerin Sharon van Rouwendaal vor der Australierin Moesha Johnson abzeichnete, meinte ARD-Reporter Tom Bartels unvermittelt, die Leute fragten ihn, wie es möglich sei, dass solche ausländischen Topleute in der Trainingsgruppe von Bernd Berkhahn in Magdeburg schnell gemacht würden und nun den ebenfalls dort trainierenden deutschen Spitzenleuten, zu denen auch die hier mitschwimmende Leonie Beck sowie Weltmeister und Olympiasieger Florian Wellbrock gehören, „die Medaillen wegschnappen“ können? Nun. Der Ausbildungsbetrieb hat wie auch in den anderen performativen Künsten im internationalen Spitzenbereich des Sports – siehe in diesem Fall Magdeburg und noch ausgeprägter im US-amerikanischen Collegewesen – nationale Zuordnungen längst hinter sich gelassen und ist damit weitaus näher am Eigensinn der Sportidee als die borniert exklusive Vereinnahmung solcher Ausbildungs-Ergebnisse durch die Fixierung von Politik, Medien und Publikum auf je nur „unsere“ Topleute.

Daedalos Berkhahn in Magdeburg bietet dadurch, dass er Spitzentalente ohne Ansehen von ihrer nationalen Herkunft in die Weltspitze führt, ein demonstratives Beispiel dafür, wie gleichsam die ikaroshaften Höhenflüge soziopolitischer Überdetermination des Sports auf den kulturellen Boden und somit auf jene Ebene zurückgeholt werden können, auf welche der Sport von seinem Eigensinn her gehört. Dieser Trainer schafft Voraussetzungen dafür, dass Athlet*innen Sportwerke auf höchstem Niveau schaffen können. Und das vor allem anderen ist das, worauf es in jedem Bereich der Hochkultur ankommt, zu der auch der Spitzensport gehört, ungeachtet seiner Inszenierungsformen, die nicht selten das Gegenteil vermuten lassen, weil ihre Impresarios und Fans diesen Kontext aus den Augen verloren haben.

Eine angemessene Auseinandersetzung um diese Fragen hat bislang noch nicht einmal ansatzweise begonnen. Jedenfalls müsste eine Rückbesinnung darauf einsetzen, dass „wir“, nämlich wir jeweils nationales Publikum einschließlich der Medien – eine Feststellung, die so trivial wie notwendig ist angesichts eines unzivilisierten Sprachgebrauchs, der längst eingerissen ist – von der Tribüne aus überhaupt nichts gewinnen, schon gar keine Medaillen. Der Kampf darum ist ausschließlich Sache der Aktiven selbst und ihres Betreuungspersonals, die durch jenes anmaßende „Wir“ gleichsam enteignet und um das Verdienst ihrer sportlichen Leistung geprellt werden. Außerdem werden die grandiosen Sportwerke selbst, die durch sie geschaffen werden, trivialisiert und herabgewürdigt zu bloßen Lieferdiensten für „unsere“ Medaillen. Diese kulturelle Entgleisung ist aus Sportsicht sogar das größere Sakrileg als ein mögliches politisches Abgleiten in trübe nationalistische Gewässer.

Zusätzlich wird schließlich das ganze olympische Geschehen begleitet von einer unerträglich vulgären medialen Sprache, in der unentwegt irgendjemand „Edelmetall holt“ oder Deutsche „abräumen“, wenn auch sie mal einen medaillenträchtigen Tag erwischt haben. Und dieser Jemand oder diese Deutschen sind wenn irgend möglich immer „das große Wir“. Dieser Spruch ist zwar einmal das wohlmeinend inklusive Mantra einer sozialdemokratischen allgemeinpolitischen Wahlwerbung, aber nicht dazu gedacht gewesen, die kulturellen Botschaften großer Sportereignisse zu verhunzen.