Der „Zeitgeist“, die Welt und der Sport

Das deutsche Wort „Zeitgeist“ ist über das Englische in viele Sprachen dieser Welt übernommen worden. Beim Phänomen des „Zeitgeists“ scheint es sich offensichtlich um etwas typisch „Deutsches“ zu handeln. Herder sah im Zeitgeist etwas Einschränkendes. Er war für ihn ein Verzicht auf die Freiheit des Denkens. Non-konformes Denken wird dabei ausgegrenzt. Er enthält Annahmen, Verhaltenserwartungen, Moralvorstellungen, Tabus und Glaubenssätze, die sich regulierend auf das Verhalten des Individuums auswirken. Auch Goethe zeigte uns seine Skepsis gegenüber dem „Zeitgeist“, wenn er im „Faust“ schreibt: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“. Im Philosophischen Wörterbuch wird Goethe mit folgendem Zitat ausgewiesen: „Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem gerade triumphiert, dass die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muss, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt“. Zu den wohl radikalsten Beurteilungen des Zeitgeistes gehört die Aussage von Hans Magnus Enzensbergers: „Etwas Bornierteres als den Zeitgeist gibt es nicht. Wer nur die Gegenwart kennt, muss verblöden“.
Der „Zeitgeist“ einer Gesellschaft spiegelt sich in erster Linie in der öffentlichen Meinung der großen Mehrheit wider, die vor allem vom Bildungssystem, von den Massenmedien und in jüngerer Zeit ganz intensiv von den sozialen Medien geprägt wird.
Der schon seit einigen Jahren in dem System des Sports zu beobachtende „Zeitgeist“ betrifft vor allem das Verständnis von dem, was man von einer „Welt des Sports“ zu verstehen hat und wer zu dieser Welt gehört bzw. ausgeschlossen sein sollte.

„Olympische Winterspiele in Peking sind eine Zumutung“. „Die Spiele sollten durch die Bundesregierung diplomatisch boykottiert werden“. „Die Winterspiele in Sotschi hätten niemals stattfinden dürfen“. „In Ländern, in denen gegen die Menschenrechte verstoßen wird, dürfen keine Olympischen Spiele stattfinden“. „Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar sollte boykottiert werden“. „In bestimmten Klimazonen sollten keine Olympischen Spiele oder Weltmeisterschaften stattfinden“.

Der derzeit bestimmende „sportliche Zeitgeist“ spiegelt sich in derartigen Zitaten wider. Die dabei zum Ausdruck gebrachte „öffentliche Meinung“ kann nahezu täglich in Nachrichtensendungen, Talkshows und Sportreportagen des Fernsehens, in Features, Kommentaren und Interviews in der Presse und in den sozialen Medien beobachtet werden. Sie wird aber auch von Politikern¹ sämtlicher Parteien des Bundestages vertreten und jüngste Äußerungen der Außenministerin der Bundesrepublik lassen ahnen, dass sie möglicherweise zukünftig auch unsere Beziehungen zu jenen Ländern prägen werden, die im derzeit herrschenden „sportlichen Zeitgeist“ an den Pranger gestellt werden. Dieser „sportliche Zeitgeist“ richtet sich vorrangig gegen Russland, China und Katar, wobei Katar stellvertretend für Zentralarabien und die ganze arabische Welt steht. Der „sportliche Zeitgeist“ richtet sich auch gegen den Islam und im weitesten Sinne gegen all jene Länder, in denen der Islam Staatsreligion ist. Folgt man dem sportlichen Zeitgeist, so hätten in all diesen Ländern niemals Olympische Spiele und Fussball-Weltmeisterschaften stattfinden dürfen und sie sollten auch in der Zukunft dort nicht stattfinden können. Auffällig ist dabei, dass sich der Zeitgeist immer nur aus Anlass der allergrößten sportlichen Weltereignisse artikuliert. Die unzähligen Weltmeisterschaften und Weltcups, die in den vergangenen Jahrzehnten in diesen Ländern bereits stattgefunden haben, wurden hingegen von diesem angeblich so kritischen Zeitgeist nahezu gänzlich ausgeklammert.
Würde es nach den derzeit herrschenden „sportlichen Zeitgeist“ Deutschlands gehen, so könnten mit Blick auf den Globus sportliche Großereignisse nur noch auf weniger als einer Hälfte der Fläche ausgerichtet werden, die uns für die Ausübung des Sports zur Verfügung steht. Mit etwa 17 Millionen Quadratkilometern ist Russland flächenmäßig der größte Staat der Welt und umfasst etwa ein Neuntel der Landmasse der Erde. China ist das drittgrößte Land der Erde mit 9,5 Quadratkilometern. Die arabische Welt mit jenen Nationen, in denen mehr als 95 % der Bevölkerung Arabisch spricht, umfasst eine Fläche von mehr als 14 Millionen km².

Betrachten wir unter geopolitischen Gesichtspunkten jene Länder, die nach Auffassung des deutschen „sportlichen Zeitgeists“ aus dem Weltsport ausgeschlossen sein sollten, so wären davon 1,45 Milliarden Menschen aus China betroffen. Russland weist derzeit 146 Millionen Einwohner auf und in den arabisch sprechende Nationen leben mehr als 280 Millionen Menschen. Durch das Verdikt des deutschen „Sportzeitgeistes“ würden somit bei einer Weltbevölkerung von 7,9 Milliarden Menschen rund ein Viertel der Menschheit vom Weltsport ausgeschlossen.

Nimmt man das Klima als ein entscheidendes Kriterium zur Beantwortung der Frage, wo internationale sportliche Großereignisse ausgetragen werden sollen, so würde ebenfalls mehr  als die Hälfte der Nationen der Erde für die Ausrichtung zukünftiger Olympischer Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften als ungeeignet zu erklären sein. Ein gemäßigtes, von vier Jahreszeiten geprägtes Klima, gibt es nur auf der nördlichen Hälfte unserer Erdkugel.

Der derzeit herrschende deutsche „Sportzeitgeist“ ist ganz offensichtlich euro-amerikanisch zentriert. In ihm wird davon ausgegangen, dass von den Europäern und allen voran von den Deutschen und von den US-Amerikanern zu definieren ist, was in unserer heutigen Zeit als die „Welt des Sports“ gelten darf. Olympische Winterspiele sollten demnach nur noch im traditionellen europäischen und amerikanischen Wintersportorten stattfinden. Fußball- Weltmeisterschaften eignen sich allenfalls noch für Südamerika und Japan, ansonsten sind sie auf den nordamerikanischen und nordeuropäischen Kontinent zu beschränken. Man könnte diese Auffassung durchaus als eine neue Spielart des „Neo-Kolonialismus“ bezeichnen. Den Begriff der „Welt“ möchte man dabei für sich exklusiv verwenden. Man spricht von „Weltmeisterschaften“, auch wenn fast ausschließlich nur europäische Nationalmannschaften am Start sind. Gleiches gilt für die Verwendung des Begriffs „Weltcup“. Betrachten wir den derzeitigen Stand des Weltcups im Biathlon, so sind in der Nationenwertung der Männer unter den registrierten 35 Nationen mit Japan und USA lediglich zwei nicht-europäische Nationen vertreten. Im Welt-Cup des alpinen Skirennsports werden derzeit 30 Athleten aufgelistet. Sie stammen mit Ausnahme von drei Athleten alle aus europäischen Wintersportnationen. Bei den drei Ausnahmen handelt es sich um zwei US -Amerikaner und einen Kanadier. Ähnliche Verhältnisse lassen sich beim Bobsport, beim Skeleton und beim Rodeln antreffen. Für die europäische Dominanz in den Wintersportarten gibt es viele Gründe. Das Klima und die Geographie sind dabei an vorderster Stelle zu nennen. Doch darf man sich meines Erachtens zu Recht fragen, ob es nicht aus der Sicht eines Athleten einer Wintersportart nicht wünschenswert wäre, dass er sich mit dem Können in seiner Sportart überall in der Welt präsentieren kann und er eigentlich dankbar sein müsste, wenn es Bemühungen gibt, geeignete Sportstätten auf jenen Kontinenten bereitzustellen, die bislang von der eigenen Wintersportart noch nicht erreicht wurden.

Die europäische Dominanz zeigt sich nicht nur in den Wintersportarten. Es gibt auch viele Weltmeisterschaften und Weltcups in Sommersportarten, bei denen zumindest die Finalkämpfe in der Regel nur von europäischen und amerikanischen Athleten dominiert werden. Auch in diesen Sportarten kann man zurecht die Frage stellen, ob man von „Weltmeisterschaften“ oder „Weltcups“ reden darf, wenn nahezu ausschließlich nordamerikanische und europäische Nationen teilnehmen.

Die Borniertheit und geistige Bescheidenheit des derzeitigen „sportlichen Zeitgeists“ zeigt sich uns jedoch vor allem, wenn wir einmal etwas genauer jene Argumente überprüfen, die von den Repräsentanten dieses Zeitgeistes gegen die vom Ausschluss bedrohten Nationen vorgebracht werden.

Olympische Winterspiele 2022 in Peking?

Gegen Peking als Austragungsort von Winterspielen wird vor allem das Argument vorgetragen, dass in China wie in kaum einem anderen Land der Welt Menschenrechte verletzt werden. Deshalb sollen Winterspiele in diesem Land boykottiert werden. Die gegen China gerichteten Vorwürfe werden von China selbst entschieden zurückgewiesen. Eine Verurteilung Chinas vor einem unabhängigen Internationalen Gerichtshof wegen seiner Menschenrechtsverletzungen hat es bis heute nicht gegeben. Gemäß der allgemeinen Erklärung der UNO zu den Menschenrechten, die im Jahr 1948 verabschiedet wurde und gemäß der Liste der Menschenrechte, die in der Menschenrechtskonvention ausgewiesen sind, finden in China ohne Zweifel umfassende, staatlich gesteuerte Menschenrechtsverletzungen statt: Das Folterverbot wird nicht beachtet und die Todesstrafe wird noch immer vollstreckt. Die Rechte von Arbeitern werden eingeschränkt und der Schutz der Privatsphäre ist nicht gesichert. Verstöße gegen die Presse – und Versammlungsfreiheit sind gerade in jüngster Zeit immer häufiger zu beobachten. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und die Religionsfreiheit bedroht.

Derartige Menschenrechtsverletzungen sind allerdings in vielen Ländern dieser Welt zu beklagen und folgt man den Beobachtungen von „Human Rights Watch“ und „Amnesty International“, so sind auch westliche Demokratien auf jener Liste von Ländern aufgeführt, in denen gegen Menschenrechte verstoßen wird. Würde man zukünftig Olympische Spiele und sonstige sportliche Großereignisse nur noch in solchen Ländern ausrichten, in denen es nachweislich keine Menschenrechtsverletzungen gibt, so wäre dies ein hoffnungsloses Unterfangen und würde das Ende des internationalen Sports bedeuten. Die Kritik an der Vergabe der Winterspiele 2022 an Peking durch das IOC entbehrt deshalb jeglicher realistischer Grundlage.
Sehr viel berechtigter könnte hingegen die Überlegung sein, dass noch sehr viel häufiger internationale Sportereignisse gerade auch an jene Staaten vergeben werden sollten, in denen Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind. Jede internationale Sportveranstaltung, die über mehrere Wochen in einer Diktatur oder in einem autoritären Gesellschaftssystem stattfindet, bedeutet eine kurzfristige Öffnung einer ansonsten eher geschlossenen Gesellschaft. Sie ermöglicht das friedliche Zusammentreffen von Athletinnen und Athleten aus aller Welt und kann durchaus auch die Möglichkeit eröffnen, sich mit den Menschenrechtsverletzungen direkt vor Ort auseinander zu setzen.  Zumindest kurzfristig kann dabei der Sport ein Beispiel für eine bessere, für eine humanere Welt geben. Der Sport wird dabei ganz gewiss keine Lösung für die gravierenden politischen Probleme bieten, die in den jeweiligen Ländern der sportlichen Großveranstaltungen zu beklagen sind. Hier sind in erster Linie die Regierungen der westlichen Demokratien gefordert. Ein Boykott sportlicher Großveranstaltungen ist dabei aber ganz gewiss keine politische Lösung.

Das zweite Argument, das der „sportliche Zeitgeist“ gegen die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking nahezu gebetsmühlenhaft vorträgt, zielt auf  den Winter, den Schnee, die Berge und die Tradition des Schneesports, die es in China angeblich nicht gibt, und deshalb die Spiele „künstliche Spiele“ sein werden.
Von einer Tradition der Olympischen Wintersportarten kann in China ganz gewiss nicht gesprochen werden, wie überhaupt in China die meisten olympischen Sportarten nur eine kurze Tradition aufweisen und für große Teile der chinesischen Bevölkerung ist der moderne Sport nach wie vor etwas Fremdes. Mit der Rückkehr Chinas in die „olympische Familie“ im Jahr 1980 hat sich jedoch in den vergangenen 40 Jahren entscheidendes verändert und mittlerweile ist China neben den USA eine der beiden erfolgreichsten Sportnationen. Der Entwicklung des Schulsports wird größte Aufmerksamkeit geschenkt und die Strukturen des chinesischen Gesundheitssports sind mittlerweile äußerst effizient. Die Laufbewegung Chinas kann bei über 100 Marathonläufen im Jahr bestaunt werden. Schon seit längerer Zeit wird auch die Entwicklung des Wintersports von der Generalverwaltung für Sport als eine gesellschaftspolitische Aufgabe von hoher Relevanz bewertet.
An Gebirgen mangelt es in China keineswegs wie mancher Repräsentant des „sportlichen Zeitgeists“ vermutet. 33 % der Gesamtfläche Chinas wird von Gebirgsregionen eingenommen. Das Himalaya-Gebirge, das Tian Shan-Gebirge und das Altai-Gebirge können stellvertretend für eine ganze Reihe von Einzelgebirgen benannt werden, in denen der Wintersport Chinas eine Zukunft haben wird. Bereits im Jahr 2016 gab es in China 650 Ski Resorts und die Besucherzahlen in den Skigebieten haben sich zwischen den Jahren 2009 und 2016 von 5,5 auf 15,1 Millionen nahezu fast verdreifacht. Durch neue Wintersportprojekte sollen strukturschwache Regionen aufgewertet werden. Chinas Strukturpolitik verfolgt dabei nahezu die gleichen Ziele wie sie vor Jahrzehnten in den deutschen, österreichischen, italienischen oder französischen Alpen verfolgt wurden. Die Austragungsorte der alpinen und nordischen Wettbewerbe bei den Winterspielen 2022 Yanquin und Zhangjiakou sind dabei eine Modellmaßnahme, an der sich der Ausbau von 800 weiteren Skigebieten orientieren soll. Bereits 2016 setzte sich die chinesische Regierung zum Ziel, bis zum Jahr 2022 über mehr als 300 Millionen Wintersportler zu verfügen. Die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele in Peking 2022 dienen in erster Linie als Vehikel zur Popularisierung des Wintersports für die noch immer wachsenden Mittelschichten Chinas. Damit verbunden ist auch ein neuer attraktiver Markt für Wintersportinfrastrukturen, Ausrüstung und Kleidung entstanden, von dem nicht zuletzt auch deutsche Unternehmen profitieren.
Die Kritik, dass bei den Spielen in Peking die alpinen und nordischen Wettkämpfe fast ausschließlich auf Kunstschnee stattfinden, ist vor dem Hintergrund berechtigt, dass man sich für Winterspiele eine Schneelandschaft wünscht wie sie uns zuletzt mit den Winterspielen von Lillehammer geschenkt wurde und uns alle begeistert hat. In Zeiten eines weltweiten Klimawandels ist solch eine Nostalgie jedoch kaum noch angebracht. Auch in den europäischen Alpen kann der Wintersport nur noch ganz selten ohne das Hilfsmittel des Kunstschnees stattfinden und sprechen wir über die Zukunft der Winterspiele, so ist davon auszugehen, dass er nur noch in Verbindung mit Kunstschnee-Sportanlagen eine Zukunft haben kann.

Olympische Winterspiele 2014 in Sotschi?

Die gegen die Winterspiele Peking 2022 vorgetragene „sportliche Zeitgeistmeinung“ ist nahezu identisch mit jener, die gegen die Olympischen Winterspiele 2014 gerichtet war und ist, die in der russischen Stadt Sotschi stattgefunden haben. Aus Athletensicht waren diese Spiele durchaus erfolgreiche Spiele und die Wettkampfbedingungen und die Wettkampfstätten wurden mehrheitlich von allen Beteiligten gelobt. Aus der Sicht des „sportlichen Zeitgeistes“ ist es dennoch nach wie vor ein Fehler gewesen, dass man an Russland Winterspiele vergeben hat und sie an einem Ort ausgerichtet wurden, der angeblich für ein solches Sportereignis nicht geeignet ist. Es wird wohl akzeptiert, dass schon seit längerer Zeit in vielen Olympischen Wintersportdisziplinen russische Athletinnen und Athleten herausragende Erfolge aufzuweisen haben, dem Wunsch dieser Athleten auch einmal im eigenen Lande Olympischen Winterspiele erleben zu können, wird jedoch nicht entsprochen.

Für ein Land wie Russland ist es unter strukturpolitischen Gesichtspunkten mehr als nahe liegend, dass man sich wie viele europäische Länder ein eigenes Wintersportgebiet wünscht, in dem internationale Wintersportveranstaltungen stattfinden können. Im Kaukasus hat die russische Regierung die geeigneten Möglichkeiten gefunden, um eine bereits bestehende Sommer-Ferienregion mit einer Winter-Ferienregion zu verbinden. Hierzu wurde die Verkehrsinfrastruktur erneuert und ausgebaut. In Sotschi entstand der „Olympiapark Sotschi“ und rund um das Gebirgsdorf Krasnaja Polina entstand eine „Schneeregion“. Die Skipisten liegen an den steilen Hängen der Aigba-Bergkette und wurden vom ehemaligen Schweizer Skirennläufer Bernhard Russi konzipiert.
Gewiss liegen auf den Olympischen Winterspielen von Sotschi im Jahr 2014 ein unauslöschbarer Makel, den die politische Führung Russlands zu verantworten hat. Die Olympischen Wettbewerbe in Sotschi wurden in einem noch nie dagewesenen Ausmaß vom Dopingbetrug durch die russischen Athletinnen und Athleten geprägt. Die russische Anti-Dopingagentur RUSADA entpuppte sich als staatlich gesteuerte Doping-Manipulationsinstanz.
Die zukünftige Ausrichtung von Olympischen Spielen in einem autoritären Staat wie Russland kann durch diesen Makel allerdings nicht infrage gestellt werden. Mit der Aufdeckung des Betrugs wurden vielmehr die ungeheuerlichen Korruptionsstrukturen Russlands offengelegt.  In indirekter und teilweise auch in sehr direkter Weise wurden dadurch auch die nach wie vor umfassenden Menschenrechtsverletzungen Russlands an den Pranger gestellt. Finden sportliche Großereignisse in autoritären Staaten statt, so kann Ihre aufklärende Wirkung durchaus beträchtlich sein.

Fussball-Weltmeisterschaften 2022 in Katar?

Einige Kritikmuster des deutschen „sportlichen Zeitgeists“ finden sich auch in Bezug auf Katar, wo in diesem Jahr die Fußball- Weltmeisterschaften rund um Doha stattfinden werden. Würde es nach dem „sportlichen Zeitgeist“ gehen, so müsste jedoch genau dies auch heute noch verhindert werden. Katar, mit seinen 2,7 Millionen Einwohnern, wovon lediglich 12% Katarer sind, ist nur doppelt so groß wie das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Nach Auffassung des „sportlichen Zeitgeistes“ ist Katar ein Unrechtsstaat, es mangelt ihm an Fläche und vor allem ist es dort für eine Fußball – Weltmeisterschaft viel zu heiß.
Auch für Katar muss konstatiert werden, dass in diesem Staat seit Jahrzehnten Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind. Unmenschliche Bedingungen für Hausangestellte und für ausländische Arbeiter sind dabei an erster Stelle zu benennen. Ein Grund hierfür liegt im so genannten „Kafala -System“, das ausländische Arbeiter fest an einheimische Bürger bindet. Jeder Arbeitswechsel bedarf dabei der Zustimmung eines einheimischen Bürgens. Auch das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in Katar eingeschränkt. Frauen werden nach wie vor benachteiligt und Homosexualität ist in Katar verboten. Es gibt noch immer erniedrigende, grausame und unmenschliche Strafen. Die Todesstrafe wird in Katar ebenfalls noch immer vollstreckt.

Die Kritik, dass Katar ein zu kleines Land für die Ausrichtung einer Fußball-Weltmeisterschaft sei, kann nachvollzogen werden. Es werden für die WM wohl die modernsten Fußballstadien zur Verfügung stehen, die derzeit auf dieser Erde existieren, doch mit der Bevölkerung Katars sind diese Stadien nicht einmal annähernd zu füllen. Deshalb ist Katar vorrangig auf ausländische Besucher angewiesen, die jedoch in einem Pandemiejahr 2022 nicht jene Größenordnung erreichen werden, die der Veranstalter und die FIFA erwarten.

Wer in den letzten Jahrzehnten Katar regelmäßig besuchen konnte und sich für die Entwicklung dieses Landes interessierte, der konnte beobachten, dass sich gerade unter dem Aspekt der Menschenrechte die Verhältnisse in Katar ganz durchaus verbessert haben und die internationalen Sportveranstaltungen, die in den vergangenen 20 Jahren in diesem Land ausgetragen wurden, dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. Dies gilt vor allem für die Rechte der Frauen. Aber auch die Arbeitsbedingungen für die Arbeitsmigrantinnen und Migranten haben sich vor allem im letzten Jahrzehnt verbessert. 2015 führte das Land ein Lohnschutzsystem ein, mit dem unregelmäßige Gehaltszahlungen verhindert werden. 2020 wurde ein Mindestlohn beschlossen und der Arbeitgeber wurde verpflichtet Nahrung und Unterkunft für Arbeitsmigranten bereit zu stellen. Ferner hat die Regierung das NOC (No Objection Certificate) gestrichen. Dies war ein Zertifikat, das den Gastarbeiter von seinem Arbeitgeber abhängig gemacht hat. Damit wurde das traditionelle Kafal-System zumindest unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten außer Kraft gesetzt. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass viele deutsche Baufirmen mit WM-Aufträgen ihren Teil zu der Ausbeutung der Arbeitsmigranten beitrugen, wie überhaupt die deutsche Bauindustrie durch den Bauboom der vergangenen Jahrzehnte in der arabischen Welt außergewöhnlich hohe Profite machen konnte und sich dabei an der arbeitsrechtlichen Unrechtssituation in der arabischen Welt mitschuldig gemacht hat.

Ohne die Vergabe der Fußball – Weltmeisterschaft durch die FIFA an das ohne Zweifel höchst problematische Emirat Katar hätte es vermutlich die Verbesserung in Bezug auf die Arbeitswelt der Migranten nicht gegeben. Die vielen internationalen Sportveranstaltungen, die mittlerweile in Katar stattgefunden haben, führten ohne Zweifel zu einer Öffnung des autoritären Staates Katar. Im Sport selbst kann dies an einer vermehrten Beteiligung der Frauen in verschiedenen Sportarten beobachtet werden. Die Anwesenheit weiblicher Zuschauer bei Sportveranstaltungen ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden. Eine vermehrte Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben Katars ist offensichtlich. Positiv betroffen ist dabei vor allem der Bildungssektor. Im November vergangenen Jahres fanden zum ersten Mal auch Wahlen zur „Shura“, dem Parlament Katars statt, bei dem auch 26 Frauen für die zu vergebenden 30 Sitze kandidiert hatten. Allerdings wurde keine der Kandidatinnen gewählt.

Angesichts all dieser Veränderungen wird auch von „Amnesty International“ ein Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft als ein wenig hilfreiches Instrument bewertet. Vielmehr begrüßt „Amnesty“ die Fortschritte und vertritt die Auffassung, dass mit einem Boykott diese um Jahre zurückgeworfen würden. Mit der Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft in Doha wird die internationale Aufmerksamkeit auf Katar gerichtet. Dies kann genutzt werden, um die Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigranten und Migrantinnen noch weiter zu verbessern und weitere positive Reformen auf den Weg zu bringen. Das internationale „Scheinwerferlicht“ des Weltfußballs kann dabei durchaus sehr wirksam eingesetzt werden.

Nicht weniger häufig wie das Problem der Arbeitsmigranten wird von den Repräsentanten des deutschen „sportlichen Zeitgeists“ das Problem des Klimas erwähnt, das angeblich für eine Fußball-Weltmeisterschaft nicht geeignet sein soll. Angesichts des weltweit zu beobachtenden Klimawandels und angesichts der heißen Sommermonate, die mittlerweile auch in Europa zu beklagen sind, müsste sich dieses Argument eigentlich von selbst verbieten. Diese Kritik wird heute auch dann noch wiederholt, obgleich die Fußball-Weltmeisterschaft angesichts der Klimakritik auf die weniger heißen Monate November und Dezember des Jahres 2022 verschoben wurde. In den letzten 20 Jahren haben zahlreiche internationale sportliche Großveranstaltungen in Katar stattgefunden und die Veranstalter haben dabei gezeigt, dass trotz des heißen Klimas auch mehrwöchige Sportveranstaltungen erfolgreich durchgeführt werden können. Bei den Freiluftmeisterschaften sind dabei vor allem die Asiatischen Spiele 2006 und die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019 zu erwähnen. Dabei ist es besonders wichtig, dass bei Sportveranstaltungen, die im Freien stattfinden, man den klimatisch geeigneten Zeitpunkt im Jahr findet. Deshalb wird zukünftig ein flexibler Sportkalender benötigt, indem auch die Interessen jener Gastgeberländer berücksichtigt werden, die unter klimatischen Gesichtspunkten schwierige organisatorische Bedingungen aufweisen.

Die Europäer müssen dabei lernen, dass ein Sportkalender nicht nur nach ihren eigenen Interessen gestaltet werden darf. Wer einen Weltsport, will der muss begreifen, dass – immer dann, wenn in Europa Winter ist -in der anderen Hälfte dieser Welt der Sommer herrscht. Wer im wahrsten Sinne des Wortes Weltereignisse des Sports wünscht, der muss zukünftig auch akzeptieren, dass alpine Skirennen im August des Jahres in jenen Regionen der Welt durchgeführt werden können, in denen es Winter ist, wenn bei uns der Sommer herrscht; der muss auch begreifen, dass es nur fair ist, wenn man auch von deutschen Leichtathleten erwarten kann, dass sie im deutschen Winter bei Leichtathletik Meetings in Australien starten, wenn dort sommerliche Temperaturen herrschen. Wer die Idee eines globalen Sports vertritt, der muss sich freuen, wenn Olympische Spiele auch in Indien oder Indonesien stattfinden, wenn in Afrika neue Gastgeber für Olympische Spiele gefunden werden und wenn sich nach Brasilien noch weitere südamerikanischen Staaten für die Ausrichtung zukünftiger Olympischer Spiele bewerben.

Wenn Bewerberstädte oder Bewerbernationen mit ihrer Bewerbung für Olympische Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften auch strukturpolitische Ziele verfolgen, wie es China Russland und Katar bei ihren Bewerbungen getan haben, wenn durch die Ausrichtung dieser Sportereignisse neue U-Bahnlinien, neue Straßen, neue Freizeitregionen mit neuen Sportstätten und neue Wohnbezirke entstehen, so ist dies mehr als wünschenswert. München und Barcelona sind Weltstädte, die heute noch mit Stolz darauf hinweisen, dass ihnen durch die Ausrichtung der Olympischen Spiele der entscheidende Schritt zur Modernisierung hin zu einer Metropolregion gelungen ist, in der heute ihre Städte das Zentrum bilden. Was für diese Städte galt, sollte auch für zukünftige Bewerberstädte gelten dürfen, auch wenn sie sich in einem Land befinden, von dem es sich nicht behaupten lässt, dass es eine Demokratie ist. Die durch die IOC- „Agenda 2020“ initiierte weitreichende Reform des Bewerbungsverfahrens für zukünftige Olympische Spiele hat genau in diesem Zusammenhang ihre herausragende Bedeutung.

„Etwas Bornierteres als den Zeitgeist gibt es nicht“. Enzensbergers Aussage gilt ganz gewiss auch für den „sportlichen Zeitgeist“, der derzeit in Deutschland herrscht. Er ist geprägt von einer Geschichtslosigkeit und von einer erschreckenden Unwissenheit. Bei manchen Repräsentanten dieses Zeitgeists muss auch von Dummheit gesprochen werden. Vor allem ist er aber auch geprägt von einer besonderen Form von  Heuchelei, die nicht selten auch bei ehemaligen Athleten und Athletinnen zu beobachten ist, die während ihrer aktiven Zeit von der weltweit stattfindenden Kommerzialisierung des Sports profitiert haben, die nun jedoch, nach Beendigung ihrer Karriere, ihre „Starrolle“ in kommerziell kaum weniger attraktiven neuen Betätigungsfeldern des Klimaschutzes und der Propaganda von „politischen Boykottmaßnahmen“ sportlicher Großereignisse gefunden haben. Die Frage ist nahe liegend warum solche Athletinnen und Athleten nicht während ihrer aktiven Zeit sich engagiert für den Klimaschutz und für den Schutz der Menschenrechte eingesetzt haben. Hier folgt der Sport ganz offensichtlich dem großen Vorbild der Politik. Auch ehemalige und aktive Politiker des Deutschen Bundestages waren in der Vergangenheit bei vielen internationalen sportlichen Großereignissen anwesend, die von autoritären Nationen und diktatorischen Regimen ausgerichtet wurden, ohne dass man von diesen Politikern vor, während und nach dem sportlichen Ereignis eine direkt gegenüber dem Gastgeber geäußerte Kritik hätte wahrnehmen können. Dies gilt für die Fußballweltmeisterschaft und für die Olympischen Winterspiele in Russland und für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften im selben Land gleichermaßen wie für die Leichtathletik- und Handball-Weltmeisterschaften in Katar oder für die Olympischen Spiele 2008 und die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2015 in China.
Für das kennzeichnende Merkmal des derzeitigen deutschen „sportlichen Zeitgeists“, für die Heuchelei, gibt es ganz offensichtlich sehr viele Lehrmeister. Den Athletinnen und Athleten, die sich gerade auf die bevorstehenden Olympischen Winterspiele 2022 vorbereiten wird damit aber ganz gewiss nicht geholfen. Für alle zukünftigen Athletengenerationen möchte man sich wünschen, dass sie von einer historisch bewussten und kompetenten massenmedialen Öffentlichkeit begleitet werden, die nicht von einem „bornierten Zeitgeist“ geprägt ist.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 31. 12. 2021