Zwei Offene Briefe

Offener Brief an Herrn Claudio Catuogno, Süddeutsche Zeitung (10. 2. 2022)

Sehr geehrter Herr Catuogno.

Eigentlich hatte ich nicht die Absicht, mich zu dem Fall „Peng Shuai“ zu äußern, da er für mich schon seit langer Zeit als abgeschlossen zu gelten hat.
Eine ehemalige Profi Tennisspielerin aus China, 36 Jahre alt, also eine erwachsene Frau, hat in einem Interview behauptet, dass sie von einem hohen Funktionär der kommunistischen Partei Chinas sexuell missbraucht wurde. Diese Behauptung hat sie zu einem späteren Zeitpunkt zurückgenommen. In Bezug auf ihre Behauptung spricht sie in einem späteren Interview mit L´ Equipe und in späteren Gesprächen mit IOC-Persönlichkeiten, die selbst außerhalb Chinas leben, von einem „Missverständnis“. Dass sie noch lebt, kann beim Betrachten eines Videos, das vom IOC ausgestrahlt wurde, wahrgenommen werden. Angesichts der Totalität des Überwachungsstaates China könnte dieses Video auch als Fake eingeordnet werden, obgleich dies angesichts der Tatsache, dass das Gespräch mit der Athletin von der Athletensprecherin des IOC und vom IOC Präsidenten selbst geführt wurde, für mich als äußerst unwahrscheinlich zu bezeichnen ist. Es ist vor allem deshalb unwahrscheinlich, weil zu einem späteren Zeitpunkt die Athletin im öffentlichen Leben Chinas präsent war, sie als Zuschauer die Olympischen Winterspiele besuchte und sie in „Face to Face“ – Gesprächen mit verschiedenen Personen, die keine Bürgerinnen oder Bürger des kommunistischen Staats China sind, den Sachverhalt, dass sie noch am Leben und gesund ist, mehr als evident offenlegt.
Für mich verbietet es sich, ohne genauere Kenntnisse über das Privatleben von Frau Peng Shai Spekulationen über diese Dame anzustellen. Doch sei darauf hingewiesen, dass in Sportkreisen Chinas schon seit langem bekannt war, dass zwischen dem hohen Funktionär und der besten Tennisspielerin Chinas eine außereheliche Beziehung bestanden hat, die über mehrere Jahre andauerte. Darüber wurde auch in wenigen westlichen Medien, allerdings nur am Rande berichtet, weil diese Information nur bedingt in das derzeit dominante Narrativ über die Menschenrechtsverletzungen in China passt. Außereheliche Beziehungen, die auch sexueller Natur sind, können auch in allen westlichen Demokratien angetroffen werden und auch hierbei lässt sich über diese Beziehungen trefflich spekulieren. Doch bei der für unsere Demokratie wünschenswerten Unterscheidung zwischen öffentlichen Leben und privater Sphäre gehören solche Beziehungen zwischen Erwachsenen zum Bereich des Privaten und dies wird bei uns normalerweise auch respektiert.
Wer China kennt, und wenn er in diesem Land mit offenen Augen das Zusammenleben der dort lebenden Bürger und Bürgerinnen beobachtet, der weiß, dass es in diesem kommunistischen Staat keine Meinungsfreiheit gibt. Mir war es vergönnt in den letzten 30 Jahren durch verschiedene Gastprofessuren an mehreren Universitäten Chinas, durch meine Anwesenheit bei vielen sportlichen Großveranstaltungen, u.a. bei den Olympischen Spielen 2008 und bei den Leichtathletik Weltmeisterschaften 2015 Land und Leute kennenzulernen, aber auch mit Parteisekretären und führenden Politikern der kommunistischen Partei meine Erfahrung zu machen. Vor diesem Hintergrund ist für mich die Annahme durchaus wahrscheinlich, dass im Fall der chinesischen Tennisspielerin nach deren ersten öffentlichen Äußerungen die Regie über diesen Fall von der kommunistischen Partei, d.h. im weitesten Sinne von Xi Jingping übernommen wurde. Durch die Wahl von Xi Jingping im Jahr 2013 haben sich die politischen Verhältnisse in China entscheidend verändert. Ich musste dies am eigenen Leib erfahren. Meine zuvor üblichen nahezu monatlichen Kontakte zu meinem professoralen Counterpart an der Sportuniversität Peking wurden seit zwei Jahren abgebrochen, und meinem chinesischen Professoren-Kollege ist es verboten, mit westlichen Institutionen Kontakt aufzunehmen. Seine E-Mail-Adresse wurde ebenso gelöscht wie seine Telefonverbindung. Auslandsreisen wurden ihm untersagt.
Vor diesem Hintergrund nehme auch ich wie Sie selbst an, dass sämtliche Äußerungen von der chinesischen Tennisspielerin staatlich kontrollierte Äußerungen sind und unserem Ideal der freien Meinungsäußerung widersprechen. Doch für mich stellt sich – im Gegensatz zu Ihnen – die Frage, wer was von außerhalb gegen dieses geschlossene Kommunikationssystem Chinas tun kann. Sie unterstellen jedem, der von außerhalb sich auf ein Gespräch mit der Tennisspielerin einlässt, ein Propagandist des chinesischen Unrechtsstaates sei. Wenn ich Sie richtig verstehe, so hätte IOC-Präsident Bach sich nicht um ein Gespräch mit der Spielerin bemühen dürfen. Gleiches gilt für die IOC-Athletensprecherin. Wären beide Ihrer Empfehlung gefolgt, so vermute ich, dass in der westlichen Presse der Vorwurf erhoben worden wäre, dass das IOC und dessen Athletenvertretung ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen und damit einmal mehr bewiesen wäre, dass sich das IOC um die Athleten nicht kümmert. So lautet ja das gängige Vorurteil in Bezug auf das Verhältnis des IOC zu seinen Athletinnen und Athleten, das man auch in Ihrer Zeitung immer wieder lesen kann. Ich frage mich allerdings, warum dieser Vorwurf der mangelnden Sorgfaltspflicht nicht gegenüber dem Weltfachverband des Tennissports erhoben wird. Denn nicht das IOC, sondern die WTA ist für diesen Fall zuständig. Sie sollte sich um das Wohlergehen seiner Athletinnen und Athleten kümmern, und so hätte dieser Verband sich auch um Gespräche mit der Athletin kümmern und sich die Frage nach deren Wohlergehen stellen müssen. Insofern müsste eigentlich das Engagement des IOC in dieser Angelegenheit eher ein Lob verdienen.
Bei der Art wie Sie über den Fall berichten kann ich vermutlich von Ihnen nicht erwarten, dass Sie dieser Auffassung zustimmen. Doch erwarten muss ich, dass Sie mir die Frage beantworten wer, angesichts der von Ihnen und mir geteilten Prämissen über den Unrechtsstaat China, die vom amerikanischen WTA Präsidenten Simon geforderte unabhängige Untersuchung, die ja auch in Ihrer Berichterstattung von Ihnen gefordert wird, wo und wie durchführen soll?
Ich bin ganz gewiss kein Rechtsexperte und schon gar nicht kenne ich mich in Rechtsfragen des internationalen Rechts aus. Doch für mich als Laie stellt sich die Frage, wie und warum ein totalitärer Staat wie China eine Einwilligung in eine Untersuchung eines Falls geben soll, der in allen westlichen Demokratien als ein Fall eingeordnet wird, der das Privatleben von zwei Personen betrifft. Mit solchen Fällen können sich allenfalls nationale Gerichte beschäftigen. Eine Untersuchung dieses Falles durch ein ausländisches Expertengremium scheint mir deshalb völlig undenkbar zu sein. Hinzu kommt, dass ich bislang keinen Vorschlag kennen gelernt habe, wie sich dieses Gremium zusammensetzen soll.
Werden meine laienhaften juristischen Annahmen auch von professionellen Juristen geteilt, so deutet vieles darauf hin, dass die WTA Forderung populistisch und propagandistisch ist, und sie selbst mit Ihrer Berichterstattung propagandistisch handeln.
Ihr Kommentar „Thomas Bachs perfide Botschaften“ ist deshalb für mich lediglich ein weiteres Kapitel eines massenmedial inszenierten Skandals bei dem die journalistischen Prinzipien der Relevanz, der Objektivität, der Klarheit und nicht zuletzt der Wahrheit mit Füßen getreten werden. In Bezug auf den IOC-Präsidenten und die Athletenvertretung des IOC ist Ihr Kommentar beleidigend. Er ist vor allem auch hilflos, denn er legt offen, dass Sie sich zu keinem Zeitpunkt Gedanken über mögliche Alternativen gemacht haben.

Mit freundlichem Gruß

Helmut Digel

 

Offener Brief an Herrn Neureuther (2. 2. 2022)

Sehr geehrter Herr Neureuther,

Leider hatte ich während meiner Zeit als Mitglied des DSB – Präsidiums und als Vize- Präsident des Nationalen Olympischen Komitees keine Gelegenheit, Sie persönlich kennenzulernen. In dieser Zeit waren Ihre Eltern persönliche Mitglieder des NOK und ich hatte mehrfach die Gelegenheit mich mit ihnen über den Olympismus und die von ihnen geprägten Olympischen Spiele auszutauschen. Als sie Athleten waren habe ich sie bei ihren olympischen Erfolgen bewundert. Auch über Ihre Leistungen bei Olympischen Spielen und bei ihren vielen Erfolgen im alpinen Skiwelt-Cup habe ich mich sehr gefreut, und vor allem habe ich ihre Slalom-Künste mit großer Begeisterung verfolgt. Über ihre sportlichen Erfolge hinaus haben mich aber insbesondere auch ihre stets fairen und wertschätzenden Kommentare nicht nur zu Fragen des Sports in unserer Gesellschaft beeindruckt. Sie waren für mich Ausdruck eines „gelebten“ Olympismus. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erlaube ich mir, mich an Sie mit einer Bitte zu wenden, die sich auf Ihre öffentliche Rolle bezieht, die sie derzeit in Bezug auf die massenmediale Beurteilung des modernen Olympismus, des IOC und nicht zuletzt auf dessen deutschen Präsidenten einnehmen.
Als Sportwissenschaftler und Funktionär habe ich mich über mehr als 50 Jahre vor allem mit der Frage nach der Bedeutung der Olympischen Spiele für unterschiedliche Gesellschaften unserer Welt auseinandergesetzt. Ich hatte während dieser Zeit auch die Möglichkeit, in nahezu 100 Sportnationen, deren Sportstrukturen vor Ort, d.h. mit eigenen Augen und im Dialog mit vielen Partnern und Experten, zu studieren und geeignete Expertisen zur Sportentwicklung für mehrere Bundesregierungen Deutschlands zu erarbeiten. Die Entwicklung der Olympischen Spiele in den vergangenen 30 Jahren habe ich mit zahlreichen kritischen Publikationen begleitet und ich konnte mich auch mit Vorschlägen zur Reform der Spiele und des IOC in die mittlerweile sehr intensiv erfolgten Diskussionen innerhalb des IOC einbringen. In der Form von meist sehr kurz gefassten Essays kann eine Vielzahl dieser Vorschläge in meinem Magazin „sport-nachgedacht.de“ nachgelesen werden (siehe: https://sport-nachgedacht.de). Eine kleine Auswahl möchte ich Ihnen zur Lektüre empfehlen:

Sollten Sie zu dieser Lektüre bereit sein, so werden Sie erkennen, dass meine Bitte an Sie geradezu naheliegend ist. Ich möchte Sie bitten, bei ihren  öffentlichen Meinungsäußerungen, Kommentaren, Interviews und Dokumentationen eine dringend notwendige Differenziertheit zu beachten, zu der auch gehört, dass  gegenteilige Meinungen in ausgewogener Weise zur Darstellung kommen, dass wichtige Begriffe wie zum Beispiel der Begriff der „Politik“ in sinnvollerweise verwendet werden, dass wichtige journalistische Prinzipien, wie z. B. das der Objektivität, beachtet werden und dass möglichst auf jegliche Heuchelei verzichtet wird.
Man kann durchaus die von Ihnen erreichte Popularität und die damit verbundene Professionalisierung bewundern, die Sie auch noch nach Beendigung Ihrer eigenen sportlichen Karriere bei der Vermarktung und Kommerzialisierung Ihrer Persönlichkeit erreicht haben. Wenn Sie aber gleichzeitig die Vermarktung und die Kommerzialisierung der Olympischen Spiele infrage stellen, was ja durchaus sinnvoll sein kann, so sollten Sie sich dennoch fragen, auf wessen Schultern der mittlerweile von Ihnen erreichte Wohlstand wohl auch beruht, welche Rolle dabei Siegprämien, Antrittsgelder, Ausrüsterverträge und Werbeeinahmen während ihrer aktiven Zeit – und jetzt auch noch danach – gespielt haben bzw. spielen  und welche finanziellen Leistungen durch die Sportorganisationen und das IOC erbracht wurden, um Ihnen eine erfolgreiche Karriere als olympischer Athlet zu ermöglichen.
Herrn Bach zu unterstellen er würde die Auffassung vertreten, dass der Sport „unpolitisch“ sei, wie dies in sämtlichen ARD-und ZDF-Dokumentationen der jüngsten Zeit der Fall war, einer Meinung, der auch Sie immer wieder einmal zuneigen, kann mit keiner seiner Reden als IOC-Präsident bei den von ihm zu verantwortenden IOC-Sessionen und mit keiner seiner schriftlichen Äußerungen zum Verhältnis zwischen staatlicher Politik und der Olympischen Bewegung belegt werden. Genau das Gegenteil ist der Fall: Es gehört zu den besonderen Leistungen von Herrn Bach, dass er in allen  von ihm geleiteten IOC-Sitzungen die IOC-Mitglieder über den politischen Charakter des IOC aufgeklärt hat und seine Meinung engagiert begründete, dass  Olympische Spiele und damit auch das IOC „politisch neutral“ gegenüber den unterschiedlichen politischen Systeme zu sein haben, wenn sie  zukünftig bestehen  und ihre Friedensbotschaft gegenüber einer Welt vermitteln möchten, die von immer schwierigeren politischen Konflikten geprägt wird.

Eigentlich müsste es auch für Sie ein leichtes sein, den Unterschied zwischen einer Auffassung zu erkennen, bei der einige „ewig Gestrige“ sich einen „unpolitischen Sport“ wünschen und jener Auffassung, bei der eine „politische Neutralität“ für den Sport gefordert ist. Diese Forderung sollte im Übrigen auch für die Organisationen des deutschen Sports gelten, was leider immer seltener der Fall ist.

In ihrer ARD-Dokumentation nennen Sie Christoph Dubi einen „Strippenzieher“. Ich kenne Herrn Dubi seit 1996 und habe ihn als einen Menschen kennen gelernt, für den die Weiterentwicklung der modernen Olympischen Spiele sein Lebenswerk darstellt. Das Interview, das er Ihnen gegeben hat, wird vom Bemühen geprägt, Ihnen auf Ihre Fragen aufrichtige Antworten zu geben. Wie es zu Ihrem pejorativen Urteil über Herrn Dubi kommt ist für mich unerklärlich. Für mich ist es auch nur schwer zu verstehen wie man Urs Lacotte zu einem wichtigen Zeitzeugen ihrer Dokumentation aufwertet, obgleich er als Generaldirektor für die Durchführung der Spiele 2008 in China mitverantwortlich war und auch während der Aufarbeitung des Korruptionsskandals im Umfeld der Winterspiele in Salt Lake City in Amt und Würden war. Ich habe ihn in der Zeit von 2003 bis 2011 als einen in seiner verantwortlichen Position im IOC überforderten Generaldirektor wahrgenommen, der sich lediglich durch seine Skurrilität ausgezeichnet hat. Einen besonderen Beitrag seinerseits zur Aufklärung der Probleme des IOC und der Olympischen Spiele konnte ich während dieser Zeit nicht erkennen.

Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 ging es in der deutschen Berichterstattung vorrangig um die Probleme der Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Tibet. So wie in ihrer ARD-Dokumentation die Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang zurecht beklagt und angeprangert werden, so wurden damals ebenfalls zurecht die von der chinesischen Regierung verletzten Menschenrechte gegenüber der Weltöffentlichkeit aufgezeigt. Heute muss man sich jedoch fragen, warum die Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen in Tibet, die vermutlich nach wie vor stattfinden, nahezu vollkommen verstummt ist und ob nicht möglicherweise die in den westlichen Demokratien politisch Verantwortlichen ihrem diesbezüglichen Auftrag bis heute nicht nachgekommen sind. Ich kann nur hoffen, dass in den Jahren nach den Winterspielen 2022 den Uiguren nicht das gleiche Schicksal widerfährt und dass sich die ARD auch noch zukünftig um diese Fragen kümmert.
Ich frage mich deshalb aber auch, ob es doch nicht möglicherweise so sein könnte, dass nur gerade deshalb, weil Olympische Spiele in einer Diktatur stattgefunden haben, diese Diskussionen über die Menschenrechtsverletzungen vor und während dieser Spiele möglich gewesen sind und ob es deshalb durchaus angeraten sein könnte, dass man gerade wegen solcher Menschenrechtsverletzungen Olympische Spiele auch in Diktaturen abhalten muss. Die seit den griechischen Spielen im Jahr 884 v.Chr. wichtige Botschaft des „Olympischen Friedens“ („Ekecheira“) kann vor allem während solcher Spiele ihre herausragende friedenspolitische Bedeutung offenbaren.
Meine Anmerkungen zu Ihrer ARD- Dokumentation, die gewiss noch fortgeführt werden könnten, mögen an dieser Stelle genügen.

Ich würde mich bereits freuen, wenn Sie lediglich der oben ausgesprochenen Bitte zumindest ein wenig entsprechen könnten. Gerne können wir das Thema auch einmal in einem persönlichen Gespräch vertiefen.

Mit freundlichem Gruß

Helmut Digel