Man hat es wohl kaum anders erwarten können: Je näher der Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele 2020 rückte, desto aggressiver wurde die Berichterstattung über das IOC und dessen Präsidenten. Waren und sind Spanier und Belgier stolz darauf, dass einer ihrer Mitbürger in der jüngeren Vergangenheit zum Präsidenten des IOC gewählt wurde, so wird von den deutschen Massenmedien den deutschen Bürgerinnen und Bürgern vom derzeit amtierenden deutschen Präsidenten des IOC ein Bild übermittelt, das sich eher durch Häme, Ablehnung und mitunter sogar durch Hass auszeichnet.
Nahezu in jedem Kommentar der deutschen Tageszeitungen werden nun aus Anlass der Spiele in Tokio all jene Vorwürfe noch einmal geradezu gebetsmühlenhaft wiederholt, die die Kommentare über das IOC und über Präsident Bach über viele Jahre bereits geprägt haben. Begehrte Interviewpartner sind jene, von denen man weiß, dass man bei ihren Aussagen mit einer scharfen Funktionärskritik rechnen darf. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen werden Sondersendungen ausgestrahlt, bei denen die Kritik der Tageszeitungen und der Presseagenturen mit Ton und Bild noch verstärkt werden.
Pünktlich, wie es schon längst üblich geworden ist, lässt die ARD eine Woche vor Beginn der Spiele ihren Dopingexperten mit einer Sondersendung zu Wort kommen, die vermutlich kaum eine andere Bedeutung hat (haben kann), als viele Athleten und Athletinnen kurz vor ihren wichtigsten Wettkämpfen in Tokio auch noch zu verunsichern. Die Sendung selbst handelte von einem angeblich völlig neuen und spektakulären Sachverhalt, durch den der gesamte Anti-Dopingkampf infrage zu stellen ist. Was als neu ausgegeben wurde war allerdings nichts anderes als hinlänglich bekanntes Expertenwissen und wer die Logik der Massenmedien kennt, der kann wohl kaum verwundert sein, dass auf den lauten Aufschrei sehr schnell die Ruhe folgte und für diese angeblich äußerst spektakuläre Sendung die längst bewährte Maxime zum Tragen kam: „Nichts ist so alt wie die Nachricht von gestern“. Die ARD hat dies allerdings nicht davon abgehalten, in mehreren Nachfolgesendungen mit nichtssagenden Studiogästen das Thema warm zu halten, um ihrem Dopingexperten noch weitere Foren zu bieten.
Nicht weniger fragwürdig ist die Berichterstattung mit der man als Leser oder Zuschauer aus Anlass der IOC-Session und der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Tokio informiert wurde. Im Zentrum dieser Berichterstattung stand das IOC und dessen Präsident. Journalisten, die wohl sich selbst als olympische Experten betrachten, hatten es dabei einmal mehr vor allem auf Thomas Bach abgesehen, dem teilweise in geradezu bösartiger Manier Absichten und Handlungen unterstellt werden, ohne dass die dabei geäußerten Vorwürfe mit empirischen Befunden und Fakten belegt werden.
Die Frankfurter Rundschau lässt am 22. Juli 2021 den sogenannten „Dopingjäger“ Fritz Soergel einmal mehr zu Wort kommen, der sich berufen sieht vom „IOC – Boss“ zu behaupten, dass Thomas Bach „zuletzt ja sogar doch noch auf die Zulassung von Zuschauern“ (drängte), „weil Tokio seiner Meinung nach keine Probleme mit dem Virus hat. Da bleibt einem wirklich die Spucke weg. Er ist rücksichtslos“. Fakt aber ist: Eine derartige Aussage hat es von Bach während der gesamten Pandemie bis heute nicht gegeben und weder der sog. Experte noch die für das Interview verantwortlichen Redakteure haben Ort und Zeitpunkt der angeblichen Aussage belegt. Die Aussage, dass Bach rücksichtslos sei, ist aus meiner Sicht daher gezielt diffamierend und beleidigend.
Die Süddeutsche Zeitung präsentiert am 24. Juli 2021 einen Bericht über Bach mit der Überschrift „Beliebt wie Auric Goldfinger“. Im Blickfang dieser Überschrift stellt sich für den Leser die Frage: Wer ist dieser Auric Goldfinger? In Ian Flemmings Film „Goldfinger“ ist Auric Goldfinger der hinterlistige Gegner von James Bond, die Inkarnation des Bösen, der aus einer maßlosen Geldgier auch über Leichen geht. Gespielt wurde die Goldfingerrolle von dem deutschen Schauspieler Gerd Fröbe. Dieser Goldfinger-Vergleich ist nicht nur verletzend und beleidigend. Der Journalist, der diesen Vergleich zu verantworten hat, glaubt gleichzeitig, dass er sein anmaßendes Urteil gleich auf die gesamte japanische Nation übertragen darf, indem er schreibt: „Mittlerweile dürfte der frühere Fecht-Olympiasieger aus Tauberbischofsheim für die Menschen in Japan einer der unbeliebtesten Deutschen seit Auric Goldfinger sein“.
Im weiteren Verlauf dieses SZ Berichts behauptet der Autor, dass im IOC eine Maßlosigkeit und Eigensucht in Mode zu sein scheint: „Bach ist ein gutes Beispiel dafür (…) Als kenntnisreicher Wirtschaftsanwalt kann er die Milliarden zusammenzählen, die von den Fernsehsendern ans IOC bzw. seine Mitgliedsverbände fließen, sobald die Spiele den Stoff für Fernsehübertragungen liefern. Insofern dürften sogar die wichtigsten Aufgaben erfüllt sein (…) Aber was kümmern Thomas Bach auch die Sätze der anderen, wenn seine Party läuft“. Bei solch einer Voreingenommenheit kann es abschließend kaum noch überraschen, dass der Autor dieses SZ-Artikels aus einem Gespräch des Kaisers von Japan mit Bach folgenden Satz zitiert: „Unter diesen Umständen die Spiele zu bewerkstelligen und gleichzeitig alle möglichen Maßnahmen gegen COVID-19 zu unternehmen, ist eine Aufgabe, die keineswegs einfach ist“ um dann diesen Satz mit der Frage zu ergänzen: „War das ein Tadel?“ Absurder kann wohl die Aussage des Kaisers kaum noch gedeutet werden.
Nicht weniger fragwürdig ist es, wenn die FAZ am 20. Juli 2021 ihre Berichterstattung über die IOC-Session mit dem Titel „Pierre de Bach“ eröffnet. In diesem Artikel wird Bach in polemischer Weise mit dem Begründer der modernen Olympischen Spiele Pierre de Coubertin verglichen und es wird unterstellt, dass Thomas Bach der Dreiklang „Citius, altius, fortius“ zu kurz gewesen sei und „er ihn kurzerhand verlängern“ ließ: „Citius, altius, fortius – communiter“. Folgt man der Meinung der Autorin des FAZ- Kommentars, kann sich Bach nun „künftig fühlen wie ein Coubertin 2.0“.
Die auf Vorschlag von Bach vorgenommene Änderung des Olympischen Mottos durch die IOC-Mitgliederversammlung wird nicht nur in der FAZ mit Häme und Spott begleitet. Diese Art von Ablehnung machte vielmehr schnell Schule, so dass nahezu sämtliche Tageszeitungen und Fernsehkommentaren und-kommentatorinnen sich in vergleichbarer Weise dazu äußerten.
Im „Tagesspiegel“ vertrat am 20. Juni Journalist Jörg Leopold die Meinung, dass die Änderung des olympischen Mottos ein durchsichtiges Manöver sei. Die olympische Bewegung zeige nur dann Gemeinsamkeit, „wenn es darum geht, noch mehr Geld mit den Leistungen ihrer Athleten zu verdienen. Ansonsten waren die Interessen einzelner schon mal wichtiger als die Sache selbst.“
In der Süddeutschen Zeitung meinte Holger Gertz am 24. Juli: „Ausgerechnet jetzt ist das olympische Motto ausgeweitet worden, statt „Schneller, höher, stärker“ jetzt „Schneller, höher, stärker – gemeinsam“. Und wenn halt nicht vor Ort gemeinsam, dann gemeinsam mit dem Fernsehpublikum. Darauf kommt es ja eigentlich an.“ Für den Japan-Korrespondenten derselben Zeitung hat das IOC mit der Änderung des Mottos lediglich unter Beweis gestellt, dass es Latein kann. „Das ist beruhigend und zeigt die herrliche Zukunft toter Sprachen im modernen Leistungssport. Passend dazu erklärte Thomas Bach: “Wir müssen das Motto unseren Zeiten anpassen“.
Bachs Aufforderung zu vermehrter Solidarität wird in all diesen Kommentaren lediglich mit Polemik und Ironie begegnet. „Solidarität zeigt man schließlich nicht dadurch, dass man ein Motto aufhübscht. Sondern in dem man sich solidarisch verhält und das tut das IOC ja eigentlich gerade nicht.“ (SZ vom 22.Juli)
Derselbe Journalist meinte in derselben Ausgabe der SZ, dass für das IOC unter der Führung von Bach der Grundsatz gilt: „Spielen, egal was passiert. Das ist… wohl der Spirit dieses großen Sportfests“. Seines Erachtens liegt in diesem Satz eine große „Rücksichtslosigkeit und Desinteresse an größeren Zusammenhängen. In diesem zweiten Sommer der Pandemie bedeutet er: Wir, die wir spielen, scheren uns nicht um die andauernde Corona-Krise. Um die Todesopfer, die diese weltweit immer noch fordert und um all die Mediziner, die mit ernster Sorge davor warnen, dass das größte Sportfest der Welt als Superspreaderevent von Tokio aus neue Coronavirus-Mutanten in die Welt tragen könnte“. Der Autor dieser skandalösen Einschätzung hat wohl selbst gemerkt, dass er mit seinem Urteil über jedes verantwortbare Ziel hinausschießt. Deshalb fügte er hinzu: „Natürlich wird das niemandem in der olympischen Familie wirklich egal sein, aber das tiefere Problem dieser Spiele möchte offenbar auch niemand wahrnehmen. Augen zu und hinein in die Kulissen des Fernsehsports – das ist die Mission 2021. Es ist ein Kampf gegen das Vergessenwerden und um das Überleben der Olympischen Kernsportarten. Die Frage ist, ob diese Spiele wirklich etwas retten, nachdem man es im vergangenen Jahr versäumt hat sie um zwei Jahre zu verschieben“.
Die Beispiele für das, was man in deutschen Redaktionen unter kritischer olympischer Berichterstattung versteht, könnten noch lange fortgeführt werden. Sie gipfeln in der Auffassung der Rheinischen Post und deren Kommentator Stefan Klüttermann vom 22. Juli 2021, dass Deutschland besonders berufen ist das IOC und die Olympischen Spiele mit Kritik infrage zu stellen. Dies habe dazu geführt, dass Deutschland sich für Olympische Spiele zukünftig kaum erfolgreich bewerben kann. „Warum sollte das IOC so masochistisch veranlagt sein, sein milliardenschweres Premiumprodukt Olympische Spiele an einen Ort zu vergeben, wo man Aufdeckung von Skandalen, Proteste mündiger Bürger, Widerspruch im Allgemeinen und Entlarvung von Worthülsen fürchten muss“ (…) „Was ist deshalb zu tun? Das Sportland Deutschland muss sich zukünftig noch stärker in seiner Rolle als kritischer Begleiter der Olympischen Spiele profilieren. Das hilft dem globalen Sport am Ende mehr, als noch mal Ausrichter zu sein“.
Was ist das gemeinsame Merkmal dieser sich selbst als kritisch verstehenden Berichterstattung über die Olympische Bewegung, das IOC und über dessen Präsidenten? Eine Vermutung ist dabei für mich zunächst nahe liegend.: Wenn über Präsident Bach gesprochen wird, so wird über ihn geurteilt, ohne dass man mit ihm selbst gesprochen hat, und ohne dass man Antworten auf die erhobenen Vorwürfe bei ihm selbst eingeholt hat. Werden derart gravierende Vorwürfe gegenüber Personen und Institutionen geäußert, so scheint mir dies eine journalistische Pflicht zu sein, die heute noch ihre Gültigkeit hat, auch dann, wenn sie bereits schon vor 100 Jahren in Presserichtlinien festgehalten wurde.
Zum Zweiten muss von einer kritischen Berichterstattung erwartet werden, dass die Fakten überprüft werden, auf die man sich bezieht. In keinem der deutschen Berichte wird erwähnt, dass die WHO die Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele mit vielfältiger Expertise begleitet hat. Auch die Unterstützung der G-7 Staaten für die Durchführung der Spiele wird nicht erwähnt. Die Frage über welche Sachverhalte die japanische Regierung entschieden hat und welche Entscheidungen vom IOC getroffen wurden, um die Spiele in Japan in einer bestimmten Form durchzuführen, wird nicht erwähnt. Wissenschaftliche Stellungnahmen, die die Durchführung der Spiele unterstützt haben, werden ausgeklammert. Die Tatsache, dass es zu keinem Zeitpunkt der Pandemie eine bessere Gelegenheit gegeben hat und auch zukünftig wohl kaum noch einmal geben wird, bei der in einmaliger Weise auch wissenschaftliche Daten zur Bekämpfung der Pandemie erhoben werden können – wie dies in der abgeschlossenen „Olympischen Community“ in Tokio der Fall ist – wird nirgendwo erwähnt. Die Testverfahren können in ihrer Qualität äußerst präzise überprüft werden, gleiches gilt für die Wirkweise der verschiedenen Impfstoffe. Auch alle übrigen Präventionsmaßnahmen können in ihrer Qualität und Reichweite in diesem „exklusiven Feldversuch“ auf den Prüfstand gestellt werden.
Angesichts des vom Organisationskomitee und vom IOC erarbeiteten Hygienekonzepts den für die Spiele Verantwortlichen Nachlässigkeit oder gar Verantwortungslosigkeit zu unterstellen, ist anmaßend und beleidigend zugleich. Die Pandemie hatte beispielsweise zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen beiden Jahren in Japan ein vergleichbares Ausmaß wie in Deutschland und in den meisten Ländern Europas. Folgt man zum Beispiel der Statistik der WHO, so hatte Japan in den vergangenen zwei Jahren eine eher niedrige Inzidenz aufzuweisen und angesichts der Größe des Landes und der Einwohnerzahl von mehr als 120 Millionen weist die Anzahl der an Corona verstorbenen Patienten keineswegs ein dramatisches Ausmaß auf. In Deutschland verstarben bei einer Bevölkerung von 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern 91607 Personen an und mit Corona. In Japan waren es hingegen lediglich 15160 Personen (Stand WHO, 30. Juli 2021).
Zu erwähnen ist auch, dass die häufig beklagte zu geringe Impfquote Japans nicht vom IOC zu verantworten ist. Im Großraum Tokios wohnen mehr als 40 Millionen Menschen, während die eingereisten Gäste der Olympischen Spiele (Funktionäre, Athleten, Trainer, Kampfrichter, Journalisten etc.) gerade mal eine Größenordnung von circa 40.000 Personen aufweist und diese Gäste zu mehr als 80 Prozent geimpft sind sowie unter einer täglichen Test-Kontrolle ab ihrer Einreise nach Japan und bis zu ihrer Ausreise aus Japan unterzogen sind. Dem Premierminister von Japan könnte also durchaus widersprochen werden, wenn er öffentlich äußert, dass er die Aufgabe hat, Japans Bevölkerung vor den zu den Olympischen Spielen eingereisten Gästen zu schützen. Angesichts der nur von der japanischen Regierung selbst zu verantwortenden geringen Impfquote und mit Blick auf die vergleichsweise sehr geringe Anzahl der durchgeführten Tests in Japan, müsste diese Aussage eigentlich umgekehrt werden. Die in Japan durchgeführten Olympischen Spiele müssen vor einer weitgehend ungeimpften japanischen Bevölkerung geschützt werden.
Erinnert muss in diesem Zusammenhang auch an die Berichterstattung über die Fußball- Europameisterschaft 2021. Die Spiele dieser Meisterschaft fanden in den Großstädten Europas bei wesentlich höheren Coronainzidenzwerten im Vergleich zu Tokio statt und es wurden teilweise, wie zum Beispiel in London oder in Budapest Zuschauermassen zugelassen, die angesichts der noch immer andauernden Coronapandemie in Europa wohl kaum als verantwortbar bezeichnet werden können. Die im Vorfeld teilweise vorgetragene Kritik gegenüber der UEFA war in der Berichterstattung zu den einzelnen Spielen der Europameisterschaft selbst jedoch allenfalls noch eine Randnotiz wert. Die Idee eines Boykotts der Fußball-Europameisterschaft wurde nicht einmal ansatzweise diskutiert. Auch sollte man sich daran erinnern, dass die deutschen Massenmedien auch bereits in den Monaten zuvor bei höchster Coronagefahr die Spiele der deutschen Fußball-Bundesliga mit der gleichen Aufmerksamkeit und einer umfangreichen Sendezeit begleitet haben wie dies zu Zeiten vor der Pandemie der Fall war.
Die Sonderbehandlung des Fußballs sei ihm gegönnt. Doch jene, die dem Fußball diese Bevorzugung zukommen lassen, müssen sich daran auch messen lassen, und es muss im Vergleich zur Berichterstattung über die Olympischen Spiele von Tokio die Frage erlaubt sein, ob hier nicht möglicherweise mit zweierlei Maß gemessen wird.
Auch die gegen Bach gerichtete Polemik angesichts seines Vorschlages zur Änderung des olympischen Mottos bedarf einer kritischen Ergänzung. Coubertins Motto „Höher, schneller und stärker“ ist ein Motto, das die „Take-off-Phase“ des modernen Kapitalismus im 19. Jahrhundert widerspiegelt und auch für das 20. Jahrhundert prägend war. Die ökologischen Fragen unserer Zeit, die drohende Klimakatastrophe, das weltweite Flüchtlingsproblem, die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich machen schon seit längerer Zeit darauf aufmerksam, dass der Steigerungs – und Wachstumsimperativ des Kapitalismus für die weitere Menschheitsentwicklung kaum hilfreich sein wird. Insofern muss jede Initiative, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist, die an Stelle von Beschleunigung auf Entschleunigung wert legt, die an Stelle von Egoismus auf Solidarität setzt, geprüft und nach geprüfter Eignung unterstützt werden. Dies gilt auch für das Gebot zu mehr Gemeinsamkeit, das Bach mit seiner Änderung des Mottos im Blick hatte. Bachs Reformversuche und seine bereits durchgesetzten Reformen sollten deshalb vorurteilsfrei geprüft werden. Seine Agenda 2020 hat dabei bereits vieles bewirkt. Sein Engagement zugunsten einer vermehrten Mitbestimmung der Frauen hat die meisten Gremien des IOC entscheidend verändert. Die Gründung sogenannter Flüchtlingteams, die bei Olympischen Spielen teilnehmen können, hat die Unterstützung der Athletinnen und Athleten in aller Welt gefunden. Die Kostenreduzierung für die Ausrichtung zukünftige Spiele war zwingend notwendig. Die Nachhaltigkeit der Olympischen Sportstätten ist längst nicht mehr nur eine bloße Worthülse. Die Ein – und Ausgaben des IOC wurden unter der Führung von Bach transparent offengelegt und sind öffentlich kontrollierbar. Die Einnahmen des IOC werden zu 90 % an die Ausrichter zukünftiger Olympischer Spiele, für die finanzielle Unterstützung der olympischen Sportarten und für die Finanzierung der Arbeit in den mehr als 200 Nationalen Olympischen Komitees ausgeschüttet. Vielfältige weitere solidarische Maßnahmen werden mit den Einnahmen finanziert. Die Beispiele für olympische Reformen in den vergangenen fünf Jahren könnten fortgeführt werden. Doch dazu müsste sich ein kritischer Journalist sehr viel tiefgründiger mit diesen Reformen auseinandersetzen. Begründete Kritik wäre dabei durchaus willkommen und notwendig. Ist Kritik jedoch nur oberflächlich, werden die zu kritisierten Sachverhalte nicht ausreichend recherchiert, bedient man sich nur populistischer Vorurteile oder wird Journalismus gar zur gezielten Abrechnung mit Personen, so besteht hingegen die Gefahr, dass der Glaubwürdigkeit einer freien Presse ein erheblicher Schaden zugefügt wird.
Wird die eine Seite der deutschen olympischen Sportberichterstattung durch eine fragwürdige Kritik an den Olympischen Spielen, am IOC und an dessen Präsidenten geprägt, so zeichnet sich die andere Seite dieser deutschen Berichterstattung eher durch eine gewisse Normalität aus, wie man sie schon lange für die Sportberichterstattung kennt und wie sie auch in der Berichterstattung in anderen Nationen zu beobachten ist. Im Zentrum steht dabei die Berichterstattung über die einzelnen olympischen Wettkämpfe und über die Athleten und Athletinnen. Den Athletinnen und Athleten wird dabei meist mit einem besonderen Wohlwollen begegnet und die Darstellung ihrer Leistungen ist in den meisten Fällen auch angemessen. Journalistisch bedient man sich dabei aller möglichen Arbeitsformen: Berichte und Interviews sind dabei besonders beliebt, Features und Hintergrundberichte sind eher seltener geworden, Statistiken und Tabellen sind während der Olympischen Spiele besonders beliebt. Die meisten Tageszeitungen sind dabei in ihrer Berichterstattung von den großen Agenturen „sid“ und „dpa“ abhängig. Arbeiten deren Kolleginnen und Kollegen vor Ort sehr gut, so sind auch die abgedruckten Texte in den Zeitungen entsprechend lesenswert. Qualitativ gibt es hierbei aber große Unterschiede. Für die meisten Redaktionen der Tageszeitungen ist es schon seit längerer Zeit aus Kostengründen nicht mehr möglich, eigene Journalisten und Journalistinnen zu den Olympischen Spielen zu entsenden, und bei den Spielen in Tokio kommt noch hinzu, dass sich durch die Corona-Pandemie die Zahl der zugelassenen Journalisten erheblich reduzierte. Dies hat noch zu einer größeren Abhängigkeit der Berichterstattung von der journalistischen Arbeit jener geführt, die vor Ort anwesend sein können. Selbst in einigen Fernsehberichten werden Wettkämpfe aus einem Studio aus Deutschland heraus kommentiert und wirkliche Live-Berichte werden dabei immer seltener. Das Selektionskriterium für die deutsche olympische Berichterstattung ist aus naheliegenden Gründen die Zugehörigkeit der Athleten oder der Athletinnen zur deutschen Olympiamannschaft. Das zweite Selektionskriterium ist die spektakuläre Leistung bei einem Olympischen Finale. Die Vielfalt der olympischen Sportarten kommt deshalb nur sehr begrenzt zur Darstellung und bei Disziplinen, die ohne deutsche Beteiligung stattfinden, kann es sein, dass ganz auf eine Berichterstattung verzichtet wird. Interessierte Rezipienten sind in diesem Fall auf die immer häufiger werden Streaming-Dienste angewiesen, deren Rezeption jedoch mit dem Lesen des Sportteils einer Tageszeitung oder mit dem Betrachten einer interessanten Fernsehsendung kaum zu vergleichen sind. Was die Frage der Berichterstattung über die einzelnen Sportarten anbelangt, sind erhebliche qualitative Unterschiede zu beobachten. Das Regel,-Technik,-Taktik- und Materialwissen von den einzelnen Sportarten ist bei immer mehr Journalisten und Journalistinnen eher als unzureichend zu bezeichnen. Vielen Berichten ist es geradezu anzumerken, dass sie lediglich auf dem Fundus eines Wikipedia-Wissens aufbauen. Dies zeigt sich vor allem bei der Berichterstattung von ARD und ZDF über die unterschiedlichen Wettkämpfe, wenn diese über eine vergleichbar geringe Popularität in Deutschland verfügen. Hier rächt sich die einseitige Sportberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die in den vier Jahren zwischen zwei Olympischen Spielen, den Olympiaden, längst zur Normalität geworden ist. Für die Sender ist es kein Problem, Kommentatoren und neuerdings auch Kommentatorinnen für Fußballspiele zu finden. Hingegen muss man für die große Mehrheit der olympischen Sportarten kurzfristig auf journalistische Rentner und auf solche Journalisten und Journalistinnen zurückgreifen, für die man vor und nach den Spielen keine Arbeit anzubieten hat. Deshalb bedarf es kurzfristiger Schulungen, um die Berichterstattung über die Spiele überhaupt möglich zu machen. Immer häufiger bedient man sich dabei auch ehemaliger Athleten und Athletinnen, von denen man glaubt, dass sie als sog. Experten den Kommentator bzw. die Kommentatorin ergänzen können. Das rhetorische Talent dieser „Co-Kommentatoren“ ist dabei mitunter zweifelhaft und auch ihre Expertise variiert von Sportart zu Sportart unter qualitativen Gesichtspunkten erheblich.
Immerhin können ARD und ZDF bei der Übertragung von einigen Olympischen Wettkämpfen noch auf einige bekannte „Stimmen“ zurückgreifen, deren fachliche Kompetenz nach wie vor bemerkenswert ist, und die mit ihrer gelungenen Rhetorik die Live- Berichterstattung von wichtigen Finalwettkämpfen bereichern. Carsten Sostmeier soll dabei stellvertretend erwähnt werden: Seine Stimme und sein außergewöhnliches Wissen über den Reitsport sind einmal mehr eine Bereicherung für die Berichterstattung über diese Spiele.
Für die Fernsehberichterstattung ist es zunehmend üblich geworden, dass – wie es aktuell bei den Olympischen Spielen auch zu beobachten ist – die wirklichen Live-Übertragungen im Verhältnis immer nur noch zeitlich kurze Einblendungen darstellen, hingegen sehr viel Zeit in aufwändig und mondän gestalteten Studios mit Moderatoren und Moderatorinnen, mit Studiogästen, mit langatmigen Gesprächen und mit dem Einspielen von Archiv-Videomaterial verbracht wird. Nicht selten ist diese Art von Übertragungszeit nur wenig informativ und dient eher der Selbstdarstellung der Beteiligten, während die Zuschauer und Zuschauerinnen zu Hause längst auf die nächste „Schalte“ zu einem gerade laufenden Wettkampf warten.
Will man die zweite Seite der deutschen Sportberichterstattung über die Olympischen Spiele von Tokio bewerten, so kann man ihr wohl die Note „befriedigend“ geben. Nicht zufrieden kann man hingegen mit dem personellen Aufwand des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sein: Dass sich ARD und ZDF in ihrer Berichterstattung täglich abwechseln und deshalb jede Sportart und jede Tagesmoderation aus den Studios heraus aus der Sicht des Steuerzahlers personell immer doppelt besetzt ist, sollte dringend überprüft werden.
Ein gutes Beispiel wie es auch gehen kann, liefert das staatliche Fernsehen Österreichs, der ORF, der vor und während der gesamten Spiele aus einem geradezu bescheidenen Studio heraus rein zeitlich das gleiche Sendevolumen bewältigt. Der ORF schafft es, mit einem journalistisch herausragenden „Frontmann“ und Moderator namens Rainer Pariasek und mit meist bestens geschulten journalistischen TV-Experten, jeweils begleitet von einem ehemals erfolgreichen Athleten bzw. einer ehemals erfolgreichen Athletin in der jeweiligen Sportart, das gesamte Volumen der Berichterstattung über die Spiele abzuleisten und zu verantworten haben. Damit wird auch gezeigt, dass eine olympische Berichterstattung sehr viel kostengünstiger sein kann als dies in Deutschland der Fall ist.
Letzte Bearbeitung: 31. Juli 2021