„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – diese Maxime ist das Fundament, auf dem die Gründungsväter der Bundesrepublik Deutschland eine neue deutsche Gesellschaft gebaut sehen wollten. Mit diesem Satz wird auf die humanitäre Katastrophe verwiesen, die der Nationalsozialismus in Deutschland und weit über Deutschland hinaus ausgelöst hatte. Mit dieser Feststellung wird eine Leitlinie angeboten, die es uns möglich macht, dass aus der menschenverachtenden Politik der Vergangenheit gelernt werden kann, dass sich unsere Gesellschaft zukünftig durch Humanität und Würde auszeichnen kann. Damit ist uns Deutschen aber auch ein Auftrag mit auf den Weg gegeben, wo immer die Menschenwürde angetastet wird. Wo immer Menschenrechte in dieser Welt verletzt werden, sind diese anzuklagen und ist dagegen anzugehen. Wir alle haben uns dafür einzusetzen, dass es zu einer Achtung der Würde des Menschen kommt.
Deshalb ist jeder Vollzug einer Todesstrafe ein Vollzug zuviel, jede Bestrafung eines angeblich Schuldigen ohne ein Urteil eine Bestrafung zuviel, jede präventive Verhaftung eine zuviel und jede Verweigerung des Dialogs mit Andersdenkenden eine Verweigerung zuviel. Grundsätzlich muss für uns alle gelten, dass jede Verletzung der Menschenwürde eine zuviel ist. Dies gilt für unser eigenes Land. Dies gilt für Demokratien. Dies gilt vor allem aber auch für autoritäre oder totalitäre Staaten, so z. B. für Russland und nicht zuletzt für China. Wenn wir von Menschenrechten reden, so sollten sie allen Menschen gewährt werden und wir haben uns deshalb auch in aller Entschiedenheit gegen eine Relativierung der Menschenrechte einzusetzen. Menschenrechte sind universell, wo immer Menschen leben, haben sie Gültigkeit. Frauen wie Männer haben einen Anspruch auf Gleichberechtigung, Kinder benötigen den Schutz der Erwachsenen, Minderheiten sind von der Mehrheit zu respektieren, Religionsfreiheit ist zu gewähren, jeder Mensch hat das Recht auf ein würdiges Leben.
Wenn in diesen Tagen aus Anlass der bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Peking im Februar 2022 vermehrt der Fokus auf China gerichtet ist, wenn die Frage nach der Einhaltung der Menschenrechte in einer totalitären Gesellschaft gestellt wird, so ist dies angesichts der Menschenrechtsverletzungen, die nach wie vor in China alltäglich sind, notwendig, naheliegend und bedarf einer sorgfältigen Würdigung. Der Olympische Sport, allen voran das IOC hat sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass Menschenrechtsverletzungen nicht nur in Diktaturen vorkommen. Auch in Demokratien wird noch die Todesstrafe vollstreckt. Präventive Verhaftungen sind auch in nordamerikanischen und europäischen Staaten immer häufiger auf der Tagesordnung, und die Verweigerung des Dialogs mit Andersdenkenden zeichnet nicht nur die autoritären Regime dieser Welt aus. Auch kann der Hinweis gemacht werden, dass in China nicht erst in jüngster Zeit Menschenrechtsverletzungen zu beobachten sind, ja, dass sich die Situation in Bezug auf die Menschenrechte seit der marktwirtschaftlichen Öffnung eher positiv entwickelt hat. Dieser relativierende Hinweis geht meist mit dem Vorwurf einher, dass sich die Verfechter der Menschenrechte der populären Olympischen Spiele bedienen würden, um auf diese Weise eine interessierte Öffentlichkeit zu erhalten.
Gewiss können solche Fragen aufgeworfen und diskutiert werden. Es kann auch der Hinweis gemacht werden, dass bereits vor der ersten Vergabe der olympischen Sommerspiele 2008 an Peking und seit diesen Spielen Großereignisse des Sports in China stattgefunden haben, ohne dass sie eine entsprechende Menschenrechtsdiskussion ausgelöst haben. Die Organisationen des Sports werden zurecht auch darauf hinweisen, dass in den Ländern, in denen bislang Olympischen Spiele ausgerichtet wurden, fast nirgendwo eine Situation anzutreffen war, die unter Menschenrechtsgesichtspunkten alle zufrieden stellen konnte. Man denke nur an die Spiele 1980 in der Sowjetunion,1984 in den USA und nicht zuletzt an die Spiele 1936 in Nazi-Deutschland. Solche Hinweise sind verständlich und solche Fragen sollten diskutiert werden. Bezogen auf das Problem, das es zu lösen gilt, sind sie jedoch nicht weiterführend.
Es ist notwendig, angemessen und gerade auch für die Olympische Bewegung bedeutsam, dass sie sich aus Anlass der zweiten Olympischen Spiele in China den Fragen nach der Würde des Menschen und den Fragen nach dem Vollzug der Menschenrechte stellt. Doch die Antworten auf diese Fragen sind keineswegs so einfach zu finden, wie es üblicherweise angenommen wird. Wir alle beklagen die Verletzung der Menschenrechte, wir alle wehren uns, wenn die Würde des Menschen angetastet wird, wir alle nehmen für uns eine bestimmte Moral in Anspruch, um auf das Unrecht hinzuweisen, dass mit Menschen an den verschiedensten Orten dieser Welt geschieht. Die Frage, die sich in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen in China und anderswo auf dieser Welt jedoch stellt, ist jene nach der Verantwortung. Wer übernimmt Verantwortung, wenn Menschenrechte verletzt werden, welche Verantwortung gibt es aus einer nationalen, aus einer bilateralen, aus einer internationalen Perspektive? Sucht man eine Antwort auf diese Frage, so müssen wir ein Dilemma erkennen.
Die Wirtschaft versucht die Verantwortung in dieser Frage weit von sich zu weisen, sie verweist auf das Politiksystem. Deshalb werden beste Geschäfte mit China gemacht und deshalb gibt es auch bei Verhandlungen über zukünftige Wirtschaftsbeziehungen nur am Rande oder gar keinen Menschenrechtsdialog.
Die Wissenschaft trifft sich mit den Organisationen der Wissenschaft in den betreffenden Ländern, in denen Menschenrechtsverletzungen stattfinden, so auch mit chinesischen Wissenschaftlern. Sie erforscht vielleicht sogar die Situation der Menschenrechte in China. Eine Verantwortung für den Vollzug der Menschenrechte übernimmt sie jedoch nicht.
Die Kultur mit ihren Künsten befindet sich längst in einem internationalen Austausch mit China. Auch dabei können durchaus Menschenrechte thematisiert werden. Doch die Verantwortung wird auf Dritte abgeschoben.
Gleiches gilt für den Sport. Auch er befindet sich mit seinen nationalen und internationalen Sportverbänden seit langem in einem internationalen Austausch mit China. Doch eine Verantwortung für die Menschenrechtsproblematik in diesem Land kann und will er nicht übernehmen.
Bleibt also nur die Politik. Alle anderen Teilsysteme verweisen auf ihre Nichtzuständigkeit in Bezug auf das Problem. Betrachten wir die Politik etwas genauer, so müssen wir jedoch erkennen, dass sie sich in Bezug auf die Bearbeitung dieser Thematik als nicht besonders glaubwürdig erweist. Zum einen stehen die politischen Behüter der Menschenrechte in der Gefahr, in ihren eigenen politischen Gefilden Menschenrechte zu verletzen. Selbst für einige Mitgliedsländer der EU werden von Amnesty international in ihren jährlichen Berichten gravierende Menschenrechtsverletzungen beklagt. Zum anderen wird vor dem Hintergrund vielfältiger politischer Interessen der Dialog über die Menschenrechte in der internationalen Tagesordnung immer weit nach hinten verschoben.
Will man einen Ausweg aus diesem aufgezeigten Dilemma finden, scheint es so zu sein, dass die Lösung nur im Menschen selbst, bei jedem einzelnen Bürger und jeder Bürgerin zu suchen ist. Den Menschenrechtsdialog hat somit jeder von uns zu führen. Jeder ist aufgefordert, sich am Schutz der Menschenrechte zu beteiligen: der Sportler, der Funktionär, der Journalist, der Partner aus der Wirtschaft, der Wissenschaftler.
Jene, die dabei dem Bereich des Sports zugehören, sollten sich dabei jedoch eher durch Bescheidenheit auszeichnen. Der Beitrag des Sports, den er zu Gunsten einer positiven Menschenrechtsentwicklung erbringen kann, ist eher ein indirekter Beitrag. Auch dieser Beitrag kann durchaus seine Wirkungen zeigen. Dies lässt sich in China seit seiner Öffnung, seit der Entscheidung zu Gunsten der Ausrichtung von chinesischen Olympischen Spielen in vielfältiger Weise beobachten. Der Sport ist ohne Zweifel ein Anlass für umfassende Lernprozesse. Der Sport ist auch ein Anlass für einen Wissensaustausch im Sport selbst und weit über den Sport hinaus. Schließlich ist der Sport vor allem auch ein Anlass der persönlichen Begegnung und des persönlichen Gesprächs, in dem Menschen Vertrauen aufbauen, Bindungen eingehen, Verantwortung übernehmen. Seit der Vergabe der Olympischen Spiele zu Gunsten von Peking 2008 und Peking 2022 haben in China unzählige Begegnungen, Wettkämpfe, Gespräche, Kongresse, Symposien, Workshops und Beratungen stattgefunden. Der Sport war dabei ein Vehikel zur Internationalisierung des chinesischen Sports und damit immer auch zur Internationalisierung der chinesischen Gesellschaft. Zumindest Teile, insbesondere die urbanen Regionen der chinesischen Gesellschaft, wurden dadurch geöffnet. Deshalb war die Entscheidung des IOC, die 29. Olympischen Sommerspiele und später dann auch die 24. Olympischen Winterspiele an Peking zu vergeben eine sinnvolle und wegweisende Entscheidung. Und deshalb wäre ein Boykott der Spiele, so wie ihn manche Menschenrechtsorganisationen und einzelne politische Repräsentanten gefordert haben bzw. derzeit erneut wieder fordern, der falsche Weg. Boykottforderungen wie sie in diesen Tagen vor allem von Politikern an die Olympischen Athleten und an die Sportorganisationen gerichtet werden, können angesichts deren eigenem Versagen nur als bloße Heuchelei gedeutet werden. Die in der Vergangenheit kläglich gescheiterten Boykottmaßnahmen gegenüber den Olympischen Spielen in Moskau 1980 und in Los Angeles 1984 müssten eigentlich Lehre genug sein. Das setzt allerdings die Lernfähigkeit von Politikern voraus.
Doch nicht nur die Internationalisierung Chinas ist dabei eine durchaus wünschenswerte Folge, die Sportbegegnungen ermöglicht haben. Der internationale Sport konnte und kann auch ein demokratisches Modell anbieten, das einer sich wandelnden chinesischen Gesellschaft durchaus ein Vorbild sein kann. Die chinesische Gesellschaft befindet sich auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft und benötigt dabei vielfältige strukturelle Hilfen. Die Idee des Olympischen Sports und die Werte des Olympismus, der Verzicht auf jegliche Diskriminierung, dass Ideal der Chancengleichheit und nicht zuletzt das Prinzip des Fairplay können dabei durchaus eine wichtige Hilfe sein. Dennoch hat sich der Sport dabei durch Bescheidenheit auszuzeichnen. Denn vor allem ist Glaubwürdigkeit vonnöten. Wenn der Sport selbst die Würde des Menschen antastet, wie dies beim Dopingbetrug der Fall ist, wenn der Sport sich durch Korruption auszeichnet, wie dies in jüngster Zeit vermehrt der Fall war, wenn Gewalt im Sport angetroffen werden kann, wenn somit im Sport selbst sein ureigenstes Prinzip, das Prinzip des Fairplay mit Füßen getreten wird, so ist allerdings kaum anzunehmen, dass der Sport den ihm angestammten Beitrag zum Schutz der Würde des Menschen erbringen kann.
Verfasst: 18.03.2021