Public Relations in der Weltleichtathletik – ein fragwürdiger Weg

In immer mehr internationalen Sportorganisationen sind Promotion und Public-Relationsmaßnahmen in das Zentrum ihrer Sportpolitik gerückt. Meist bedient man sich dabei internationaler Kommunikations- und Umfrageagenturen, deren Produkte sehr kostspielig sein können. Mancher internationale Sportfachverband befindet sich dabei in der Gefahr, dass dringend notwendige Reform-Arbeiten verdrängt oder verschoben werden und die eigentlichen Probleme dieser Sportverbände mit den PR-Auftritten der Verbände eher verdeckt oder nicht erkannt werden.

Besonders kritisch ist dabei die Entwicklung der internationalen Leichtathletik zu betrachten, deren Wettkampfangebote schon seit vielen Jahren unter dem Aspekt der Konkurrenzfähigkeit an Attraktivität verloren haben. Dies zeigt sich bei den rückläufigen Zuschauerzahlen in den Leichtathletik-Arenen ebenso wie beim drastischen Rückgang der massenmedialen Berichterstattung über diese Sportart. Nicht zuletzt ist auch eine rückläufige Bedeutung bei den Olympischen Spielen zu beklagen.

Möchte die internationale Leichtathletik ihre herausragende Bedeutung, die sie in der Vergangenheit ohne Zweifel besessen hat, zurückgewinnen, stabilisieren oder gar stärken, so ist ohne Zweifel harte Arbeit von Nöten. Die Sportart bedarf einer kreativen Erneuerung. Sie muss aktiv ihrer Vergreisung entgegentreten. Die Entwicklung der demografischen Struktur ihrer Fans ist schon seit längerer Zeit bedrohlich. Die zeitlichen Strukturen ihrer Wettkämpfe entsprechen wohl kaum den sich ständig ändernden Unterhaltungsinteressen potentieller Zuschauer und die Präsentationsformen der durchaus attraktiven Leistungen der Athletinnen und Athleten können modernen Zuschauerbedürfnissen nicht mehr genügen.

Die Notwendigkeit einer radikalen Modernisierung der Leichtathletik wurde schon vor mehr als zehn Jahren und bis heute immer wieder erkannt und diskutiert. Unzählige Vorschläge von Experten und Wissenschaftlern liegen hierzu vor. Ganze Bücher wurden zu dieser Problematik publiziert und mehrere Fachkongresse haben sich damit beschäftigt. Die entscheidenden Reformschritte wurden jedoch noch immer nicht eingeleitet – das Gegenteil ist eher der Fall. Anstelle einer Reform wird Etikettenschwindel betrieben. Bereits während der Ära von IAAF-Präsident Diack ließ man sich von Agenturen zur Notwendigkeit neuer Weltpläne überreden. Allein zwei neue sogenannte „Branding“-Maßnahmen wurden während dessen Amtszeit durchgeführt, was vor allem eine zweimalige Veränderung in Form und Farbe des Logos und der IAAF-Fahnen zur Folge hatte. Die Kosten dieser Maßnahmen überschritten jeweils die Millionengrenze. Vor Diack hatte IAAF-Präsident Nebiolo auf exakt dieselben Maßnahmen gesetzt und unter dem seit 2015 amtierenden Präsidenten Coe hat die PR-Arbeit des Verbandes ihren Höhepunkt erreicht. Aus der IAAF ist „World Athletics“ geworden. Die Marke der Leichtathletik wurde erneut mit einem neuen Logo versehen. Vorrangig englische Kommunikationsagenturen haben mit der seit 2015 angelsächsisch geführten internationalen Leichtathletik ein äußerst attraktives und gewinnbringendes Betätigungsfeld finden können. Anstelle einer soliden Sportpolitik ist einmal mehr eine kostenintensive PR-Politik getreten. Dass der Verband dabei zunehmend finanzielle Probleme hat, kann wohl kaum noch überraschen.

In diesen Tagen hat sich „World Athletics“ einmal mehr mit einer bombastischen PR-Aktion zu Wort gemeldet. „Global Conversation“ heißt eine Umfrage, bei der eine Agentur mehr als 10.000 Personen in 141 Ländern in allen Kontinenten dieser Welt befragt hat. 1000 Athletinnen und Athleten haben sich an dieser Online-Befragung beteiligt. Geantwortet haben aber auch Trainer und Funktionäre. Prinzipiell konnte sich jede Frau und jeder Mann an dieser Befragung beteiligen.

Aus der Sicht von „World Athletics“ ist diese Befragung ein großer Erfolg und die vorgelegten Ergebnisse – als Meinung der Weltöffentlichkeit zur Leichtathletik bewertet – stellen für „World Athletics“ angeblich eine völlig neue Herausforderung dar.

Für die „Weltöffentlichkeit“ könnte es sich allerdings lohnen, einen etwas genaueren Blick auf die veröffentlichten Ergebnisse dieser Untersuchung zu werfen:

  • 27 % der antwortenden Athleten und Athletinnen haben die Meinung, dass der Mangel an Leichtathletiksportstätten die größte Herausforderung für das Wachstum ihrer Sportart darstellt.
  • 55 % der antwortenden Trainer und Trainerinnen stimmen mit der Meinung überein, dass die Leichtathletik die bestzugängliche Sportart darstellt und dass sie die geeignetsten Aktivitäten bietet, um der Welt zu einer besseren Gesundheit und Fitness zu verhelfen.
  • Die Fans der Leichtathletik wünschen sich eine bessere Berichterstattung in den Medien und für 33 % von ihnen ist der Mangel an allgemeiner medialer Kommunikation und Fernsehberichterstattung die größte Herausforderung, wenn man neue Zuschauer für die Leichtathletik gewinnen möchte.

Unabhängig von demografischen Merkmalen sind alle, die sich an der Befragung beteiligt haben, der Auffassung, dass die Leichtathletik eine größere Berücksichtigung im Curriculum der Schulen finden muss, und dass dort die zentrale Lösung zu suchen ist, wenn man mehr Leichtathletikfans gewinnen möchte.

Bei der Präsentation dieser Ergebnisse teilte der Präsident von „World Athletics“ der Sportwelt mit, dass die Ergebnisse des „Global Conversation“-Projekts in den „World Plan for Athletics 2022 bis 2030“ einfließen werden. Dieser Plan soll ein Schlüsseldokument werden, um eine „Road Map“ für das Wachstum und die Entwicklung der Leichtathletik bis zum Jahr 2030 aufzubauen. Hierzu ist es notwendig, dass man die genaue Situation identifiziert, in der sich die Sportart in der Welt in diesen Tagen befindet. Es soll dann eine Vision entwickelt werden, um die Richtung für die Entwicklung der Sportart über das Jahr 2030 hinaus festzulegen. Ein erster Entwurf soll bereits zur Mitte des Jahres 2021 dem „World Athletics Council“ vorgelegt werden. Und beim nächsten Kongress im November 2021 steht dieser neue „World Plan for Athletics“ zur Verabschiedung an. Der Prozess soll von einer „World Plan Working Group“ begleitet werden und er wird von der Agentur „Sports Business Group at Deloitte“ unterstützt.

Wer die Entwicklung von Sportorganisationen lange genug beobachten konnte, für den ist es ganz gewiss keine neue Erkenntnis, dass vor allem in den Organisationen des Sports immer wieder von neuem das „Rad erfunden“ werden kann. Dass jedes neu gewählte Präsidium von der Vergesslichkeit seiner wahlberechtigten Mitglieder profitiert und dass ein historisches Bewusstsein im System des Sports nur ganz selten anzutreffen ist. An der jüngsten PR-Aktion von „World Athletics“ wird dies ganz besonders deutlich. Die Pressemitteilungen von „World Athletics“ zu dessen Projekt der „Global Conversation“ sind nahezu identisch mit jenen, die während der Ära Diack zu dessen „World Plan“ vorgetragen wurden. Sie decken sich auch mit jenen, die Präsident Nebiolo während seiner Amtszeit in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Sportwelt offenbarte.

Betrachtet man die Befragungen etwas genauer, die solchen Weltplanaktionen vorausgegangen sind, so kann man sehr schnell erkennen, dass ihr Informationswert äußerst gering ist. Die Befragungen waren und sind unter methodischen Gesichtspunkten äußerst mangelhaft und sie können allenfalls PR-Ansprüchen genügen. Ihr Erkenntnisgewinn ist nahezu gleich null und würde man einen Stammtisch über die aktuelle Situation der internationalen Leichtathletik befragen, so würden sich dessen Antworten wohl kaum von jenen 10.000 unterscheiden, die sich am „Global Conversation“-Projekt von World Athletics beteiligt haben.

Gewiss hat die Leichtathletik heute im Schulsport nicht mehr jenen Stellenwert, die sie hatte, als sich das Sportangebot für Kinder und Jugendliche noch auf wenige Sportarten beschränkte. Heute konkurriert die Leichtathletik mit mehr als 60 verschiedenen Sportarten, die allein im Deutschen Olympischen Sportbund organisiert sind. Und es ist noch immer eine ständige Vermehrung der unterschiedlichsten Sportarten und Sportaktivitäten zu beobachten. Dass Leichtathletik im Fernsehen im Vergleich zu den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer weniger präsent ist, kann angesichts der Vermehrung der Sportarten aber auch vor dem Hintergrund der Dominanz des Fußballs heute wohl kaum noch überraschen.

Der Verlust an Leichtathletiksportstätten ist nicht nur für jeden Kommunalpolitiker eine gängige Erkenntnis. Schon seit langem werden neue Sportarenen ohne die Berücksichtigung einer modernen Leichtathletiklaufbahn erstellt. Auch die Erkenntnis, dass die Leichtathletik eine Sportart ist, die für jedermann sehr leicht zugänglich ist, und wenn sie sinnvoll betrieben wird, auch einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Gesundheit und Fitness der Bürgerinnen und Bürger leisten kann, ist ganz gewiss keine neue Erkenntnis.

Für die heute Verantwortlichen in den Organisationen der Weltleichtathletik scheint es dringend notwendig zu sein, dass endlich erkannt wird, dass Promotion und eine bloße PR-Politik eine solide Sportpolitik und eine kreative Entwicklungsarbeit von der Basis bis zum Dach der Organisation nicht ersetzen kann.

Letzte Überarbeitung: 06.05.2021