Leichtathletik – eine sterbende Sportart?

In wenigen Jahren feiert der Internationale Leichtathletik-Verband sein 100-jähriges Jubiläum. Er gehört damit zu den ältesten internationalen Fachverbänden. Die Leichtathletik sieht sich selbst als die Königin der Olympischen Spiele und ohne Zweifel ist es ihr in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gelungen, bei den Olympischen Spielen die Zuschauer in den Olympiastadien zu faszinieren und die Leichtathletik hat auch ganz wesentlich zum großen massenmedialen Erfolg der Olympischen Spiele beigetragen. Zeichnete sie sich in diesem Zusammenhang über Jahrzehnte durch ein Alleinstellungsmerkmal aus, so muss sie bei den Olympischen Spielen nunmehr feststellen, dass andere Sportarten in gleicher Weise das Interesse der Massen finden und bei den jüngsten Olympischen Spielen von Athen musste die Leichtathletik ihre Spitzenposition bei den Fernseheinschaltquoten bereits mit anderen Sportarten teilen. Dennoch scheint es so zu sein, dass die Position der Leichtathletik innerhalb der olympischen Bewegung unumstritten ist und sie sich durch eine besondere Qualität und Einmaligkeit auszeichnet.

Leichtathletik findet aber nicht nur bei den Olympischen Spielen statt. Der Internationale Leichtathletik-Verband veranstaltet alle zwei Jahre Freiluft- und Hallen-Weltmeisterschaften, er richtet Cross- und Halbmarathon-Weltmeisterschaften, einen Geher-Weltpokal, einen Weltcup, ein Weltfinale, Jugend- und Junioren-Weltmeisterschaften und noch weitere internationale Wettkämpfe aus. Die Kontinentalverbände veranstalten Kontinentalmeisterschaften, meistens als Freiluftmeisterschaften, einige auch als Hallenmeisterschaften. In Europa ist die Wettkampfstruktur der Leichtathletik vergleichbar differenziert wie die der IAAF. Daneben findet die Leichtathletik auf nationaler Ebene statt. 210 Mitgliedsverbände sind bemüht nationale Meisterschaften auszutragen. In vielen Ländern werden dabei sämtliche 47 Einzeldisziplinen der Leichtathletik zur Austragung gebracht. Auch auf nationaler Ebene kann bei den sehr erfolgreichen Leichtathletikverbänden eine ausgesprochen differenzierte Wettkampfstruktur beobachtet werden. Sie reicht von den Kinder- und Jugendmeisterschaften bis zu den Seniorenmeisterschaften und umfasst die Disziplinen des Laufens, Werfens, Springens und Gehens. Die Wettkampfpalette der Leichtathletik wird durch sogenannte „One-Day-Meetings“ ergänzt. Meist sind dabei Vereine, Einzelpersonen oder Agenturen die Veranstalter dieser Wettkämpfe. Mit einer ausgewählten Disziplinkombination versucht man dabei, möglichst viele Zuschauer an sich zu binden. In der ganzen Vielfalt dieser Wettkampfveranstaltungen gibt es immer ein gemeinsames Interesse. Alle Veranstalter der Leichtathletikwettkämpfe möchten die Wettkämpfe einer möglichst großen Zuschauerschaft im Stadion präsentieren, sie möchten ihre Sportart mittels Kooperationen mit Sponsoren erfolgreich vermarkten und sie verfolgen das Ziel, dass ihr Wettkampf möglichst umfassend in den Massenmedien, insbesondere im Fernsehen, zur Darstellung gebracht wird. Die genannten Interessen befinden sich dabei in einem magischen Dreieckszusammenhang. Habe ich viele Zuschauer auf meiner Wettkampfstätte, so sind auch die Sponsoren an diesem Wettkampf interessiert. Sind viele Zuschauer im Stadion oder in der Halle anwesend, so ist auch das Fernsehen bereit, vom Wettkampf zu berichten.

Ganz offensichtlich hängt dabei alles von der Qualität des Wettkampfs selbst ab. Ist dieser bestens organisiert, ist er attraktiv und spannend, bringen die Athleten herausragende Leistungen, so sind die Zuschauer bereit, sich für eine derartige Veranstaltung eine Eintrittskarte zu kaufen, die Sponsoren erkennen die Qualität des Produkts und können ihre ökonomischen Ziele in der Kooperation mit dem Wettkampf erfolgreich verfolgen und das Fernsehen erhält ein Unterhaltungsthema für seine Zuschauer, das attraktiv ist.

Betrachten wir nun das vergangene Jahrzehnt, so müssen wir erkennen, dass immer weniger Zuschauer bereit sind, sich eine Eintrittskarte für eine Leichtathletikveranstaltung zu kaufen. In mehr als 90% aller Leichtathletikveranstaltungen, die weltweit stattfinden, sind keine zahlenden Zuschauer anzutreffen. Bei jenen Veranstaltungen, wo zu früheren Zeiten Eintrittspreise erhoben werden konnten, sind die Zahlen der bezahlenden Zuschauer rückläufig. Die große Mehrzahl der Leichtathletikveranstaltungen in der Welt findet auch ohne tragfähige Sponsoring-Kooperationen statt. Lediglich bei den herausragenden Topereignissen der Weltleichtathletik lässt sich ein wachsendes Sponsoringvolumen beobachten. Die Zuschauerzahlen vor dem Bildschirm sind weltweit betrachtet nahezu als irrelevant zu bezeichnen. Selbst in ehemals attraktiven Märkten sind sinkende Einschaltquoten zu beobachten. Der Marktanteil der Leichtathletik und die erreichten kumulativen Zuschauerzahlen sind objektiv betrachtet rückläufig. Selbst bei Welt- und Europameisterschaften sind die erreichten Quoten als unbefriedigend zu bezeichnen. In so bedeutsamen Märkten wie jenem der Vereinigten Staaten ist die Leichtathletikpräsenz minimal. Die Verluste, die derzeit die Leichtathletik in Europa und USA aufweist, können dabei keineswegs, wie oft behauptet, durch entsprechende Gewinne in den so genannten „Emerging Markets“ ausgeglichen werden. Unter ökonomischen Gesichtspunkten gibt es für die Leichtathletik nahezu in allen Kontinenten keine tragfähigen Strukturen. Die Leichtathletik ist als Unterhaltungssportart im Wesentlichen auf staatliche Subventionen angewiesen. 90% ihrer Veranstaltungen sind nicht aus sich selbst heraus finanzierbar. Ausrichter von leichtathletischen Großveranstaltungen können in der Regel keine Gewinne erzielen, die Leichtathletik ist im Wesentlichen eine vom Steuerzahler finanzierte Sportart.

Stimmen die bislang gemachten Beobachtungen, so ist die Frage naheliegend, durch was dieser gefährliche Rückschritt der Leichtathletik bedingt wird? Was sind die Ursachen, dass die Leichtathletik für Zuschauer immer weniger attraktiv geworden ist? Warum haben Sponsoren nur bedingt ein Interesse an einer Kooperation mit der Leichtathletik, warum sind immer mehr Fernsehsender nicht mehr bereit, Leichtathletikveranstaltungen zu übertragen? Auf diese naheliegende Frage gibt es eine nicht weniger naheliegende Antwort: Die Leichtathletik selbst ist es, so wie sie sich ereignet, wie sie sich präsentiert, so wie sie durchgeführt wird. Sie selbst stellt das Problem dar, das dringend einer lösungsorientierten Bearbeitung bedarf.

Fragen wir die Menschen, warum sie die Leichtathletik nicht mehr als interessant empfinden, fragen wir junge Menschen, warum sie nicht bereit sind als Fans bei Leichtathletikveranstaltungen mitzumachen, sind wir selbstkritisch genug und beobachten das Phänomen Leichtathletik aus einer Distanz, so erkennen wir sehr viele Einzelaspekte, die darauf hinweisen, dass die aktuelle Verfasstheit der Leichtathletik auf keine attraktive Zukunft verweisen kann.

Warum ist es möglich, dass sich bei einer Weltmeisterschaft während der laufenden Wettkämpfe viele Stadionbesucher in der Lobby, im Sponsorvillage, in den VIP-Räumen aufhalten? Warum wandern die Zuschauer während der Wettkämpfe um das Stadionrund und unterhalten sich? Warum halten sich gar einige Zuschauer während der Wettkämpfe vor den Arenen auf? Warum wird während der Wettkämpfe auf den Tribünen geschwätzt, fachgesimpelt und Sportpolitik gemacht?

Die Antwort der Kritiker auf diese Fragen ist sehr eindeutig: Dies alles ist möglich, weil Leichtathletik langweilig präsentiert wird. Bei Qualifikationen ist man nur am eigenen Athleten interessiert. Danach verlassen viele Zuschauer wieder die Arena. Zwischen den einzelnen Versuchen der Athleten sind Pausen, die das Gespräch geradezu herausfordern. Meist finden auch zu viele Wettkämpfe gleichzeitig statt, was zur Folge hat, dass man keinen konsequent verfolgt und jedes Mal dann zu spät kommt, wenn bei einem bestimmten Wettkampf eine besondere sportliche Leistung erbracht wird. Frustration auf Seiten des Zuschauers ist die naheliegende Folge, die er zu ertragen hat. Als Zuschauer erregt man sich über die Inkompetenz von Startern. Man fragt sich, warum nicht schon längst eine elektronische Startmaschine entscheidet und jeder Fehlstart ausgeschlossen ist. Die Kommunikation der Messergebnisse dauert in der Regel zu lange und der jeweilige Stand des einzelnen Wettkampfs ist für den Zuschauer so gut wie nicht zu verfolgen. Eine nicht selten sehr miserable elektronische Kommunikation ist dabei meist die Ursache. Einzelne Wettkämpfe, wie z. B. der Stabhochsprung dauern viel zu lange. Ein Spannungsbogen ist dabei kaum zu erkennen und immer geht dabei der Wettkampf mit einem Scheitern zu Ende. Er ist dann beendet, wenn der Sieger dreimal gerissen hat oder frühzeitig den Wettkampf aufgibt. Besonders ärgerlich ist für die in den Arenen anwesenden Zuschauer, wenn die Qualität des Produkts noch dadurch beeinträchtigt wird, dass im Innenraum des Stadions hunderte von Personen herumwuseln, Fotografen, Fernseh-Teams, Messapparaturen, Sonnenschirme oder Kampfrichteransammlungen verstellen den Zuschauern die Sicht zum Wettkampf und gleichzeitig wird der Wettkampfinnenraum durch Linien und Farben in einer chaotischen Weise strukturiert.

Die hier beschriebenen fraglichen Aspekte des Qualitätsproblems, die ohne Zweifel noch fortgeführt werden können, lassen sich nahezu bei allen Leichtathletikveranstaltungen beobachten. Sie zeigen sich bei Eintagesmeetings ebenso wie bei den nationalen Meisterschaften der Mitgliedsverbände der IAAF. Selbst die Weltmeisterschaften und die Leichtathletik bei den Olympischen Spielen können dabei nicht ausgenommen werden. Ganz offensichtlich hat somit die Leichtathletik ein Qualitätsproblem, das dringend einer Lösung bedarf.

Damit stellt sich die Frage, wie dieses Qualitätsproblem von den Verantwortlichen der Weltleichtathletik bearbeitet wird. Wie stellt man sich den skizzierten Herausforderungen?

Die Leichtathletik ist wie keine andere Sportart eine regelgeleitete Sportart und ihre hundertjährige Geschichte zeichnet sich vor allem durch einen Prozess der Regelentwicklung aus. Dieser muss in vieler Hinsicht als problematisch bezeichnet werden. Leichtathletik hat dabei in dieser hundertjährigen Geschichte in einem naturwüchsigen Prozess die Zahl der leichtathletischen Wettkämpfe ständig erhöht, ohne die Frage zu diskutieren, was ein erträgliches Maß ist, wenn man als Sportart gegenüber Zuschauern attraktiv bleiben möchte. Wurden aus den Mitgliedsorganisationen Interessen in Bezug auf die Einführung oder Weiterentwicklung einer Disziplin artikuliert, so wurden diese Anliegen lediglich einem Prüfverfahren unterzogen. Hatte eine Disziplin einen ausreichenden Bewährungsgrad erreicht, so hat sie in der Regel ihre Zulassung bei den internationalen Meisterschaften erhalten. Nur selten kam es dabei zu einer Streichung einer bestehenden Disziplin. Die Leichtathletik hat vielmehr einen Prozess der Ausdifferenzierung aufzuweisen, der unter funktionalen Gesichtspunkten kaum zu rechtfertigen ist. Parallel zu dieser Entwicklung wurden die einzelnen Disziplinen immer weiter verregelt. Alle zwei Jahre finden IAAF-Kongresse statt, bei denen nicht selten mehr als 200 Regelanträge zur Diskussion und zur Abstimmung stehen. Das Regelbuch hat mittlerweile einen Umfang von mehr als 200 Seiten und die Regelentwicklung ist dabei von der Annahme gekennzeichnet, dass man glaubt, dass man das Regelproblem der Leichtathletik dadurch lösen kann, dass immer dann, wenn man eine Regellücke entdeckt, diese durch eine ergänzende neue Regelung geschlossen werden könnte. Es wird nur selten erkannt, dass man sich in einem Prozess einer unendlichen Geschichte befindet, dass jede Regel neue Lücken erzeugt, dass es in der Logik der Regel liegt, dass man sie einhalten kann, dass sie aber auch verletzt wird. Hierbei wird ganz offensichtlich verkannt, dass dieser Verregelungsprozess der eigenen Sportart einen enormen Schaden zufügt. Nur wenige Experten verstehen noch die existierende Vielfalt. Die Sportart wird in ihrer Regelstruktur für die Zuschauer, aber selbst auch für die betreibenden Athleten in vieler Hinsicht unverständlich. Nicht weniger problematisch erweist sich dieser Verregelungsprozess für die massenmediale Berichterstattung über diese Sportart.

Geprägt wird dieser Verregelungsprozess von der Expertise, den so genannten „technischen Experten“. Organisiert in den technischen Kommissionen stellen sie den eigentlichen Machtfaktor der Weltleichtathletik dar. Deshalb haben auch Technische Delegierte bei allen Meisterschaften das letzte Sagen. Sie verfügen über die Ausführungsgewalt. Diese technischen Experten verweisen auf eine lange athletische Sozialisation, sind leidenschaftlich ihrer Sportart verbunden, ihr Alter, ihre Herkunft, ihre Sozialisation im weitesten Sinne haben dabei zur Folge, dass es sich bei diesen Experten um eine geschlossene Gesellschaft handelt, die sich durch eine eigene Logik auszeichnet. Aus der Sicht jener Mitglieder in der Leichtathletik-Familie, die nicht dieser geschlossenen Gesellschaft angehören, gilt diese Expertengruppe als wertkonservativ, traditionsbewusst und wenig experimentierfreudig. Dennoch ist aus der Sicht der Verantwortlichen der Leichtathletik die Technische Kommission der IAAF die wichtigste Kommission, die über die Geschicke der Leichtathletik verfügt. Alle übrigen IAAF-Kommissionen haben im Verhältnis zu dieser Kommission eine eher nachgeordnete Bedeutung. Angesichts dieser Machtkonstellation ist es naheliegend, dass das Qualitätsproblem der Leichtathletik lediglich über diese Kommission selbst gelöst werden kann, es sei denn, die Leichtathletik ist zu einer Reform ihrer organisatorischen Strukturen bereit.

Die hier beschriebenen Qualitätsprobleme der Leichtathletik sind nicht von heute auf morgen entstanden. Sie werden vielmehr außerhalb und innerhalb der Leichtathletik schon seit vielen Jahren beklagt und selbstverständlich haben sich längst die Gremien der Leichtathletik diesen Problemen zugewandt. Mehrmals jährlich tagen die Wettkampfkommission, die Technische Kommission, die Marketing-Kommission und noch viele weitere Kommissionen. Immer wieder wurden ad-hoc-Arbeitsgruppen eingerichtet. Die eine beschäftigt sich über viele Jahre mit der Reform der One-Day-Meetings. Eine andere ist auf eine neue Struktur der so genannten World-Athletic-Series ausgerichtet. Ein Weltplan wurde verabschiedet, Symposien und ganze Kongresse wurden bereits zur Qualitätsfrage durchgeführt. Man tauscht sich mit den Fernsehsendern aus. Man berät sich mit den Sponsoren. Bei den Wettkämpfen selbst hat sich jedoch so gut wie gar nichts verändert. Die Vormittagsprogramme bei den Weltmeisterschaften sind nach wie vor nahezu unverkäuflich. Selbst nachmittags sind bei dieser Vorzeigeveranstaltung die Pausen noch zu lang. Langweilige Siegerehrungen unterbrechen die Wettkämpfe, die Präsentationsformen sind amateurhaft, eine wirkliche Kommunikation mit den Zuschauern findet nicht statt.

Wohl sind einige nette ergänzende Hilfsprogramme zu erkennen, der Kern des Problems bleibt dabei jedoch nach wie vor unerfasst. In jüngster Zeit wurden auch noch Agenturen mit dieser Problematik beauftragt. Teure Studien wurden eingekauft, die in ihrer Aussagekraft nicht über all diese Vorschläge hinauskommen, die längst in den Gremien zur Diskussion gestellt waren. Auf diese Weise siecht die Leichtathletik vor sich hin. Ja, sie scheint sich in einem Prozess der Selbstauflösung zu befinden, ohne dass die Beteiligten, die dafür die Verantwortung übernommen haben, dies für sich in dieser Weise erkennen. Jeder einzelne der Verantwortlichen teilt die Sichtweise in Bezug auf die Probleme, jeder einzelne weist auf die Notwendigkeit von Veränderungen hin und jeder einzelne sieht sich selbst als jemand, der zur Reform bereit ist. Zu fragen ist deshalb, warum eine Organisation wie der Weltleichtathletikverband zu diesen Reformen nicht fähig ist. Worin sind die Ursachen zu sehen, warum es zu dem dringend erforderlichen Entscheidungshandeln nicht kommt?

Grundsätzlich neigen Sportorganisationen angesichts ihrer ehrenamtlichen und hauptamtlichen Konstruktion dazu, Probleme hierarchisch abzuarbeiten. Vorzuarbeiten und nachzuarbeiten haben die Hauptamtlichen, zu entscheiden haben die Ehrenamtlichen. Die Ehrenamtlichen in der Institution des IAAF-Councils haben in ihrer Gesamtheit die Verantwortung. Eine Einzelverantwortung ist jedoch nicht zu erkennen. Auf diese Weise kann jeder der Verantwortlichen auf die Verantwortung der Gemeinschaft verweisen, ohne dass auf diese Weise wirklich Verantwortung zum Tragen kommt. Die Sitzungen der Entscheidungsgremien sind durch wenig strukturierte Diskussionen geprägt, es wird über alles und nichts gesprochen, sportpolitisches Palaver steht dabei im Mittelpunkt. Eine ausreichend fundierte fachliche Diskussion kann aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation der ehrenamtlichen Führungskräfte kaum erwartet werden. Nur wenige der gewählten Repräsentanten verfügen über eine ausreichende Expertise über die Sportart selbst und nur ganz wenige erfassen die Komplexität der Probleme. Angesichts dieser Konstellation darf es nicht wundern, dass in Sportorganisationen immer dann, wenn Probleme einen gravierenden Charakter erhalten, man diese an Kommissionen verweist und auf diese Weise das Problem vertagt wird. Mit dem Verweis an Kommissionen kommt es aber auch zur Delegierung der Verantwortung. Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich und schon allein deshalb sind zeitliche Verzögerungstaktiken in Sportorganisationen immer erfolgreich. Neigt dann noch ein Präsident eines Verbands zur Strategie des Vertagens, ist er zögerlich in Entscheidungen, ist sein eigenes Management problematisch, ist er bei seinen Entscheidungen einer Kultur der Harmonie verpflichtet, ist ein Konzept der Prioritätensetzung nicht zu erkennen, so kann es in Sportorganisationen Jahrzehnte dauern, bis es zu irgendeiner entscheidenden Veränderung kommt. Genau dies ist auch im Weltleichtathletikverband und in vielen Leichtathletik-Mitgliedsverbänden zu beobachten. Zwölf Jahre tagten die Experten der Wettkampf-Kommissionen, ohne dass auch nur eine entscheidende Veränderung in Bezug auf den Wettkampfkalender und die Konzeption der Wettkampfveranstaltungen selbst beschlossen worden wäre. Die Technische Kommission hat sich ebenfalls über Jahrzehnte mit allen Für und Wider auseinandergesetzt und hat lediglich bewirkt, dass das Regelbuch um einige paar Seiten dicker geworden ist. Die Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen tauschen sich über Absichtserklärungen aus, die fast immer wirkungslos bleiben.

All dies wird hinter vorgehaltener Hand von vielen beklagt. Council-Mitglieder kritisieren diesen Sachverhalt ohne zu merken, dass sie dabei zunächst und vor allem sich selbst zu kritisieren haben. Präsidenten von Mitgliedsverbänden diskreditieren die IAAF, ohne auch nur ein einziges Mal die entsprechende Kritik gegenüber dem Präsidenten direkt vorgetragen zu haben. Manager von Athleten bringen egoistische Kritik vor, tragen egoistische Eigeninteressen an den Verband heran und auch die aktiven Leichtathleten beteiligen sich aggressiv an dieser Kritik. Auch für solch ein Verhalten gibt es Ursachen und sie sind ebenfalls durch die Strukturen der Sportorganisationen bedingt. Gemäß ihrer Satzung basieren Sportorganisationen auf einem demokratischen Delegierungsprinzip. Sportorganisationen sind Organisationen mit vertraglich vereinbarten Mitgliedschaften, jedes Mitglied hat seine Rechte und Pflichten und dazu gehört vor allem die Möglichkeit, sich in allen entscheidenden Fragen, die die Sportart betreffen, über Anträge einbringen zu können, die in den entsprechenden Institutionen der Organisationen zu diskutieren und zu entscheiden sind. Genau dieses demokratische Delegierungsprinzip ist in den Sportorganisationen längst erstarrt. Das dreistufige Prinzip der Antragstellung, Diskussion und der Entscheidung, das Bemühen um Mehrheiten bei Abstimmungen über eine argumentative Überzeugungsarbeit ist in den Sportorganisationen weitestgehend verloren gegangen. Die politische Diskussion in den Gremien hat meist einen ritualisierten Charakter. Die Abstimmungen sind ritualisierte Verfahren. All dies hat dazu geführt, dass die Mitglieder apathisch sind gegenüber ihren institutionellen Gremien, dass die Hinterbühne die wichtigere Bühne als die Vorderbühne geworden ist, dass Klatsch und Tratsch sehr entscheidungsrelevante Diskussionsformen geworden sind. Es hat vor allem aber auch dazu geführt, dass man zu den eigentlichen Entscheidungen nicht kommt, da sich alle auf die anderen verlassen, es diese anderen jedoch nicht gibt.

Mein Versuch einer Analyse mag unzureichend sein. Manche werden ihn als unsachlich empfinden. Einiges müsste hinzugefügt werden und der eine oder andere Punkt bedarf der Diskussion. Wer sich jedoch ernsthaft mit der Sportart Leichtathletik in ihrer aktuellen Verfasstheit auseinandersetzen möchte, der es gut meint mit der Leichtathletik, wer sich nicht begnügt, dass er sich mit rhetorischen Floskeln über die Leichtathletik als Schulsportart austauscht, von der olympischen Königin spricht und sie völlig unberechtigt als Weltsportart Nummer Eins bewertet, wer also nicht bereit ist, sich ideologisch blenden zu lassen, der sollte sich zumindest einer öffentlichen Diskussion über die Zukunft der Leichtathletik stellen und er sollte die Frage nach der Verantwortung für die weitere Entwicklung der Leichtathletik beantworten. Die heutige Situation zeichnet sich durch Verantwortungslosigkeit aus. Dies ist fatal und genau darin liegt auch der Schlüssel zur Lösung des Problems. Die Leichtathletik benötigt dringend Entscheidungen, die auf der Grundlage von Kritik und konstruktiven Vorschlägen gefasst wurden. Meine kritische Diskussion über die aktuelle Situation der Leichtathletik möchte ich deshalb abschließend noch in einen konstruktiven Rahmen einbinden.

Leichtathletik war und ist ein Faszinosum. Faszinierend ist Leichtathletik dann, wenn sich die Athleten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Zuschauern befinden, wenn der Zuschauer fokussiert ist auf die sportliche Spitzenleistung, auf das Duell, auf den Wettkampf, auf die Ästhetik der Handlungen, auf die spektakuläre Aktion, kurz: Auf die Aktions- und Präsentationsleistungen des Wettkämpfers. Sucht man nach einer Lösung des hier angesprochenen Qualitätsproblems, hat man sich dieses besondere Merkmal immer vor Augen zu halten. Leichtathletik bietet pure Leistung. Diese Leistungen sind für den Zuschauer selbst nachvollziehbare Leistungen. Der Leistungsvollzug sollte nicht verfälscht sein oder durch Umweltereignisse beeinträchtigt werden, die den eigentlichen Vollzug der sportlichen Leistung nur stören. Deshalb ist es so wichtig, dass bei allen modernen Präsentationsformen die über die Leichtathletik zur Diskussion stehen im Zentrum die pure Aktion des Wettkämpfers zu stehen hat, die weder von Musik noch von sonstigen begleitenden Maßnahmen in Frage gestellt wird.

Ein zweites Prinzip, das zu beachten ist, zielt auf die Idee des Wettkampfs. Der Fokus des Zuschauers sollte immer nur auf einen Wettkampf gerichtet sein, auf die Auseinandersetzung von einer begrenzten Zahl von Finalisten in einer Disziplin. Während dieses Wettkampfs sollte keine andere Aktivität stattfinden.

  • Die Reihenfolge der verschiedenen Wettkämpfe sollte einer speziellen Dramaturgie unterliegen.
  • Die Pausen zwischen den Wettkämpfen sind möglichst kurz zu halten.
  • Die einzelnen Wettkämpfe bedürfen einer exakten zeitlichen Vereinbarung.
  • Hierzu bedarf es einer Reduzierung der Einzelaktionen der Athleten in den meisten leichtathletischen Disziplinen.
  • Die Zeiträume zwischen den Versuchen der einzelnen Athleten sind zu reduzieren.
  • Die Dauer eines Leichtathletikwettkampfs ist auf einen Zeitraum von maximal zwei Stunden zu reduzieren.
  • Dabei sollte sie in ein Gesamtprogramm eingebunden sein, das heißt es muss ein Vor- und Nachprogramm geben.
  • Die einzelnen Disziplinen bedürfen einer neuen Sichtbarkeit.
  • Dazu sind neue Formen der Präsentation zu suchen.
  • Hebebühnen sind dabei zur Anwendung zu bringen.
  • Auch über neue Laufdistanzen ist nachzudenken.
  • So wie sich der Fußball um eine neue Zukunft seiner Fußballarenen gekümmert hat, so muss sich die Weltleichtathletik eine neue Leichtathletikarena schaffen, das heißt Architekten haben sich mit den Bedürfnissen der zukünftigen Zuschauerinteressen auseinanderzusetzen.
  • Grundsätzlich bedeutet dies alles, dass jede einzelne Disziplin einem Regelreformprozess zu unterwerfen ist.

Verfasst: 11.04.2008