Die Olympische Bewegung und ihre Menschenrechtsverantwortung

Die Olympische Bewegung im Spiegel der Menschenrechte

Folgt man der Charta des Internationalen Olympischen Komitees, so ist der Olympismus eine Sicht des Lebens, die in ausgewogener Ganzheit körperliche, willensmäßige und geistige Fähigkeiten miteinander vereint. Indem er den Sport mit Kultur und Erziehung verbindet, ist der Olympismus darauf gerichtet, eine Lebensweise herbeizuführen, die auf die Freude am körperlichen Einsatz, auf den erzieherischen Wert des guten Beispiels und auf die Achtung fundamentaler und universell gültiger ethischer Prinzipien gegründet ist. Ziel des Olympismus ist es, den Sport überall in der Welt zugunsten einer harmonischen Entwicklung des Menschen dienstbar zu machen, um so der Schaffung einer friedliebenden Gesellschaft förderlich zu sein, die sich der Bewahrung der Menschenwürde verpflichtet fühlt.

Zu diesem Zweck beteiligt sich die Olympische Bewegung alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten an Aktionen zur Förderung des Friedens. In der olympischen Charta werden die Ziele festgelegt, die aus dem modernen Olympismus resultieren und die die Olympische Bewegung anzustreben hat.

Die Olympische Bewegung setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zum Aufbau einer friedlichen und besseren Welt zu leisten, indem sie die Jugend mit Hilfe des Sports erzieht. In jeder olympischen Sportart wird dabei auf jede Form der Diskriminierung verzichtet und sie wird im olympischen Geist ausgeübt, d.h. im Mittelpunkt stehen das gegenseitige Verstehen und der Geist der Freundschaft, der Solidarität und des Fair Play. Das Wirken der Olympischen Bewegung ist weltumspannend und auf Dauer angelegt. Die sportliche Betätigung ist gemäß der Charta des IOC ein Menschenrecht – jeder Mensch muss die Möglichkeit haben nach seinen Bedürfnissen Sport zu treiben.

In den grundlegenden Prinzipien des IOCs, die in seiner Charta niedergelegt sind, wird somit auf dreifache Weise zur Thematik der Menschenrechte Bezug genommen. Der Olympismus ist zum Ersten auf die Bewahrung der Menschenwürde ausgerichtet; er verpflichtet sich zur Bewahrung dieser Menschenwürde. Zum Zweiten verpflichtet sich die Olympische Bewegung jede Form der Diskriminierung zu bekämpfen. Zum Dritten nimmt die Charta direkten Bezug zur Charta der Menschenrechte, indem sie den Sport selbst und die sportliche Betätigung als ein Menschenrecht definiert, was besagt, dass jedem Menschen ermöglicht werden muss nach seinen Bedürfnissen Sport zu treiben.

Auf der Grundlage der Olympischen Charta ist es somit naheliegend, dass die Frage gestellt werden muss, welche Rolle die Olympische Bewegung für die Durchsetzung der Menschenrechte in der Vergangenheit gespielt hat und inwiefern die Olympische Bewegung von heute in Bezug auf die Durchsetzung der Menschenrechte eine besondere Verantwortung und einen besonderen Auftrag zu erfüllen hat.

Will man diese Frage prüfen, so hat man zunächst einmal die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen zu beachten, das heißt man hat jene Menschenrechte in den Blick zu nehmen, deren Durchsetzung weltweit erwünscht sind. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, welche Werte von der Olympischen Bewegung selbst postuliert werden, welche Werte bei den Olympischen Spielen zum Ausdruck gebracht werden, welche Werte von den Athletinnen und Athleten und von den Offiziellen des Sports gelebt werden. In einem dritten Schritt lässt sich dann die Frage beantworten, inwieweit die Wertestruktur des modernen Olympismus einen Beitrag zur nachhaltigen Absicherung der Menschenrechte darstellen kann und inwiefern der Sport einen Beitrag zur Durchsetzung der Menschenrechte erbringt.

Die Deklaration der Menschenrechte

Die Deklaration der Menschenrechte wie sie im Dezember 1948 bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, kann auf eine lange Vorgeschichte verweisen, sie ist eng mit den Ideen des Humanismus und der Aufklärung verbunden. Universalität, Egalität und Unteilbarkeit sind ihre zentralen Merkmale.

Für das Merkmal der Universalität ist die Anerkennung der Menschenrechte und deren Gültigkeit für alle Menschen erforderlich – jeder Mensch muss also verpflichtet sein, die Menschenrechte seiner Mitmenschen zu respektieren.

Das Prinzip der Egalität verweist auf den Gleichheitsgrundsatz, nach dem jeder Mensch vor dem Gesetz gleich ist. Es darf also niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat, seiner Herkunft, seiner Religion oder wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Das Prinzip der Gleichheit geht so mit dem Prinzip der Gleichberechtigung einher. Neben dem Grundsatz der Universalität der Menschenrechte zielt das dritte Merkmal darauf, dass Menschenrechte stets in ihrer Gesamtheit verwirklicht sein müssen. Sie sind deshalb unteilbar.

Die Wurzeln der Menschenrechtsgeschichte reichen zurück in die Antike. Die Bibel mit ihrer Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen bildet eine historische Grundlage. Auch der Koran dient hierbei als wichtige Quelle. Die eigentliche Idee der Menschenrechte und deren staatliche Umsetzung wurden jedoch vor allem in der Aufklärung geprägt. Philosophen wie John Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Emanuel Kant sind dabei von besonderer Bedeutung. Der Katalog der Menschenrechte zeichnet sich durch eine besondere Hierarchie und Axiomatik aus. Die Würde des Menschen ist dabei grundlegend – aus ihr können alle weiteren Werte abgeleitet werden.

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung am 10. Dezember 1948 in New York umfasste bereits 30 Menschenrechte. Dazu gehören u.a.:

  • Menschenwürde,
  • Geltung der Rechte für alle Menschen in allen Ländern und Gebieten unabhängig von ihrer internationalen Stellung,
  • Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit,
  • Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft,
  • Verbot der Folter oder grausamer unmenschlicher Behandlung,
  • Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson,
  • Gleichheit vor dem Gesetz,
  • Anspruch auf Rechtsschutz,
  • Verbot der willkürlichen Verhaftung oder Ausweisung,
  • Anspruch auf öffentliches Verfahren vor einer unabhängigen Rechtsinstanz,
  • Rechtsstaatliche Garantien,
  • Unschuldsvermutung,
  • Keine Strafe ohne Gesetz,
  • Schutz der Privatsphäre,
  • Recht auf Freizügigkeit national und international,
  • Asylrecht,
  • Recht auf Staatsangehörigkeit,
  • Recht auf Eheschließung,
  • Schutz der Familie,
  • Recht auf Eigentum,
  • Religionsfreiheit,
  • Recht der freien Meinungsäußerung,
  • Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,
  • Recht an der Gestaltung der öffentlichen Ordnung mitzuwirken,
  • Recht auf soziale Sicherheit und Nahrung,
  • Recht auf bezahlte Arbeit, gleichen Lohn und gleichwertiger Arbeit,
  • Anspruch auf Erholung, Freizeit und bezahlten Urlaub,
  • Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung,
  • Anspruch auf Sicherheit bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Individualität, Verwitwung und Alter,
  • Schutz für Mütter und Kinder,
  • Recht auf Bildung, Ausbildung.

Schließlich werden in der Menschenrechtserklärung die kollektiven Rechte der Völker akzentuiert, in dem in Artikel 28 gefordert wird: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung in der die, in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten verwirklicht werden können.“ Erst im Jahr 2010 ist der Anspruch auf sauberes Wasser zum Menschenrecht erhoben und im Katalog der Menschenrechte hinzugefügt wurden. Es ist somit dieser Katalog von aktuell gültigen Menschenrechten, die wir aus der Perspektive des Sports auf den Prüfstand zu stellen haben, wollen wir eine Antwort auf unser zu lösendes Problem finden.

Die Deklaration als Prüfstand für die Olympische Bewegung

In einem zweiten Schritt möchte ich deshalb nun die ethische Qualität der Olympischen Bewegung etwas genauer betrachten und dabei alle Werte kennzeichnen, die den Geist des Sports prägen und gemäß der Ideen des in Schriften niedergelegten Olympismus kennzeichnen sollen. Es sind dabei zunächst drei Wertemuster zu erwähnen, die mittlerweile als Marketinginstrumente vom IOC eingesetzt werden und von denen das IOC davon ausgeht, dass sie am besten die ethische Qualität des Olympismus kennzeichnen.

Excellence, Friendship und Respect sind demnach die universellen Prinzipien, in denen die besondere pädagogische Bedeutung des Olympismus liegt. Der Begriff „Exzellenz“ verweist auf das leitende Handlungsprinzip des olympischen Sports. Jeder Athlet hat sein Bestes zu geben, sowohl beim Wettkampf als auch im Leben, er hat teilzunehmen am Wettkampf und am Leben und er ist bemüht sich selbst zu verbessern, sich selbst Ziele zu setzen.

Freundschaft verweist auf den verbindenden Charakter des sportlichen Wettkampfes, dieser zeichnet sich durch das gegenseitige Verstehen der Partner aus, trotz aller Differenzen die aus naheliegenden Gründen bestehen.

Respekt kommt in der Maxime des Fair Plays zum Ausdruck. Der Athlet muss die eigenen Grenzen kennen, er muss seine eigene Gesundheit beachten aber auch die seiner Gegner und er hat Verantwortung für seine Umwelt.

In meinen eigenen Beobachtungen des olympischen Sports, bei meinem eigenen Handeln in verschiedenen olympischen Sportarten und bei meinem Studium über die Werte des Sports hat sich ergeben, dass die Liste der Werte die den olympischen Sport prägen können zunächst und vor allem vom Prinzip des Fair Play angeführt wird. Dieses Prinzip ist konstitutiv für das System des modernen Sports. Wird es missachtet, so gefährdet sich der Sport selbst.

Eng verbunden mit diesem Prinzip ist der Wert der Menschenwürde. Die eigene Unversehrtheit und die Unversehrtheit des Gegners sind notwendige Bedingungen, dass der olympische Sport erzieherische Funktionen haben kann, dass der Olympischen Bewegung eine pädagogische Qualität zukommt, dass der Olympismus als ein Kulturgut betrachtet werden kann.

Alle weiteren Werte sind gewiss nicht weniger bedeutsam, dennoch möchte ich sie in Relation zu den beiden genannten Maximen als nachgeordnet einordnen. Für mich sind folgende Werte dabei beachtenswert: Respekt vor den Anderen, das Beste leisten, Teamarbeit, Freude, harte Arbeit, Selbstdisziplin, Selbstwertschätzung, Offenheit gegenüber Menschen, anderer Ethnien und Rassen, Geduld, Mut zu Neuem, Solidarität, Offenheit gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, Wetteifer, Siegeswille.

Das Wertesystem, das dem Olympismus zur Verfügung steht, das ihn unter ethischen Gesichtspunkten entscheidend prägen könnte und unter pädagogischen Gesichtspunkten als überaus bedeutsam erscheinen lässt, ist durchaus beachtenswert. Doch so wie es den Vereinten Nationen bis heute nur sehr begrenzt gelungen ist die Menschenrechte weltweit durchzusetzen, so scheint auch der olympische Sport seine Probleme zu haben, die von ihm selbst postulierten Werte in der Praxis zu schützen, ihre Wirksamkeit zu ermöglichen und in einer globalen Welt des olympischen Sports durchzusetzen.

Prüfen wir nun die Frage inwiefern in der Welt des Olympismus die Menschenrechte eine besondere Heimat haben und das IOC als ein Hüter der Menschenrechte zu betrachten ist, so ist die Bilanz keineswegs so negativ, wie dies in der öffentlichen Meinung häufig vermutet und behauptet wird. Wer bei den Olympischen Spielen die teilnehmenden Athleten, die Kampfrichter, die Funktionäre, die Journalisten, die Zuschauer und im weitesten Sinne die olympische Öffentlichkeit beobachtet, wie sie sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen in einer Stadt zusammengefunden haben, um die Olympischen Spiele gemeinsam zu feiern, der wird erkennen, dass sich die geforderten Persönlichkeitsrechte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Olympischen Spiele befinden und die Olympische Bewegung bemüht ist, den Persönlichkeitsrechten der Menschen eine größtmögliche Freiheit zu gewähren. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit von willkürlichen Eingriffen in die Privatsphäre, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Schutz vor Folter werden immer dann relevanter Inhalt olympischer Politik, wenn die jeweiligen Rechte für die Olympische Bewegung beeinträchtigt sind. Immer wieder sind dabei einzelne Freiheiten in Frage gestellt, so zum Beispiel die Meinungs- und Reisefreiheit oder die Versammlungs- und Informationsfreiheit, dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass das IOC kontinuierlich bemüht ist, diesen Freiheiten zu ihren Rechten zu verhelfen. Das Recht auf Selbstbestimmung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben sind nicht weniger bedeutsame Rechte, für die sich das IOC einsetzt. Betrachten wir den Katalog der Menschenrechte in seiner Gesamtheit, so kann für das IOC durchaus behauptet werden, dass in ihm eine nachhaltige Unterstützung der Menschenrechte eines jener programmatischen Ziele ist, denen sich die Olympische Bewegung vorrangig verpflichtet fühlt.

Die Werte der Olympischen Bewegung im Spiegel der olympischen Praxis

Weniger positiv für die Olympische Bewegung ist die Situation ihres eigenen Wertesystems zu beurteilen, wenn man in Bezug auf dieses System dieselben Beobachtungen durchführt, wie man sie für die Beachtung der Menschenrechte versucht hat. Erinnern wir uns an die Olympischen Spiele von London, Peking oder Rio de Janeiro. Beobachten wir dabei den Zeitraum der Spiele von der Eröffnungs- bis zur Schlussfeier jeweils aus der Perspektive der Athleten, Trainer, Kampfrichter, Funktionäre, Journalisten, Zuschauer und der beteiligten Öffentlichkeit, so müssen wir erkennen, dass die Mehrzahl der postulierten Werte in der Praxis des Olympismus in Frage gestellt sind, dass teilweise anstelle von Werten Unwerte treten können und dass insbesondere die grundlegenden Werte, das Prinzip des Fair Play und das Prinzip der Unversehrtheit der Menschenwürde, in gravierender Weise verletzt werden.

Beobachten wir die Realität des Sports in Bezug auf seine Werte, so können wir wohl zunächst feststellen, dass sie nach wie vor von vielen Athletinnen und Athleten in ihrer Bedeutsamkeit erkannt werden, dass sie für deren Handeln bestimmend sind und dass man in Bezug auf deren Realisierung von einer erfolgreichen Praxis sprechen kann. Gleichzeitig müssen wir aber auch erkennen, dass immer häufiger das Gegenteil der Fall ist: Athleten zeigen keinen Respekt gegenüber den Regeln, lügen wenn sie beim Betrug erwischt werden, sie bedienen sich unerlaubter Substanzen und Methoden, um einen Leistungsvorteil gegenüber den Gegnern zu erreichen. Im Training und im sportlichen Wettkampf werden Risiken eingegangen, die die Gesundheit gefährden, Schmerzen werden gedämpft, die natürlichen Warnsignale des Körpers werden bewusst außer Kraft gesetzt. Aggressive Handlungen stellen Spaß und Freude in Frage, anstelle von Teamwork ist Egoismus zu beobachten, Schiedsrichter werden beleidigt, Gegenspieler werden verbal und handgreiflich attackiert, Betrüger werden gedeckt, Feigheit verhindert die Wahrheit, rassistische und ethnische Ausgrenzung stellt den Wert der Freundschaft in Frage. Anstelle von Fair Play ist viel zu oft Betrug, Manipulation und Korruption zu beobachten, anstelle von Respekt gibt es die Missachtung des Gegners, Teamarbeit wird durch Egoismus konterkariert, Freude durch überzogene Ernsthaftigkeit, Selbstwertschätzung wird durch Selbstmissachtung gefährdet, Geduld wird von Ungeduld abgelöst, der Mut zu Neuem wird immer kleiner und die Solidarität untereinander scheint ein Fremdwort zu sein.

Wer Ohren hat zu hören, wer Augen hat zu sehen, für den ist es offensichtlich, dass die olympischen Werte nicht nur während der Olympischen Spiele, sondern in allen Erscheinungsformen des modernen Sports bedroht sind. Es stellt sich die Frage nach dem Ausmaß dieser Bedrohung. Es stellt sich nicht nur die Frage, ob und wie sich dies in den letzten Jahren verändert hat. Hinterfragt werden muss auch, welche Gruppen in den verschiedenen Sportverbänden von dieser Bedrohung besonders intensiv betroffen sind. Die Unterscheidung nach Sportarten und die Unterscheidung nach Geschlechtern sind dabei notwendig. Betrachten wir die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesen Fragen, so kann man zusammenfassend resümieren: die olympischen Werte sind entschiedener und gravierender bedroht als dies je zuvor der Fall war. Die Suche nach den Ursachen ist zwingend erforderlich. Ein neues Engagement zugunsten von tragfähigen Problemlösungen ist dringend erwünscht.

Stimmen diese Beobachtungen, so ist die Rolle, die der olympische Sport für den Erhalt und die Durchsetzung der Menschenrechte spielt und spielen kann in vielerlei Hinsicht beeinträchtigt, ja sie ist in Gefahr. Der Sport, so scheint es, verliert seine ethische Qualität, er verliert sein eigenes Fundament, seine Beziehung zu den Menschenrechten wird dabei unglaubwürdig, seine gesellschaftspolitische Bedeutung wird dadurch gemindert. Der Prozess, in dem sich der olympische Sport derzeit befindet, scheint von einer Transformation geprägt zu sein, in der der olympische Sport als erzieherisches Gegenbild zu den Problemen der modernen Gesellschaft immer mehr zum Abbild dieser Gesellschaft wird.

Wo liegen heute die größten Gefahren?

Nicht alle Werte sind gleichermaßen bedroht. Die Werte des Sports lassen sich hierarchisch ordnen. Im System des Sports spielen dabei das Prinzip des Fair Play und die Unversehrtheit der Athletinnen und Athleten die wohl wichtigsten Rollen. Beide sind heute am stärksten bedroht und die größte Gefahr ist darin zu sehen, wie verantwortungslos in der Welt des Sports mit diesen Prinzipien umgegangen wird. Der Idee des Fair Play wurde angesichts des Wettkampfbetruges schon seit längerer Zeit ein irreparabler Schaden zugefügt. Unteranderem kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass sportliche Höchstleistungen wohl begeistert wahrgenommen werden, dass sie nach wie vor einen hohen Unterhaltungswert haben und auf diese Weise die Medien und die Wirtschaft an den Sport gebunden werden. Gleichzeitig steht heute jedoch jede sportliche Spitzenleistung unter dem Verdacht des Betruges. Die Zweifel an Resultaten, Siegern und teilweise gegenüber ganzen Sportarten sind in einem Ausmaß angestiegen, wie dies noch nie zuvor in der Geschichte des modernen Sports der Fall war.

Dabei ist eine paradoxe Situation eingetreten. Die Zweifel der Zuschauer gegenüber sportlichen Höchstleistungen führen nur ganz selten zur deren Abwanderung. Eher ist das Gegenteil der Fall: Die wachsenden Zweifel werden zu einem konstitutiven Teil des Sportsystems. Sie sind ein Teil der Unterhaltungsqualität des Sports geworden.

Beschädigt wird auf diese Weise lediglich der saubere Athlet, der nicht selten vor der Entscheidung steht, dem Vorbild des Betruges zu folgen, um weiter an den sportlichen Wettkämpfen teilzunehmen. Hält er an seiner Haltung des fairen Wettkampfes fest, so ist er chancenlos. Auf diese Weise ist der moderne Hochleistungssport längst zur Falle für alle Athleten geworden, die sich dem Prinzip des Fair Play verpflichtet haben. Nicht nur das Fair Play Prinzip wird dabei außer Kraft gesetzt, in Bezug auf die Unversehrtheit des Athleten wird in dieser neuen Logik des Hochleistungssports alles in Kauf genommen, was der spektakulären Leistung nützt. Schmerzen werden still gestellt, leistungssteigernde Substanzen werden eingenommen, auch dann wenn man weiß, dass sie mittel- und langfristig der Gesundheit schaden. Selbst das Todesrisiko wird in Kauf genommen. Es ist eine Totalität der Siegesmentalität zu erkennen.

Ist der Sport an sich bedroht, stellt sich für ihn die Überlebensfrage?

Die Bedrohung des Sports durch Regelverstöße, Korruption, Manipulation und Lüge ist mehr als offensichtlich. Der Sport ist dadurch allerdings keineswegs im Sinne einer Überlebensfrage gefordert. Existenziell ist die Bedrohung für den Sport nach wie vor nicht.

Im Gegenteil: dem Sport ist es gelungen seine Regelverletzungen gesellschaftsfähig zu machen. Dabei ist ein interessanter Prozess zu beobachten. Der moderne Sport hat sich über mehr als 200 Jahre über seinen Eigenweltcharakter als ein besonderes Kulturgut definiert, das sich durch eine bedeutsame pädagogische Qualität auszeichnet. Vor dem Hintergrund der vereinbarten und schriftlich niedergelegten Regeln, seiner konstitutiven Prinzipien und übergeordneten Maximen konnte der Sport als eine Sonderwelt gedeutet werden, in der Vieles nicht erlaubt, was in der Gesellschaft üblich geworden ist. Seit mehreren Jahrzehnten befindet sich nunmehr der moderne Sport in einem Transformationsprozess, in dem sich vor allem seine Identität verändert. Er wird immer häufiger zum Abbild der Gesellschaft. Seinen Sonderstatus gibt er auf. Seine Anschlussfähigkeit für die Massenmedien, für die Wirtschaft, für den Staat und für andere gesellschaftliche Teilsysteme wird dadurch jedoch erhalten, teilweise sogar erhöht. Die von den Hütern des Fair Play beklagten Regel- und Werteverletzungen werden auf diese Weise folgenlos. Im Sport werden Korruptionsfälle, Manipulationen der sportlichen Leistung, Schmerzmanipulation, Wettbetrug und Lügen auf dieselbe Weise folgenlos wie dies auch in der Gesellschaft der Fall ist. Erst wenn in der Gesellschaft selbst ein Umdenken stattfinden würde und damit auch ein neues engagiertes Handeln gegen die Verletzung der Werte belohnt würde, könnte von einer Bedrohung des Sports die Rede sein. In der heutigen Situation kann der Sport von seinem umfassenden Regelverstoß eher profitieren, als dass er ihm schadet.

Wer steht in der Verantwortung?

Die Frage nach der Verantwortung ist somit nicht nur bezogen auf den Sport zu stellen, sie ist heute die wohl wichtigste gesellschaftliche Frage angesichts einer umgreifenden Verantwortungslosigkeit. Niemand möchte mehr Verantwortung für die Probleme in unserer Gesellschaft übernehmen. Wir können ein allgemeines Wegschauen beobachten. Man weiß wohl um die Probleme, aber man möchte sich nicht darum kümmern. Der kleine Mann beklagt dabei seine Hilflosigkeit und der große Mann spielt das Schwarzer-Peter-Spiel. Verantwortung wird immer vom anderen erwartet und für die eigene Flucht aus der Verantwortung gibt es genügend gute Gründe.

Auf diese Weise können sich Funktionäre, die sich selbst bereichert haben, Entscheidungen manipuliert und der Lüge überführt sind, dennoch ihrer Wiederwahl sicher sein. In kriminellen Netzwerken können Milliardengewinne erwirtschaftet werden. Athleten können mit ihren Betreuern und ihrer Entourage das Dopingkontrollsystem unterlaufen, Spiele können auch weiterhin manipuliert werden, Wettbetrug wird zum Kavaliersdelikt und niemand nimmt Anstoß daran, wenn des Dopings überführte Athleten als Vorbild für die Jugend auftreten. Eine Folge dieser Situation ist, dass sich der Betrug mit Ausnahme der sauberen Athleten für alle übrigen Beteiligten lohnt.

Dabei ist die Frage wer in der Verantwortung steht relativ einfach zu beantworten. Gefordert sind die Athleten selbst, die bis heute nichts zum Schutz ihrer eigenen Sache tun, gefordert sind die Trainer, für die es eine Beleidigung sein müsste, wenn die Athleten ihre Leistung mit Medikamenten manipulieren, gefordert sind die Funktionäre, die darüber zu wachen haben, dass die vereinbarten Regeln eingehalten werden. Gefordert sind auch die Medien und die Wirtschaft. Nicht zuletzt ist die Politik gefordert. All jene, die sich an den sportlichen Leistungen erfreuen, stehen somit gemeinsam in der Verantwortung. Dies gilt auch für die Zuschauer und für die Öffentlichkeit.

Was können Sportler, Funktionäre, Journalisten, Manager, Sponsoren und Politiker tun?

Angesichts des beschriebenen Transformationsprozesses, angesichts der äußerst erfolgreichen Entwicklung des modernen Sports, angesichts der ökonomischen Gewinne, die mit dem Hochleistungssport zu erzielen sind, sind Veränderungen, die darauf ausgerichtet sind den Sport neu zu justieren, ihn hinzuführen zu jener ethischen und moralischen Qualität, die unter pädagogischen Gesichtspunkten erwünscht wäre, mit großen Schwierigkeiten verbunden. Jeder der Beteiligten steht dabei vor einer schwierigen Weichenstellung. Entscheidet sich der Sportler für die saubere Leistung, so hat er damit zu rechnen, dass die Nachteile zunächst überwiegen werden. Entscheidet sich der Funktionär für ein Engagement zugunsten der sauberen Athleten, besteht die Gefahr, dass unter ökonomischen Gesichtspunkten Verluste eintreten werden. Setzen sich Journalisten für den fairen Sport ein, so kann dies zu Lasten des Spektakels gehen. Manager, die sich einem sauberen Sport verpflichten, werden vermutlich Einkommensverluste hinnehmen müssen. Gleiches gilt für Sponsoren, denen die spektakulären Höchstleistungen möglicherweise vorenthalten werden. Schließlich wird sich die Politik nur noch bedingt mittels sportlicher Spitzenereignisse national repräsentieren können. Ein sowohl-als-auch wird es bei dieser Weichenstellung nicht geben. Ja oder Nein lautet die Frage und jeder Einzelne ist dabei gefordert. Verantwortung lässt sich in solchen existenziellen Fragen nicht übertragen. Jeder Einzelne von uns ist in seinem Verantwortungsbereich gefordert und es wäre wünschenswert, wenn jeder von uns sein Handeln im Sport zu legitimieren hätte. In der Kommunikation über die Legitimationen wird deshalb die wohl wichtigste Chance für die Weiterentwicklung des Sports liegen. Entscheidend wird aber auch sein, dass sich jeder von uns in seinem Verantwortungsbereich den gefährlichen Herausforderungen stellt.

Korruption, Bestechung, Wettbetrug, Geldwäsche, Doping, Spielmanipulation, Ergebnisabsprachen, Gewalt und Aggression, ungleiche Bezahlung, Wahlmanipulation, Stimmenkauf, Manipulation bei der Vergabe von internationalen Meisterschaften, Erpressung, Nötigung, ungleiche Sportgeräte, Altersmanipulation, Geschlechtsmanipulation, Spionage, finanzielle Unregelmäßigkeiten, unerlaubte Technologien und Transfer jugendlicher Athleten bedrohen dabei die Integrität des Sports. (Vgl. Abb. 1)

Abb. 1: Die Bedrohung der Integrität des Sports

Aber auch die zunehmende Inklusion in einzelnen Sportarten, die nahezu schrankenlose Kommerzialisierung, die kritiklose Medaillen-Zählerei, der wachsende Nationalismus, das Siegen um jeden Preis, die wachsende Ungleichheit zwischen den teilnehmenden Nationen und nicht zuletzt die Gefährdung des Olympischen Friedens (Truce) sind Herausforderungen, denen man sich nicht mehr entziehen kann. Ähnlich wie in Fragen der politischen Verantwortung für politisches Unrecht ist die Übernahme konkreter Verantwortung für den Hochleistungssport eine besondere Herausforderung.

Wir neigen dabei zu der Haltung Verantwortung individualistisch zu denken. Der Einzelne trägt demnach Verantwortung für das, was ihm eindeutig zugerechnet werden kann, nicht für das was andere tun. Die Bedrohungen des Sports haben jedoch ein Ausmaß und eine Form, dass auch von einer Kollektivverantwortung gesprochen werden muss. Was leider aber zur Folge hatte, dass sich niemand verantwortlich fühlte und auch niemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Ich vertrete dabei die Ansicht, dass wir wohl das Kollektiv als Handlungssubjekt ernst zu nehmen haben, das Individuum aber dennoch in Fragen der Verantwortung zentral gefordert ist. Verantwortung im Sport ist nicht delegierbar. Jeder von uns ist in seinem Verantwortungsbereich gefordert.

letzte Überarbeitung: 26.03.2018