Als Peking vor zwei Jahren nahezu im Alleingang den Zuschlag zur Durchführung der Olympischen Winterspiele im Jahr 2022 erhalten hat, wurde dies von der sportlichen Weltöffentlichkeit lediglich zur Kenntnis genommen. Sportliche Großereignisse in China sind längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden und wo immer China sich um ein wichtiges Ereignis beworben hat, war es sich seiner Sache sicher. Experten aus verschiedenen olympischen Wintersportarten waren hingegen eher verunsichert und stellten sich die Frage, wie es möglich ist, dass Olympische Spiele in einem Land stattfinden werden, in dem der Schneesport bis heute nahezu unbekannt ist. Bislang waren chinesische Athletinnen und Athleten bei Olympischen Winterspielen allenfalls Exoten und nur in ganz wenigen Disziplinen waren sie in der Lage sich mit den Besten der Welt zu messen. Ein Blick auf die Weltranglisten im Jahr 2017 macht dies deutlich. Lediglich in den Disziplinen Eiskunstlauf, Freestyle-Skiing, Shorttrack, Snowboard und Eisschnelllauf sind chinesische Sportler in den Top 20 vertreten, teilweise auch auf Podest-Plätzen. In allen anderen Disziplinen hingegen lassen sich Athleten aus China in den Ranglisten erst ab Platz 40 finden – beim Ski Alpin, Bobfahren, Rodeln, in der Nordischen Kombination und beim Skeleton tauchen sie gar nicht erst auf.
Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation kann es kaum überraschen, dass zwei Jahre nach der gewonnenen Bewerbung in China nun geradezu eine organisierte Unruhe entstanden ist. Selbst bei der Jahresversammlung des Nationalen Komitees der kommunistischen Partei im Februar 2017 in Peking wurde den Olympischen Winterspielen eine eigene Session gewidmet. Staatspräsident Xi Jinping hat das Gelingen der Olympischen Winterspiele als eine nationale Herausforderung deklariert, an der sich alle Chinesen zu beteiligen haben. Zwölf Goldmedaillen ist sein anspruchsvolles Ziel. Innerhalb von kürzester Zeit soll bei Millionen von Chinesen ein Interesse für den Wintersport hervorgerufen werden. Die Nationalversammlung beendete ihre Sitzung mit einem Aufruf an alle Ausbildungsstätten und Universitäten Chinas und an alle nationalen Manufakturen, sofort einen Beitrag zu leisten, um die große Kluft im Lande zu schließen, die in Bezug auf eine Wintersportexpertise zwischen Europa, USA und China besteht. Bereits im November 2016 wurde von der Generalverwaltung für Sport ein nationales Wintersport-Förderprogramm verabschiedet, das zum Ziel hat in 2000 Schulen bis zum Jahr 2020 das Skilaufen und das Eiskunstlaufen als Schulsport einzuführen. Hierzu werden gut ausgebildete Spezialisten benötigt. Das Training von Instruktoren muss deshalb höchste Priorität erhalten. In dem Wintersport-Entwicklungshandbuch der Generalverwaltung wird als Ziel die Zahl von 300 Millionen Chinesen definiert, die bis zum Jahr 2022 in den Wintersport einzuführen sind. Selbst Superstar Liu Xiang, der Hürden-Olympiasieger Chinas, der auch Mitglied des Nationalen Komitees der kommunistischen Partei ist, hat sich verpflichtet, an diesem Programm mitzuwirken. Er forderte alle ehemaligen Leistungssportler auf, sich als Instruktoren für den Wintersport bereitzustellen. Der Aufruf der Nationalversammlung gipfelt in der Forderung möglichst schnell neue Wintersportanlagen für die Bevölkerung bereitzustellen. Beispielhaft wird dabei das Projekt der Taishan Sports Industry Group erwähnt. Sie hat ihren Sitz in Shandong und ist einer der führenden Sportgerätehersteller. Diese Firma hat ein Set von Wintersportausrüstung entwickelt. Es wird „ice and snow pack“ genannt. Es wurde unter Beratung schwedischer Experten entwickelt, ist mobil und kann schnell von einer Stadt in die andere transportiert werden. Es handelt sich dabei um eine kleine Eisbahn und einen Skisimulator, mit denen eine Einführung in das Eislaufen und in den Skilauf versucht wird. Bereits 100 Schulen in der Hebei-Provinz, in der die Olympischen Winterspiele außerhalb von Peking stattfinden haben sich um diese Ausrüstung beworben. In Peking selbst sind es derzeit 18 Pilotschulen, in denen im Sportunterricht als neuer Inhalt Schnee- und Eissportaktivitäten eingeführt werden. Noch in diesem Jahr sollen die Winterdisziplinen Pflichtinhalt aller Schulen Pekings werden. Von diesen Absichtserklärungen wird allerdings noch ein langer Weg zu gehen sein bis der Eis- und Schneesport die Freizeitkultur der Chinesen tatsächlich erreicht hat. Die Expertise ausländischer Experten, darunter auch vieler deutscher Experten, ist in China längst nachgefragt. Die Skilehrerausbildung ist ganz oben auf der Agenda und dennoch erscheint es als ein Unterfangen, dass in den wenigen Jahren bis 2022 der Wunsch des Staatspräsidenten in Erfüllung gehen kann. Fragt man die Studierenden an den zehn Sportuniversitäten Chinas und an den 100 Sportinstituten der Universität nach ihren Erfahrungen mit dem Wintersport, so ist allenfalls ein Schmunzeln die Antwort auf die vielen Fragen die sich dabei stellen. Rodeln ist ebenso unbekannt wie Bobfahren, Skeleton und Curling sind Fremdwörter, der alpine Skilauf war bislang allenfalls ein paar wenigen reichen privilegierten Chinesen vorbehalten. Von Wachs- und Materialkunde hat noch keiner der Studierenden etwas gehört. Das es unterschiedliche Schneearten gibt ist weitestgehend unbekannt. Von einem sachkundigen Publikum kann man bei diesen Winterspielen ganz gewiss nicht ausgehen, wenngleich der chinesische Sender CCTV fast täglich Erziehungsprogramme verbreitet, in denen man der Bevölkerung den Sinn der einzelnen Wintersportarten erläutert und die dabei notwendigen technischen Bedingungen dokumentiert. Die Olympischen Winterspiele werden dabei notwendigerweise eine äußerst künstliche Angelegenheit im Modernisierungsprozess Chinas darstellen.
Organisatorisch werden die Spiele ohne Zweifel gelingen. Sie werden einmal mehr der Welt zeigen zu was China in kurzer Zeit in der Lage ist. Ende 2019 soll die Hochgeschwindigkeitszugverbindung in die alpinen olympischen Cluster fertiggestellt sein, dann werden Peking und Zhangjiakou, die beiden Gastgeber der Olympischen Winterspiele miteinander verbunden und eines der schwierigsten Probleme dieser Spiele – das Transportproblem – nahezu gelöst sein. Die Fahrtzeit wird sich von drei Stunden auf 50 Minuten reduzieren. Pro Tag werden 170 Schnellzüge verkehren. Jeder Zug hat eine Kapazität von 1.200 Passagieren. 2022 werden 6.000 Personen pro Stunde transportiert. Im Nordbahnhof von Zhangjiakou wird es einen Anschluss zu einer weiteren Hochgeschwindigkeitsverbindung geben, die in Taizi-Cheng endet. Dort werden die olympischen Schneewettbewerbe stattfinden. Die Hochgeschwindigkeitszüge werden die schnellsten der Welt sein (350 km/h) und sie werden über neue Brücken führen, die selbst die Chinesen als „ground breaking“ bezeichnen. Die neuen Bahnhöfe werden bereits heute als architektonische Meisterwerke gelobt. Internationale Experten bauen die Rennpisten für die alpinen Skiläufer und mit der Unterstützung auch deutscher Experten wurde bereits mit dem Bau der Rodel- und Bobbahn begonnen. Die Sprungschanzen werden spektakulär sein. In Peking werden derzeit die Eissportanlagen erstellt bzw. werden Anlagen der Olympischen Sommerspiele aus dem Jahr 2008 umgebaut und zu Wintersportanlagen transformiert. Die Hotelkapazität wird erweitert und ohne Zweifel werden die olympischen Gäste im Jahr 2022 eine vergleichbare Gastfreundschaft wie im Jahr 2008 erleben. Die Wintersportindustrie wird blühen. Alpinskier werden ebenso begehrt sein wie Skistiefel und Wintersportbekleidung. Eishockeyausrüstung wird seinen eigenen Sportartikelmarkt finden, ebenso wie die Langlaufausrüstung. Dennoch bleibt ein Unbehagen zurück.
Die Eissportwettbewerbe finden in einer 25-Millionen-Metropole statt und sie werden vermutlich während der Spiele kaum zur Kenntnis genommen werden. Der Schneesport findet auf Kunstschnee in den Bergen statt, in denen es keine Wintersportkultur gibt. Die Olympischen Winterspiele des IOC werden bei diesen Spielen allenfalls ein gelungenes Medium der nationalen Strukturpolitik Chinas sein. Der arme Norden wird aufgrund der neuen Infrastrukturen an den reichen Süden herangeführt. Ein industrieller Sektor wird initiiert, der bislang nicht existierte.
Denkt man jedoch daran, dass diese Spiele in München, Garmisch-Partenkirchen, im Chiemgau, in Bayern und in Deutschland hätten stattfinden können, erinnert man sich an die Wintersportkultur Bayerns, vergleicht man wie vergleichsweise kostengünstig diese deutschen Winterspiele gewesen wären und welchen infrastrukturellen Nutzen sie Bayern gebracht hätten, so kann sogar Wehmut die Folge sein. Zumindest darf bezweifelt werden, ob die Zukunft der Olympischen Spiele in einer Entwicklungskonzeption zu suchen ist, wie sie derzeit in Peking und seiner Umgebung zu beobachten ist.
Verfasst: 27.03.2017