Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist es längst üblich geworden, die Olympischen Spiele und insbesondere das Internationale Olympische Komitee mit all dem Fernsehen zur Verfügung stehenden Mitteln infrage zu stellen. Jüngstes Beispiel war eine sogenannte ARD-Dokumentation zur besten Sendezeit an einem Sonntagabend im Mai dieses Jahres, in dem zwei Autoren (Kempe/Klees) eine ideologische Montage präsentierten, die an Einseitigkeit nicht zu übertreffen war.
Das IOC ist demnach eine Ansammlung von Menschen, die ihren autoritären Führer aus Deutschland mit devoten Danksagungen und Lobhudeleien zu würdigen weiß. Mit den immer gleichen und vielfach wiederholten Aufnahmen von Bach mit den Staatspräsidenten aus Russland und China wird die Behauptung in den Raum gestellt, dass Bach freundschaftliche Beziehungen zu den Diktatoren dieser Welt unterhält. Für die Olympischen Spiele in Tokio wird eher eine Absage nahegelegt als dass in solider Weise über die Covid-19-Pandemie in Japan aufgeklärt würde. Es wird von angeblich aktuell rasant ansteigenden Infektionszahlen berichtet, deren Daten sich jedoch in keiner WHO Statistik wiederfinden lassen. Dass Japan mit mehr als 126 Millionen Einwohnern zum aktuellen Zeitpunkt (16. Mai 2021) lediglich 11.508 Corona-Tote in der Statistik der WHO aufweist im Vergleich zu den 86.160 Toten in Deutschland mit seinen 83 Millionen Einwohnern, wird mit keinem Wort erwähnt. Auch wird mit keinem Wort darauf hingewiesen, dass in den Mitgliedsländern der EU, so zum Beispiel in Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich und auch in Großbritannien der Profi-Fußball schon seit Monaten Woche für Woche stattfindet, obgleich die Gefahren der Pandemie ungleich höher sind als in Japan. Einseitig werden Meinungsumfragen zitiert, wonach die große Mehrheit der Japaner die Absage der Spiele fordert. Präsident Bach wird unterstellt, dass er entgegen dem Wunsch der derzeitigen japanischen Regierung an der Durchführung der Olympischen Spiele in Tokio festhält. Dass das IOC seit dem Ausbruch der Pandemie bei all dessen Entscheidungen eng mit der WHO und Gesundheitsexperten aus aller Welt gemeinsam mit den japanischen Veranstaltern zusammenarbeitet, wird mit keinem Wort erwähnt.
Weltweit begehren gemäß dieser „Dokumentation“ alle Athletinnen und Athleten gegen das IOC auf und verlangen Mitbestimmungsrechte, die ihnen angeblich nicht zur Verfügung stehen. Die Athleten und Athletinnen möchten sich für Menschenrechte einsetzen, wobei Ihnen das IOC diesen Einsatz angeblich verbietet.
Zu dieser Art von Berichterstattung gehört meist auch, dass man solche Interviewpartner sucht, von denen man annimmt, dass sie sich kritisch gegenüber dem IOC äußern. Ein beliebter Partner der ARD ist dabei Felix Neureuther. Er ist ein ehemaliger Skirennläufer, der während seiner aktiven Zeit durchaus erfolgreich gewesen ist. Seine olympischen Erfolge waren dabei zwar eher bescheiden, doch im Slalom-Weltcup konnte er sich mit teilweise sehr spektakulären Siegen, so zum Beispiel in Kitzbühel, viele Jahre in der Weltspitze dieser Disziplin behaupten. Insbesondere das Fernsehen sah in ihm den wohl beliebtesten deutschen Skirennläufer während dieser Zeit und wusste deshalb auch Neureuther äußerst prominent zu präsentieren. Auch mich hat Neureuther mit seinen sportlichen Leistungen begeistert. Heute sieht er sich berufen, zu vielen sportfachlichen und sportpolitischen Fragen und Themen Stellungnahmen abzugeben. Wie manch anderer ehemaliger Leistungssportler gehörte er während seiner aktiven Leistungssportkarriere einer Sportfördergruppe des Zolls im Rang eines Zollhauptwachmeisters an. Nach Beendigung seiner aktiven Leistungssportkarriere ist er nun von Beruf ein sog. „Sportexperte“. Der Bayerische Rundfunk hat ihn als Co-Kommentator bei alpinen Skirennen unter Vertrag genommen und sein Management ermöglicht ihm auch nach der sportlichen Karriere noch viele gute und einträgliche Werbeverträge. Seine Werbeauftritte sind durchaus eindrucksvoll.
Wird Neureuther als ehemaliger Skirennläufer im Fernsehen oder von einer Tageszeitung interviewt, so wird von ihm Kritik am IOC, an den Olympischen Spielen, an Sportfunktionären und am Hochleistungssport im Allgemeinen erwartet und Neureuther ist meist bereit, diese Erwartungen zu erfüllen. Für die oben erwähnte ARD- „Dokumentation“ „Im Schattenreich der Ringe-das IOC und die Menschenrechte“ war Neureuther deshalb ein besonders geeignetes Testimonial.
So behauptet er in dieser Sendung, dass man dann, wenn man sich für Menschenrechte einsetzt, dies vom IOC nicht akzeptiert würde, ja man würde sogar dafür bestraft. Von der ARD wird er gefragt was er in Sotschi am eigenen Leib erfahren habe: „Wie waren ihre Erfahrungen“?
Neureuther: „Ja, ich habe mehrmals den Mund aufgemacht, speziell auch direkt vor den Spielen, weil mir einfach ein paar Dinge überhaupt nicht gepasst haben. Zum Beispiel der Umgang mit den Menschenrechten. Und wenn man etwas anspricht, kommt der Verband auf den Athleten zu, dass man das doch bitte unterlassen soll. Aber ich lasse mir nicht den Mund verbieten. Ich wäre auch die Konsequenz eingegangen, dass ich von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werde. Das wäre mir völlig wurscht gewesen“.
Sportschau: „Potenzial für Proteste bieten auch die kommenden Winterspiele in Peking 2022. Die stehen aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzungen in China in der Kritik“.
Neureuther: Peking ist eigentlich das i-Tüpfelchen in der Entwicklung der Olympischen Winterspiele nach Sotschi 2014 und Pyeongchang 2018. Ich habe generell nichts dagegen, dass Olympische Spiele in Peking stattfinden. Aber dann muss das IOC klare Ziele formulieren, um etwas zu verändern. Aber die Situation wird einfach akzeptiert, wie sie ist“.
Sportschau: „Warum wurden die Spiele aus ihrer Sicht zuletzt vor allem in autoritär regierte Länder wie Russland und China vergeben“?
Neureuther: „Das Protokoll des IOC für die Vergabe von Olympischen Spielen umfasst viele verschiedene Punkte, die eigentlich nur noch totalitäre Staaten erfüllen können und eben nicht die Länder, in die der Sport eigentlich auch hingehört“.
„Kommerzialisierung“ und „Gigantismus“ gefährden aus Neureuthers Sicht die Olympischen Spiele. Für ihn wäre es ein wichtiges Ziel, „nachhaltige Spiele zu schaffen“. Er glaubt, man müsse „zurück zu den Wurzeln“ kommen. „Welche Werte haben die Olympischen Spiele so groß gemacht? An diesen Werten muss ich mich orientieren und an diesen muss ich festhalten. Und nicht an den Werten des Geldbeutels.“ Seines Erachtens bräuchte es eines riesengroßen Knalls, „dass niemand mehr die Spiele austragen möchte und über 10-20 Jahre nichts stattfindet, damit das ganze System überarbeitet werden kann. Denn alles ist so festgefahren, dass es fast ein Ding der Unmöglichkeit ist, etwas mit den jetzigen Strukturen zu verändern“. “Winterspiele sollten in den Alpen stattfinden, ohne Milliarden von Euro auszugeben“, so Neureuther am 2. Mai 2021 gegenüber der ARD-Sportschau.
Am 12. Februar 2020 wurde von der Augsburger Allgemeinen folgende Frage an Neureuther gerichtet: „Sie haben ihre Prominenz auch immer dafür genutzt, Missstände in den Sportverbänden wie dem IOC anzuprangern. Haben Sie das Gefühl, dort hat sich in den vergangenen Jahren etwas zum Besseren verändert“? Neureuther: „Nein, es wurde schlechter. Der Sport steht nicht mehr im Vordergrund, sondern persönliche Belange. Es wurde zu viel Schindluder mit dem Sport getrieben. Das Ergebnis sieht man überall, wo sich die Menschen gegen Olympische Spiele aussprechen. Die olympische Bewegung ist so einzigartig, so fantastisch aber sie ist missbraucht worden. Es werden Milliarden Euro in die Hand genommen, um Großereignisse aus dem Boden zu stampfen. Da wird Natur zerstört, werden Menschen enteignet, werden Menschenrechte mit Füßen getreten. Es kann nicht sein, dass Olympische Spiele bald nur noch in totalitären Staaten stattfinden können“. Dieser Antwort folgt die Frage: „Sind Sie von Thomas Bach enttäuscht, dass er als IOC Präsident nicht gegensteuert“? Neureuthers Antwort lautete folgendermaßen: „Ich wollte mich nach meinem Kreuzbandriss 2017 unbedingt noch einmal für die Olympischen Spiele 2018 in Pyeongchang qualifizieren. Das habe ich wegen einer Verletzung nicht mehr geschafft. Das war bitter, denn ich wollte diese Medaille gewinnen. Und wenn Herr Bach sie mir überreicht hätte, hätte ich sie nicht angenommen. Ich wollte ein Zeichen setzen und konnte es nicht. Ich wollte zeigen, dass es so nicht weitergeht. Heutzutage hast du das Gefühl, dass es nur noch darum geht, dass das IOC möglichst viel Geld verdient. Das größte Kapital wäre aber, Nachhaltigkeit zu generieren, um Kindern und Jugendlichen ein Erbe zu hinterlassen, wodurch sie zum Beispiel besser und mehr Sport betreiben könnten – besonders auch in den Schulen“.
Solche Äußerungen und Ansichten haben teilweise durchaus ihre Berechtigung, wie ja auch generell eine fundierte Kritik am IOC und eine kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen der Olympischen Spiele dringend erwünscht ist. Doch bei einer etwas genaueren Betrachtung stellt sich sehr schnell heraus, dass die Expertise des ARD-„Sportexperten“ Neureuther viel zu oft auf pauschalen Vorurteilen gegenüber dem IOC und seinem Präsidenten beruht und seine öffentlichen Behauptungen und Vorwürfe von ihm nicht belegt werden. Weder wurde eine olympische Athletin oder ein olympischer Athlet während der Amtszeit von Präsident Bach bestraft, weil er sich für Menschenrechte eingesetzt hat, noch wurden Athleten daran gehindert, sich für Menschenrechte öffentlich einzusetzen. Das Verbot politischer Artikulationen während der Siegerehrungen bei Olympischen Spielen heißt noch lange nicht, dass das IOC seinen Athletinnen und Athleten verboten hat, sich vor und nach Olympischen Spielen, und auch nicht während Olympischer Spiele gegen Menschenrechtsverletzungen zu engagieren und Rassismus zu bekämpfen. Er spricht vom „Protokoll des IOC für die Vergabe von Olympischen Spielen“, das angeblich „viele verschiedene Punkte umfasst, die eigentlich nur noch totalitäre Staaten erfüllen können und eben nicht die Länder, in die der Sport eigentlich auch hingehört“. Ein Protokoll mit diesem Inhalt kennt man weder beim IOC noch beim Deutschen Olympischen Sportbund. Warum die nächsten Sommerspiele in Paris 2024 und in Los Angeles 2028 und vermutlich im Jahr 2032 in Brisbane in Australien und die nächsten Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina stattfinden werden, kann er mit seiner Stellungnahme wohl kaum erklären. Auch was ihm am „Protokoll des IOC“ nicht gefällt, legt er nicht offen.
Was die Athletenmitbestimmung betrifft, so muss auch Experte Neureuther erkennen, dass er während seiner gesamten Leistungssportkarriere im Deutschen Skiverband die Möglichkeit zur Athletenmitbestimmung gehabt hat, und dass wohl niemand sich mehr für die Athletenmitbestimmung bei Olympischen Spielen eingesetzt hat wie Thomas Bach. Der ökologische Sündenfall-wie ihn Neureuther für die Winterspiele in Sotschi, Pyeongchang und Peking beklagt-hat nicht erst im Jahr 2014 begonnen. Auch in den europäischen Alpen wurden gerade während der aktiven Karriere von Neureuther viele ökologische Verfehlungen beklagt, die durch den alpinen Wintersport entstanden sind.
Die Kritik an den Olympischen Spielen des ARD-Experten Neureuther ist deshalb in vieler Hinsicht sachlich wenig begründet, teilweise falsch und in vieler Hinsicht auch ärgerlich und unfair. Hier spricht ein ehemaliger Athlet über Zusammenhänge, über die ihm vermutlich während seiner aktiven Zeit das für eine Beurteilung dringend erforderliche Wissen nicht zugänglich gemacht wurde. Dies kann durchaus als ein Versäumnis der internationalen und nationalen Wintersportverbände und des IOC gedeutet werden. Doch für einen ARD-Sportexperten müsste es jedoch auch eine Pflicht sein, sich das notwendige Wissen anzueignen, um kompetent darüber sprechen zu können. Neureuther belegt keinen seiner Vorwürfe mit überprüfbaren Beispielen. Die „Agenda 2020“, die zu ganz wesentlichen Veränderungen der Olympischen Spiele geführt hat, hat er ganz offensichtlich nicht gelesen oder er will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Auch die neue „Agenda 2020 +5“, die die zweite Amtszeit von Präsident Bach prägen wird, ist für ihn ohne jegliche Bedeutung. Die Olympische Charta, in der die Rechte und Pflichten von Athleten äußerst präzise festgelegt sind, hat für ihn ganz offensichtlich keine Bedeutung. Dass Artikel 50 dieser Charta von der großen Mehrheit aller Athletinnen und Athleten anerkannt und erwünscht wird, nimmt er nicht zur Kenntnis. Würde man seiner Vorstellung von zukünftigen internationalen Sportereignissen folgen, so hätte der Begriff „Welt“ beziehungsweise der Titel eines „Weltmeisters“ eine ganz neue Bedeutung. Und wäre es erwünscht, dass internationale Sportereignisse nur noch in solchen Ländern ausgerichtet werden können, in denen es keine Menschenrechtsverletzungen zu beklagen gibt, so würde es, folgt man den Beobachtungen von „Amnesty international“, vermutlich nur noch ganz wenige Länder geben, in denen Wettbewerbe des internationalen Sports überhaupt stattfinden könnten.
Vielmehr wiederholt Neureuther jene stereotype Kritik wie sie schon seit vielen Jahren in den deutschen Massenmedien vorgetragen wird und bietet als Lösung das Gebot der Nachhaltigkeit an, das längst zur Modeforderung und zur Plattitüde erstarrt ist, und dem in der Menschheitsgeschichte noch niemals ernsthaft widersprochen wurde. Für einen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender wie den Bayerischen Rundfunk und die ARD müsste sich eigentlich eine derart oberflächliche Expertise von selbst verbieten. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Neureuthers Vertragsabschluss als ARD-Sportexperte wird vom Bayrischen Rundfunk mit einem eigenen Comic-Video gefeiert.
Neureuther selbst hat sich wie selbstverständlich in seiner Karriere von olympischen Organisationen und Institutionen wie dem DOSB, dem DSV dem BSV, dem Olympiastützpunkt München etc. fördern lassen, hat an Olympischen Spielen teilgenommen, bei denen ihm selbst keine Kosten entstanden sind. Er hat sehr erfolgreich seine eigene Vermarktung vorangetrieben und genau jenen Gigantismus und jene Kommerzialisierung im Blick gehabt, die er nun nach Beendigung seiner aktiven Athletenkarriere kritisiert. Doch auch nach seiner Karriere ist er der Kommerzialisierung und dem Gigantismus zugeneigt. Bei seinen medialen Auftritten sieht man ihn ganz selten ohne Sponsorenlogos. Wie anders lassen sich seine vielen aktuellen Werbeverträge erklären? Warum ist es ihm weiter möglich, hohe Gagen für Leistungen zu erhalten, die ihre Grundlage in einer längst beendeten sportlichen Karriere haben?
Sein Geschick, sich selbst zu vermarkten und seine kommunikativen Fähigkeiten sind dabei durchaus bemerkenswert. Sein merkantiler Erfolg ist beachtlich und dieser Erfolg sollte ihm durchaus auch gegönnt werden. Die Kommerzialisierung des Hochleistungssports kommt ja in erster Linie und vor allem durch eine und über eine enge Kooperation mit der Wirtschaft und den Massenmedien zustande. Beide Kooperationen gelingen Neureuther bestens. Er ist Markenbotschafter für große Firmen wie Audi, Bosch E-Bike Systems oder Intersport. Nordica, Edeka, Jack Wolfsskin, CEP, Rosebikes, Ziener, die Weihenstephan-Molkerei, die HypoVereinsbank und Allianz sind seine Kooperationspartner. Er bewirbt Tape-Bänder ebenso wie Sitzgelegenheiten und selbst sein Hausbau (“Villa Neureuther“) ist Anlass für große Werbeauftritte. In den sozialen Medien findet sich eine große Zahl von Werbevideos, in denen dem Betrachter das ehemalige Lieblingskind aller deutschen Skifahrer mit meist ökologisch oder pädagogisch ausgerichteten Botschaften entgegentritt.
Mit den „alten Werten“ eines von ihm propagierten Olympismus hat solch ein Handeln und Verhalten ganz gewiss nur wenig oder gar nichts zu tun. Vielmehr muss schon seit längerer Zeit von einer groß angelegten Heuchelei gesprochen werden, wenn sich ehemalige und aktuelle Spitzensportler und Spitzensportlerinnen ähnlich wie Felix Neureuther in „Auseinandersetzungen“ mit den Themen IOC und Olympische Spiele und deren Entwicklung öffentlich äußern. Leider ist dies in Deutschland immer häufiger zu beobachten. Und für die Medien ist noch immer „die schlechte Nachricht die gute Nachricht“, bringt sie doch Auflage beziehungsweise steigert sie die Einschaltquote!
Letzte Überarbeitung: 19.05.2021