In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts begann der Siegeszug des Sports. Seine globale Verbreitung war nahezu allumfassend. Die gesellschaftspolitische Aufwertung der Kultur des Sports war beispiellos. Wie kein anderer kultureller Bereich prägte er die Alltagskultur nahezu aller Gesellschaften. Seine massenmediale Präsenz war kaum noch zu übertreffen. Seine Beziehung und sein Austausch mit anderen relevanten gesellschaftlichen Systemen wie zum Beispiel mit dem Politik-, dem Wirtschafts-, dem Bildungs-und Gesundheitssystem war zunehmend erfolgreicher geworden. Repräsentanten dieses Sportsystems sahen sich auf Augenhöhe mit den wichtigsten Repräsentanten aus Wirtschaft, Politik und Kultur.
Diese 70-jährige Erfolgsgeschichte des internationalen Sportsystems im Gefüge der unterschiedlichsten Gesellschaften und Nationen wurde mit dem Beginn des Jahres 2020 geradezu jäh unterbrochen und gestoppt. Innerhalb kürzester Zeit ist es einer biologischen Gegebenheit dem sog. COVID-19 Virus, gelungen, den Sport in eine Bedeutungslosigkeit zurückzuführen wie sie allenfalls im 19. Jahrhundert und Jahrhunderte zuvor bestanden hat.
Noch vor wenigen Jahren wurde der Sport oft als „schönste Nebensache der Welt“ gedeutet. Man wies dabei darauf hin, dass der Zweck des Sports in seiner Zwecklosigkeit liege, was ja vor allem auch dadurch zum Ausdruck komme, dass in ihm Handlungen zum Tragen kommen, die in vielerlei Hinsicht eher als künstlich, denn als notwendig und natürlich zu bezeichnen sind. Beim Hochsprung springt man über eine 2 m hohe Latte unter der man eigentlich bequem darunter hindurchgehen könnte. Beim 400 m Lauf startet man an einem bestimmten Punkt, um genau wieder an diesem Punkt anzukommen. Damit kam aber zugleich die kulturelle Bedeutung des Sports zum Tragen. Die Bedeutung der menschlichen Kultur liegt eben vor allem darin, dass Menschen dabei Dinge tun, die eigentlich nicht notwendig sind. Aber obwohl sie nicht notwendig sind, sind sie für das Zusammenleben von Menschen äußerst bedeutsam geworden. Dies gilt gleichermaßen für die Literatur, die Musik und die Kunst in all ihren Erscheinungsformen. Nichts bringt die Bedeutung der menschlichen Kultur besser zum Ausdruck als Friedrich Schiller in seiner Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, in der er unter anderem feststellt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.
Durch den Ausbruch der Corona Pandemie wurde nun kein anderer Lebensbereich in einer derart umfassenden Weise infrage gestellt wie dies für den Gesamtbereich der Kultur der Fall war. Der angeblich oder tatsächlich notwendige Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger durch die Politik zielte zunächst und vor allem auf die Kultur. Museen wurden geschlossen und Theateraufführungen verboten. Konzerte waren nicht mehr möglich. Zum Schutz der Gesundheit wurde das Anrecht auf Bildung im öffentlichen Schulwesen radikal infrage gestellt.
Angesichts dieser politischen Verbote konnte es nicht überraschen, dass auch die aktive und passive Ausübung von Sport zunächst einbezogen wurde und der Unterhaltungssport im Laufe der Pandemie allenfalls im Sinne eines Angebots von „Brot und Spiele“ d.h. eines inszenierten Fernsehsports erlaubt wurde.
Mittlerweile ist mehr als ein Jahr vergangen und wir alle mussten lernen, dass man sich mit der biologischen Tatsache zu arrangieren hat, dass Viren und Menschen einen engen Zusammenhang aufweisen, dass Viren die Eigenschaft haben sich ständig zu verändern und dass sich eine globale Pandemie nur bedingt mit nationalen Strategien lösen lässt. Eine egoistische Lösung zu Gunsten der nördlichen Halbkugel dieser Welt ist ebenso wenig hilfreich wie die noch immer zu beobachtende ungerechte Verteilung der Risiken zwischen den armen und reichen Nationen. Das Versagen der ersten Welt gegenüber der so genannten Dritten Welt ist gerade auch in Zeiten der Corona Pandemie ganz offensichtlich.
Die Folgen für das Sportsystem, das sich vor allem auch durch soziale Interaktionen auszeichnet, sind durch das umfassende soziale Kontaktverbot in vieler Hinsicht gravierend – und ein Ende ist noch nicht absehbar:
Bereits über mehr als ein Jahr wurde in Turn – und Sportvereinen das aktive Spielen, Üben, sich Bewegen, Trainieren und Wetteifern von Kindern und Jugendlichen in ganz wesentlicher Weise eingeschränkt und über längere Zeiträume sogar total verboten.
- Der Sportunterricht im öffentlichen Schulwesen hat meist gar nicht oder nur sehr eingeschränkt stattgefunden; schulsportliche Wettkämpfe durften erst gar nicht stattfinden.
- Die praktisch-methodische Ausbildung für zukünftige Sportlehrerinnen und Sportlehrer hat an Fachhochschulen und Universitäten über ein Jahr lang nur sehr selten, überwiegend gar nicht stattgefunden. Es ist ein kaum aufholbarer Kompetenzverlust bei vielen Studierenden zu beklagen.
- Fitnessstudios waren über einen Zeitraum von mehr als 15 Monaten geschlossen.
- mit Ausnahme der Profiligen ist der Wettkampfsport in fast sämtlichen Sportarten zum Erliegen gekommen.
- Deutsche Meisterschaften in der großen Mehrheit der olympischen Sportarten mussten abgesagt werden. Gleiches gilt für viele Welt – und Europameisterschaften.
- Viele Turn-und Sportvereine weisen einen Mitgliederschwund auf wie er in der Geschichte des Turnens und des Sports noch niemals zuvor zu beobachten war.
- Vereine konnten ihre präventiven Sportangebote über ein Jahr lang nicht anbieten mit zum Teil erheblichen gesundheitlichen Folgen für ihre Mitglieder.
- Selbst Rehabilitationsmaßnahmen mittels Sport konnten nur äußerst eingeschränkt durchgeführt werden.
- Sämtliche Institutionen und Organisationen des Sports haben große finanzielle Verluste zu beklagen.
- Im kommerziellen Sport hat sich die Gefahr der finanziellen Insolvenz für viele Vereine und Mannschaften erheblich erhöht.
Bringt man all diese Beobachtungen auf einen Nenner, so muss von einem umfassenden Bedeutungsverlust der nationalen und internationalen Sportsysteme gesprochen werden. Für die meisten Regierungen und Parlamente wurde bei den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie die gesellschaftliche Bedeutung des Sports, insbesondere auch seine präventive und rehabilitative gesundheitliche Bedeutung nicht bedacht, im Grunde nicht einmal zur Kenntnis genommen. Der Sport selbst erwies sich mit seinen Repräsentanten als ein nachgeordneter „Partner“ des politischen Systems. Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages erwies sich während der Pandemie einmal mehr als völlig unbedeutend und ohne jeglichen Einfluss auf die relevanten politischen Entscheidungen.
Wurden noch vor der Pandemie die Repräsentanten des internationalen Sports als bedeutsame und wichtige Partner wahrgenommen, so sind sie mit Ausbruch der Pandemie zu bedeutungslosen Personen geworden. Wer kennt heute noch die Gesichter und Namen von Präsidenten Internationaler Olympischer Fachverbände. Waren vor der Pandemie noch Entscheidungen der internationalen Sportgremien von öffentlichem Interesse, so können virtuelle Council- Konferenzen, bei denen über die Vergabe von Weltmeisterschaften entschieden wird allenfalls noch Insider interessieren. Ob die Olympischen Spiele in Tokyo stattfinden oder ausfallen, ist für die große Mehrheit der Bevölkerung in fast allen Nationen inzwischen eine unbedeutende Frage geworden.
Gewiss war auch bereits vor Beginn der Pandemie manche Entwicklung im internationalen Sportsystem fragwürdig geworden. Der nicht enden wollende Doping-Betrug im Hochleistungssport, mehrere Korruptionsfälle in den Gremien der nationalen und internationalen Sportverbände, manipulierte Entscheidungen bei Wahlen und bei der Entscheidung über die Vergabe von Wettkämpfen haben das Interesse am Sport schon seit längerer Zeit schwinden lassen.
Im Zuge der Corona-Pandemie ist jedoch nicht nur vielen Politikern und Politikerinnen sondern immer mehr Bürgerinnen und Bürgern klar geworden, dass ein Leben ohne Sport möglich ist, dass der Sport aus der Sicht der Politik nicht systemrelevant ist, dass der Sport für unsere Menschheit nicht überlebensnotwendig ist, was vor allem für den Berufs- und Zuschauersport gilt.
Die Erfolgsstory des modernen Sports wurde durch die Pandemie von heute auf morgen gestoppt. Das „schneller, höher, weiter“, die Maximen des Sports, haben ihre Kommunikationskraft verloren. Ein „Weiter so“ ist in weite Ferne gerückt. Es scheint jetzt schon sicher zu sein, dass der Sport sich auf einem neuen Platz in unserer zukünftigen Gesellschaft wiederfinden wird, wenn die Pandemie zu einem Stillstand gekommen ist. Viele wünschen sich, dass man zu jenem System des Sports zurückfindet, wie es sich vor der Pandemie erfolgreich entwickeln konnte. Doch dies wird vermutlich nicht der Fall sein. Es muss vielmehr auch im Bereich des Sports von einer „neuen Normalität“ gesprochen werden. Was das „Neue“ ist und was dabei das „Normale“ ist, kann schon heute beeinflusst werden. Doch hierzu ist es notwendig, dass man sich dem erlittenen Bedeutungsverlust stellt, den das Sportsystem in mehr als einem Jahr nunmehr aufzuweisen hat, und dass man bereit ist, neue Strukturen und Bedeutungsmuster für die zukünftige Entwicklung des internationalen und nationalen Sports zu finden.
Das Verhältnis des organisierten Sports zur Politik muss dabei ebenso auf dem Prüfstand gestellt werden wie die demokratische Verfasstheit der Führungsgremien im deutschen Sport. Es muss um einen angemessenen, neuen Standort des Sports im Bildungssystem unseres öffentlichen Schulwesens gerungen werden. Eine neue und eine sehr viel klarere Trennung des gemeinnützigen Sports von einem Sport, der nur noch privat wirtschaftlichen Interessen dient, muss so schnell wie möglich vollzogen werden. Die alten ungelösten Herausforderungen sind ganz offensichtlich auch die neuen.
Letzte Überarbeitung: 14.05.2021