Die ideelle Krise, in der sich die olympische Bewegung schon seit längerer Zeit befindet ist ganz offensichtlich. Sie hängt auf das Engste mit der Kommerzialisierung zusammen, die den internationalen Hochleistungssport in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts erfasste und die bis heute anhält. Ein Steigerungsimperativ, der für sportliche Leistungen angebracht sein kann, der jedoch gleichzeitig der obersten Maxime des Fair Play untergeordnet ist, kann sich zurecht auch heute noch auf die Ideen von Pierre de Coubertin berufen. Eine olympische Pädagogik, in der der Athlet im Mittelpunkt steht, hat auch heute noch seine Bedeutung und Berechtigung. Wird der Steigerungsimperativ jedoch auf die Olympischen Spiele, auf deren Organisation, auf die Anzahl der Verantwortlichen, Athleten und Sportarten angewendet, so können die heute allenthalben zu beobachtenden negativen Folgen nicht überraschen. Eine zügellose Kommerzialisierung hat den Dopingbetrug ebenso zur Folge wie die Korruption der Beteiligten. Eine massenmediale und ökonomische Fremdbestimmung der Olympischen Spiele ist demnach folgerichtig. Der in sämtlichen olympischen Sportarten zu beobachtende Dopingbetrug, die Korruptionsskandale bei der Vergabe von Olympischen Spielen, die Wahlmanipulationen bei den Wahlen in die Führungsämter des olympischen Sports, die finanzielle Bereicherung einzelner Funktionäre, die internationalen Sportfachverbände, die völlig intransparent ihre Geschäfte verwalten – sie alle haben dazu beigetragen, dass die Olympischen Spiele in einen globalen Misskredit geraten sind, der seinesgleichen sucht.
Das Misstrauen gegenüber den Olympischen Spielen und der olympischen Bewegung ist dabei ohne Zweifel begründet. Es hat dazu geführt, dass ein allgemeiner Rückgang des Interesses an der Austragung Olympischer Spiele zu beobachten ist. Immer weniger Nationen und Städte haben ein Interesse an der zukünftigen Austragung der Spiele. Die Anzahl der Bewerberstädte ist sowohl für Winter- als auch für Sommerspiele seit einem Jahrzehnt rückläufig. Die massenmediale Begleitung der Krise hat dazu geführt, dass es insbesondere in westlichen Demokratien immer unwahrscheinlicher geworden ist, dass sich eine Mehrheit für die Ausrichtung der Olympischen Spiele ausspricht, insbesondere dann, wenn man diese Mehrheit über eine Volksabstimmung zu erlangen versucht. Gesellschaften mit autoritären Führungsstrukturen haben dabei gegenüber offenen Gesellschaften längst einen Wettbewerbsvorteil, was dazu geführt hat, dass die jüngsten Winterspiele in Sotschi (Russland) ausgetragen wurden, die nächsten Wintersspiele finden in Pyeongchang (Korea) statt – in einem Land, in dem nur bedingt demokratische Gütemaßstäbe beachtet werden. 2022 finden die Winterspiele in Peking (China) statt. Dabei wird ein Land Gastgeber der Spiele sein, in dem die meisten olympischen Wintersportarten bis heute noch nicht anzutreffen sind. Peking hatte sich dabei nur gegen einen einzigen Mitbewerber Almaty (Kasachstan) durchzusetzen, einem Land, bei dem ebenfalls ganz gewiss nicht von einer Demokratie gesprochen werden kann. Alle übrigen Bewerber hatten ihre Bewerbung zurückgezogen. Bei den Sommerspielen ist die Entwicklung kaum erfreulicher. Bewarben sich noch vor mehreren Jahrzehnten oft mehr als zehn Nationen mit ihren Metropolen um die Ausrichtung der Olympischen Spiele, so sind die Bewerber für die Spiele im Jahr 2024 nur noch Los Angeles und Paris. Hamburg, Rom und Budapest zogen ihre Bewerbung nach Protesten bzw. Volksabstimmungen in ihren Hoheitsgebieten zurück.
Die Krise, in der sich das IOC mit seinen Olympischen Spielen derzeit befindet, kann in ihrem Ausmaß und in ihren weiteren Folgen nur sehr unvollständig beurteilt und bewertet werden. Dennoch stellt sich die Frage, welche Antworten die Führung des IOC auf die drängenden Fragen findet, die ohne Zweifel den Bestand der olympischen Bewegung gefährden. Präsident Bach wurde vor vier Jahren in das höchste Amt des IOC gewählt. Bereits vor und bei seiner Wahl machte er deutlich, dass er die Krise, die erkennbaren Probleme und die Herausforderungen der olympischen Bewegung und seiner Spiele erkannt hat und er ist bemüht, die Versäumnisse seiner Vorgänger in Bezug auf eine Reform des Olympismus möglichst schnell zu überwinden. Seine Agenda 2020 trifft die zentralen Probleme und skizziert bereits erste Antworten auf die drängenden Fragen. Die Frage nach dem Wachstum der Spiele wird dabei ebenso gestellt wie die Frage nach einem zukünftig verantwortbaren sportlichen Programm. Bach hat das IOC auch völlig neuen Governance-Prinzipien unterworfen. Unter seiner Führung hat das IOC eine Transparenz erreicht, wie sie bei keinem anderen Sportverband der Welt angetroffen werden kann. Dies gilt auch für sämtliche deutsche Sportorganisationen. Der Haushalt des IOC ist bis ins Detail offengelegt. Selbst die Tagegelder und die Aufwandsentschädigungen für den Präsidenten sind für jedermann überprüfbar. Bach hat auch erkannt, dass das Bewerbungsverfahren für die Ausrichtung Olympischer Spiele dringend vereinfacht werden muss, vor allem muss es für die Bewerberstädte kostengünstiger werden – auch hier stehen erste Lösungsvorschläge zur Diskussion.
In der westeuropäischen Öffentlichkeit, insbesondere in seiner eigenen Heimat, werden diese Leistungen jedoch meist gar nicht oder nur am Rande wahrgenommen. Hingegen werden massenmediale Krisenszenarien gepflegt, die kaum zu übertreffen sind. Die Spiele haben demnach an Attraktivität verloren, die Zuschauerzahlen sind rückläufig, das Publikumsinteresse lässt nach, die Sponsoren drohen mit Rückzug, die finanziellen Einnahmen sind bedroht. Im Anti-Doping-Kampf versagt das IOC ebenso wie im Kampf gegen Korruption. Tragfähige Belege gibt es für diese Behauptungen so gut wie gar nicht. Zurückliegende Ereignisse wie der Korruptionsskandal von Salt Lake City werden hingegen genüsslich wiederholt und ausgebreitet. Hingegen werden empirische Fakten, die sehr leicht für jeden Journalisten zugänglich sind, so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen.
Macht man sich diese Mühe so entsteht eine empirische Welt von Fakten, die der konstruierten und manipulierten Medienrealität eher entgegensteht. Sydney 2000, Athen 2004, Peking 2008, London 2012 und Rio 2016 sind dabei die Stationen, die man im Blick haben sollte. Seit der Amtszeit von Bach haben sich die Ausgaben des IOC zugunsten des Anti-Doping-Kampfes drastisch erhöht. Bach hat wesentlich dazu beigetragen, dass die WADA arbeitsfähig geworden ist und dass mit dem CAS ein unabhängiges Schiedsgericht das letzte Wort hat. Dabei hat Bach immer Wert daraufgelegt, dass es eine klare Trennung zwischen exekutiven und legislativen Strukturen gibt. Eine Stärkung der WADA ist in Bezug auf ihre Aufklärungsaufgaben und ihre Kontrollfunktion sein Interesse. Die Entscheidung über die Strafen muss jedoch unabhängig von den Kontrolleuren erfolgen und die olympischen Spitzenverbände dürfen aus ihrer Verantwortung im Anti-Doping-Kampf nicht entlassen werden. Alle diese Prinzipien werden von Bach beachtet und man sollte die Unterstützung aller Verantwortlichen für diesen Weg erwarten können.
Soll die ökonomische Situation der Olympischen Spiele gekennzeichnet werden, so sind die relevanten empirischen Daten zu prüfen, die über die Fernsehgesellschaften, die Organisationskomitees und die Marketingagentur des IOCs ebenfalls für jedermann zugänglich sind.
Die Live-Übertragungsstunden sind seit Sydney (von über 29.600) auf 356.924 Stunden in Rio gestiegen und allein die digitalen Live-Übertragungsstunden sind seit Peking von über 61.700 auf 243.469 angewachsen (vgl. Tabelle 1).
Olympische Sommerspiele | Live-Übertragungsstunden (insgesamt) | Live-Übertragungsstunden (digital) |
---|---|---|
2000 Sydney | 29.600 + | - |
2004 Athen | 44.000 + | - |
2008 Peking | 71.719 | 61.700 + |
2012 London | 181.523 | 81.500 |
2016 Rio | 356.924 | 243.469 |
Tabelle 1: Live-Übertragungsstunden bei den Olympischen Sommerspielen
Haben in Athen 264 TV-Sender von den Spielen berichtet, so waren es in London bereits 525 und in Rio sogar 584 Sender. Die Verteilung der TV-Zuschauer nach Geschlecht ist seit Sydney nahezu konstant geblieben (vgl. Tabelle 2).
Olympische Sommerspiele | Anzahl TV-Sender | TV-Zuschauer nach Geschlecht |
---|---|---|
2000 Sydney | 86 | M: 48% W: 52% |
2004 Athen | 264 | M: 54% W: 46% |
2008 Peking | 388 | M: 53% W: 47% |
2012 London | 525 | M: 55% W: 45% |
2016 Rio | 584 | M: 55% W: 45% |
Tabelle 2: Anzahl der TV-Sender und Verteilung der TV-Zuschauer nach Geschlecht bei den Olympischen Sommerspielen
All diese Zahlen deuten darauf hin, dass zumindest unter dem Aspekt der Berichterstattung im Fernsehen und in den digitalen Medien die Olympischen Spiele nach wie vor höchst attraktiv gewesen sind. Besonders bemerkenswert ist auch, dass die Organisationskomitees der jeweiligen Spiele ihre Einnahmen durch die Sponsorenprogramme ständig erhöhen konnten. So stiegen die Einnahmen von 492 Millionen im Jahr 2000 auf 1,15 Milliarden im Jahr 2012. Betrachtet man die Summen aller Einnahmen des IOC im jeweiligen Vier-Jahreszyklus, so konnte noch im jüngsten Zyklus 2013-2016 ein Zuwachs von 6,2% erreicht werden (vgl. Tabelle 3).
Olympische Sommerspiele | Einnahmen durch OCOG Sponsorenprogramme des IOC | Summer aller Einnahmen des IOC im jeweiligen 4-Jahres-Zyklus |
---|---|---|
2000 Sydney | 492 Mio. USD | 1997-2000 1,9 Mrd. USD |
2004 Athen | 302 Mio. USD | 2001-2004 2,9 Mrd. USD |
2008 Peking | 1,22 Mrd. USD | 2005-2008 3,9 Mrd. USD |
2012 London | 1,15 Mrd. USD | 2009-2012 5,2 Mrd. USD |
2016 Rio | 2013-2016 5,6 Mrd. USD |
Tabelle 3: Einnahmen durch OCOG-Sponsorenprogramme und Summe aller Einnahmen des IOC im jeweiligen 4-Jahres-Zyklus
Allenfalls könnte beklagt werden, dass gleichzeitig auch die Zahl der teilnehmenden Athleten angewachsen ist. Rio hat dabei mit 11.237 ganz offensichtlich eine sinnvolle Obergrenze überschritten und hier bedarf es ohne Zweifel einer Korrektur bei der Ausrichtung zukünftiger Spiele. Gleiches gilt für die Anzahl der Entscheidungen während der Olympischen Spiele, die sich seit Sydney 2000 kontinuierlich erhöht hat (vgl. Tabelle 4).
Olympische Sommerspiele | Anzahl der teilnehmenden Athletinnen und Athleten | Anzahl der teilnehmenden Nationen | Anzahl der Medaillen-entscheidungen |
---|---|---|---|
2000 Sydney | 10.651 | 199 | 300 |
2004 Athen | 10.625 | 201 | 300 |
2008 Peking | 10.942 | 204 | 302 |
2012 London | 10.568 | 204 | 302 |
2016 Rio | 11.237 | 207 | 306 |
Tabelle 4: Anzahl der teilnehmenden Athletinnen und Athleten, Nationen und Medaillenentscheidungen zwischen 2000-2016
Ansonsten sprechen diese statistischen Zahlen über die Entwicklung der Olympischen Spiele jedoch von einem Erfolg, wie er seinesgleichen sucht. Deshalb kann es auch gar nicht überraschen, dass das IOC jedem Ausrichter der Olympischen Spiele einen höheren Unterstützungsbeitrag überweisen konnte, als dies beim Vorgänger der Fall war. Lag der Förderbeitrag 2004 bei 965 Millionen für das Organisationskomitee von Athen, so stieg er über 1,37 für London auf 1,5 Milliarden für Rio. Ähnlich dramatisch positiv haben sich die Ausschüttungen des IOC zugunsten der NOKs und der internationalen Verbände entwickelt (vgl. Tabelle 5).
Olympische Sommerspiele | Förderbeitrag des IOC zu den OS | Zuwendungen des IOC aus den Marketing-Einnahmen (Brutto) an die NOKs | Zuwendungen des IOC aus den Marketing-Einnahmen (Brutto) an die IFs |
---|---|---|---|
2000 Sydney | 820 Mio. USD | 212 Mio. USD | 190 Mio. USD |
2004 Athen | 965 Mio. USD | 234 Mio. USD | 257 Mio. USD |
2008 Peking | 1,25 Mrd. USD | 301 Mio. USD | 297 Mio. USD |
2012 London | 1,37 Mrd. USD | 520 Mio. USD | 520 Mio. USD |
2016 Rio | 1,5 Mrd. USD |
Tabelle 5: Zuwendungen des IOC zu den Organisationskomitees der OS, an die NOKs und an die IFs
Die öffentliche Meinung über die Olympischen Spiele kann im Vergleich zu diesen empirischen Fakten kaum gegensätzlicher sein. Das Prinzip Wahrheit wird bei dieser massenmedialen Begleitung kaum noch ernst genommen. Einmal in die Welt gesetzte Nachrichten werden nahezu unendlich wiederholt und vervielfacht und am Ende dieser Entwicklung entsteht ein Bild von den Olympischen Spielen, bei dem es in der Tat angebracht ist, dass man sich bei Volksabstimmungen gegen deren Ausrichtung entscheidet. Eine sachgemäße Auseinandersetzung über Kosten und Nutzen zukünftiger Olympischer Spiele ist auf diese Weise nicht mehr möglich. Es besteht die Gefahr, dass der massenmedial konstruierte angebliche Untergang der Olympischen Spiele zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Dass auf diese Weise nicht nur das IOC beschädigt wird, sondern vor allem auch die Athletinnen und Athleten, die bereit sind sich im sportlichen Wettkampf mit den Besten der Welt zu messen, dass den Zuschauern eine der schönsten Unterhaltungsmöglichkeiten in der globalen Unterhaltungskultur genommen wird, dass damit letztlich auch der Berufsstand des Sportjournalisten gefährdet wird, all dies wird in dieser Debatte so gut wie nicht erkannt. Folgen und Nebenfolgen scheinen ganz offensichtlich nicht bedacht zu sein. Gewiss hat das IOC selbst dazu beigetragen, dass die Olympischen Spiele zum Spielball massenmedialer Ideologen geworden sind. Will man dieses Spiel beenden, so sind jedoch alle aufgefordert, die Verantwortung für den internationalen Hochleistungssport tragen. „Fake News“ müssen durch echte Nachrichten ersetzt werden. Auf der Grundlage nachvollziehbarer Fakten muss die Entwicklung der zukünftigen Olympischen Spiele diskutiert werden und es sind die notwendigen Sanierungsschritte einzuleiten, damit das besondere Kulturgut des Olympismus erhalten werden kann.
Verfasst: 21.04.2017