Entwicklungszusammenarbeit im Sport – Fremdes verstehen, voneinander lernen

Dem Sport werden eine Vielzahl bedeutsamer gesellschaftlicher Funk­tionen zugeschrieben. In der Dritten Welt ist dies ebenso der Fall wie in der Ersten. Wer in Indonesien Sport treibt, weiß den Sinn seines Tuns ebenso zu rechtfertigen wie jenes neue Mitglied in einem Sportverein, das sich einer Seniorengruppe angeschlossen hat. Viele dieser Funktionen und Sinnzuweisungen sind wissenschaftlich umstritten, insbesondere dann, wenn empirisch zu beweisen ist, ob der Sport diese Funktionen und den ihm zugewiesenen Sinn tatsächlich auch erfüllen kann. Die biologischen Funktionen werden dabei ebenso angezweifelt wie die dem Sporttreiben zugeschriebenen sozialintegrativen Funktionen. Die Sporttreibenden selbst stört das wenig. Für sie bedarf es keiner eigenständigen Legitimation für ihr sportliches Tun, sie „glauben“, dass Sport Spaß macht, gesund ist, dass man dabei mit netten Menschen zusammen sein kann und dies alles nicht zuletzt zu einem sinnvollen Ausgleich zu den Bela­stungen der Welt der Arbeit führt. Im Wettkampfsport wird dieser – seit es ihn gibt – immer auch damit begründet, dass man bei Wett­kämpfen andere Menschen, Kulturen, politische Systeme und Gesell­schaften kennenlernen kann und schon deshalb Olympische Spiele, Weltmeisterschaften und Länderkämpfe förderungswürdige Sporter­eignisse seien. Der „Glaube“, dass Sport Anlass zur Begegnung, zur Kommunikation mit Fremden, zum gegenseitigen Lernen sein kann, ist trotz vieler Kritik, die an diesem „Glauben“ geübt wurde, für jeden, der an solchen Ereignissen teilgenommen hat, oder heute noch teilnimmt, genügend begründet. Er basiert auf vielfältigen Erfahrungen und ist insofern plausibel und gesichert. Es kann deshalb nicht überraschen, dass von diesen positiven Funktionen des Sporttreibens auch dann die Rede ist, wenn von den Möglich­keiten der Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt auf dem Gebiet des Sports gesprochen wird. Entwicklungszusammenarbeit im Sport kann demnach auch oder vielleicht sogar vor allem gegenseitige Verständigung, gegenseitiges Lernen, Kom­munikation zwischen Kulturen, freudvolles sich Begegnen und Aus­tausch von Erfahrungen von Menschen aus einer sich gegenseitig fremden Welt sein. Von diesen Möglichkeiten des Sports soll im Folgenden die Rede sein; wohl wissend, dass die Begegnung des Sports aus der Ersten Welt mit dem der Dritten Welt bis heute noch viel zu oft durch Bevormundung, Besserwisserei, imperialem Gehabe oder gar neo-kolonialer Großmannssucht geprägt ist. Dieses negative Bild zu verändern, soll Anliegen der folgenden Überlegungen sein.

Handball ist nicht gleich Handball

Vor mehr als 10 Jahren war es mir vergönnt, zum ersten Mal im Auftrag des Nationalen Olympischen Komitees der Bundesrepublik Deutschland nach Afrika zu reisen, um afrikanische Sportleh­rer, Trainer und solche, die es werden wollten, in die Ge­heimnisse des modernen Handballspiels einzuführen. Vor meiner Ausreise hatte ich damals mindestens zwei grundsätzliche Annah­men akzeptiert. Ich glaubte, gemeinsam mit meinem Auftraggeber, dass es für Afrikaner sinnvoll sein könnte, in der Schule und in der Freizeit Handball spielen zu können. Zum anderen glaubte ich, dass man Handball in Afrika zumindest ähnlich wie in Europa unterrichten könne und man aus diesem Grunde als europäischer Handballlehrer solch einen Auftrag guten Gewissens übernehmen kann. Dass beide Annahmen nur sehr begrenzt berechtigt sind, musste ich bei meinem ersten Einsatz als sogenannter Sportexperte während eines Fortbildungslehrganges für afrikanische Sportlehrer in Togo und während eines Auswahllehrganges in Ghana schnell und vor allem auch leibhaftig erfahren.

Handball in Afrika – so war meine Vorstellung – ist Handball unter weniger idealen Bedingungen. Es werden gute Spielanlagen fehlen und zu wenige Bälle zur Verfügung stehen. Beim Anblick des Handballstadions in Lomè (Togo) kamen solche Vorstellungen schnell ins Wanken. Unter geradezu idealen Bedingungen standen mir für meine Lehrgangsarbeit ein Handballstadion mit regulärem Spielfeld, befestigten Toren und einem farblich abgehobenen Spielfeld aus Asphalt zur Verfügung. Auf der überdachten Tribüne war genügend Platz und auch die entsprechende Ruhe zu finden, um die theoretischen Lehrveranstaltungen durchzuführen. So sah es in Togo, einem der kleinsten afrikanischen Staaten mit den Bedingungen für das Handballspielen aus.

In Ghana, nur wenige 100 Kilometer entfernt, aber auch in einigen Heimatländern meiner damaligen Lehrgangsteilnehmer, so in Benin, Niger oder in Mali, lassen sich hingegen weder ein Stadion für Handball, noch ein reguläres Handballfeld finden. Sandplätze oder Parkplätze in Städten werden für das Handballspiel reserviert, Bälle sind Mangelware, in der Schule wird mit improvisierten Sportgeräten gearbeitet, Sportschuhe sind für Schüler und Sporttreibende unerschwinglich und Tore bestehen allenfalls aus zwei Pfosten. Es sei darauf hingewiesen, dass solche Merk­male kaum als ein Indiz für Unterentwicklung bewertet werden können oder dass dies gar als ein Beispiel für eine angebliche Unfähigkeit der in diesen Ländern lebenden Menschen zu interpretieren ist; denn erin­nert man sich an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, so waren vor nicht mehr als 70 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland vergleich­bare Bedingungen für das Handballspielen vorzufinden.

Bereits die äußeren Bedingungen für das Handballspielen machten also deutlich, dass es den afrikanischen Handball nicht gibt, dass Handball in Bourkina Faso und Benin, in Ländern, in denen mehr als die Hälfte der Bevölkerung an Unterernährung leidet, etwas anderes ist als Hand­ball an der Elfenbeinküste oder in Togo; der Handball in Tunesien und Ägypten wiederum ungleich weiterentwickelt ist, als in allen übrigen schwarzafrikanischen Staaten. Nicht zuletzt war dabei die je verschie­dene Kolonialgeschichte der einzelnen afrikanischen Staaten von Einfluss für die Entwicklung des Handballspiels. So ist in vielen anglophonen Staaten das Handballspiel bis heute noch immer so gut wie unbe­kannt, in frankophonen Ländern wird Handball hingegen auf einem hohen technischen Niveau gespielt. Vor allem im Bereich der Technik wird von einigen Mannschaften das Niveau europäischer Spitzenmannschaften erreicht. Diese Fortschritte sind zumindest teilweise auf die inten­sive Trainingsarbeit europäischer Trainer zurückzuführen und beschrän­ken sich meist nur auf wenige Mannschaften, nicht selten sogar nur auf die Nationalmannschaft. In den Industrieländern der Ersten Welt wird solche Unterstützung mit dem etwas fragwürdigen Begriff „Sportent­wicklungshilfe“ umschrieben. Nicht zuletzt von Politikern, aber auch von Sportfunktionären wird auf diese angeblich sehr billige, aber höchst wirkungsvolle Einmischung der erfolgreichen Sportnationen in Ost und West in Staaten der Dritten Welt ein Loblied gesungen.

Auf diese Weise wird immer wieder von neuem versucht, jene Menschen aus Ländern der Dritten Welt in Sportmuster einzupassen, wie sie sich vor allem in Europa bewährt haben. Man kann es als Glück oder Unglück bezeichnen, dass diese Einpassung bis heute noch immer nicht gelungen ist. Die Gründe hierfür sind sehr verschiedenartig.

Merkmale der Andersartigkeit

Dass Sporttreiben in Afrika, Asien oder Lateinamerika etwas anderes ist als Sporttreiben in England, Österreich oder Deutschland, hängt in erster Linie mit den schwierigen Rahmenbedingungen zu­sammen, unter denen der Sport in der Dritten Welt meist auszu­üben ist. Mein erster Trainingstag in Togo hatte einen Wasserver­lust meines Körpers zur Folge, wie er in Europa allenfalls beim „Abkochen“ von Ringern zugunsten einer niedrigeren Gewichtsklasse zu beobachten ist. Lediglich zwischen 6.00 und 9.00 Uhr und zwi­schen 17.00 und 19.00 Uhr war praktische Trainingsarbeit möglich. Die Sonne mit ihrer brütenden Hitze auf der einen und die Dämme­rung auf der anderen Seite, die sehr schnell in schwarze Nacht übergeht, und oft nur durch Kerzenschein und offene Feuer zu erhel­len ist; dies war der Rahmen in den ich mich selbst und mein Lehrgangskonzept habe einpassen müssen. Handball spielen und Trainie­ren unter tropischen Bedingungen, bei 38° im Schatten, bei 85 % Luftfeuchtigkeit, kann nur mit Schwerstarbeit im Hochbau, bei hoch­sommerlichen Temperaturen in einer Großstadt der Bundesrepublik verglichen werden. Trainingsintensität und Trainingsumfang haben sich diesen äußeren Bedingungen unterzuordnen und schon aus die­sem Grunde werden die Leistungsfähigkeit und das Spielniveau von Athleten und Mannschaften aus den Tropen nur in einem begrenzten Umfang so zu entwickeln und zu steigern sein, wie es in Europa üblich ist. Die Gesundheits- und Ernährungssituation der Bevölke­rung hat ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung des Handballspiels. Spieler, denen nicht selten über längere Zeiträume die nötigsten Grundnahrungsmittel fehlen, können an einem regelmäßigen, bela­stungsintensiven Trainingsbetrieb nicht teilnehmen. Es stellt sich hier sogar die Frage, ob es unter solchen Bedingungen über­haupt sinnvoll ist, die Entwicklung eines Systems für Leistungs­sport zu fördern, wenn gleichzeitig die Sportler durch die sport­lichen Belastungen ihre Gesundheit in noch unübersehbarer Weise gefährden.

Unabhängig davon, welche Antwort auf diese Frage gefunden wird, sind mit dem Hinweis auf Klima und Ernährung zwei Faktoren be­nannt, die die Sensibilität der europäischen Sportexperten her­ausfordern, wollen sie wirkliche Partner für Athleten der Drit­ten Welt sein. Die beiden Faktoren lassen aber auch bereits ahnen, aus welchem Grunde Sport in der Dritten Welt sich immer ganz we­sentlich vom Sport in unserem Kulturkreis unterscheiden wird.

Dass der Sport sich in den Ländern der Dritten Welt relativ eigenständig entwickelt, hängt vor allem damit zusammen, dass die Menschen, die ihn betreiben, einer anderen Kultur, einer ande­ren Lebenswelt und damit auch einer anderen Gesellschaft ange­hören. Ethnische Unterschiede sind dabei ebenso bedeutsam wie religiöse. Basketball in Nigeria ist vor diesem Hintergrund etwas anderes als Basketball in Malaysia. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm oder zu einer Rasse prägen immer auch die physischen Möglichkeiten und die körperliche Konstitution. Islamischer Glaube beeinflusst die Einstellung zur Körperlich­keit und damit zum Sporttreiben in anderer Weise als der Buddhismus oder Hinduismus. Sozialerfahrungen, erworben in der Großfamilie, in einer auf Subsistenzwirtschaft angelegten agra­rischen Produktion eröffnet einen anderen Zugang zum Sport als ein Leben im Großstadtghetto ohne formelle Bildung, ohne fami­liäre Aufsicht und ohne Perspektiven. Dass der Sport in den Län­dern der Dritten Welt sich anders als bei uns entwickelt, hängt aber auch damit zusammen, dass Menschen in anderen Gesellschaften und Kulturen nicht notwendig denselben Sinn im Leben suchen, wie es z.B. für Deutsche üblich ist. Materialistische Werthaltungen können dabei ebenso fremd sein wie all jene modernen und post­modernen Wertorientierungen, denen Menschen in nachindustriellen Gesellschaften folgen.

Im Sport zeigen sich solche Unterschiede in vielfältiger Weise. Warum spielen in Malaysia, einem Land, in dem 55 % Malaien, 34 % Chinesen und 10 % Inder wohnen, Inder eher Hockey und sind nicht selten die erfolgreicheren Leichtathleten, Chinesen hingegen treffen sich meist beim Basketball, beim Tischtennis und Badminton, während die Malaien in diesem Vielvölkerstaat eher Fußball spielen, Radfahren und den Kampfsportarten zuge­wendet sind? Warum marschieren Schulklassen, Banken, Betriebe in Indonesien auf öffentlichen Straßen in farbenprächtigen Uniformen, tragen dabei Wettkämpfe aus und haben sich in einem nationalen Sportverband organisiert? Warum finden in Südost-Asien bei den Asienspielen Sepak-Takraw-Meisterschaften statt? Warum wird die Nutzung von Sportstätten in einigen saudi-arabischen Ländern so organisiert, dass niemals Frauen und Männer gemeinsam in den Sportanlagen anwesend sind? Entwickelt sich der Sport in islamischen Ländern je nach vorherrschendem Glau­bensbekenntnis unterschiedlich? Ist Sporttreiben für Sunniten ebenso akzeptabel wie für Schiiten? Solche und ähnliche Fragen stellen sich, wenn man die Vielfalt des Sports in der Dritten Welt, wie sie sich uns heute beobachten lässt, etwas genauer be­trachtet und sie mit dem Sport in unserer Kultur vergleicht. Dabei ist es wichtig, dass man in seinem Vergleich davon aus­geht, dass nicht alles so sein muss, wie es in Europa üblich ist. Tut man dies, so lässt sich mit einer solchen Einstellung nicht nur den Partnern in der Dritten Welt angemessener helfen, in erster Linie wird man dabei selbst lernen und die Begegnung zwischen dem Sport der Ersten Welt und dem Sport der Dritten Welt kann zu einer besonderen Form der interkulturellen Kommu­nikation werden. Nicht immer kann dies gelingen. dass man sich aber darum bemühen kann, lässt sich am Erlebniswert und den da­bei gemachten Erfahrungen zeigen, wie sie für deutsche Trai­ner, Sportlehrer, Sportwissenschaftler oder Sportjournalisten bei ihren Experteneinsätzen in Ländern der Dritten Welt gemacht werden können.

Das Prinzip des Siegens ist relativ

Im bereits erwähnten Handballehrgang, den ich in Togo durchge­führt habe, hatten meine Lehrgangsteilnehmer eine Menge Probleme beim Erlernen der Technik und Taktik des Handball­spiels. Besonders schwierig war es für die afrikanischen Kolle­gen, ihre Gegenspieler so geschickt zu attackieren, wie es für das europäische Handballspiel üblich ist und das Spiel so syste­matisch zu spielen, dass das für europäische Spieler selbstver­ständliche Ziel im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bleibt, näm­lich siegen zu wollen. Der Körpereinsatz war meist ungeschickt, die Fouls waren oft zu offensichtlich, wenig raffiniert; wenn gefoult wurde, war der Einsatz von ungewöhnlicher Härte, plump, also kaum zielorientiert. Im Spiel selbst waren immer wieder un­nötige ballverliebte Aktionen zu beobachten. Verunglückte Ball­würfe lösten Freude und Gelächter aus. Es wurde aber auch ge­meinsam eine lustige Torhüteraktion belacht.

In der Ausbildung deutscher Sportstudenten, die für das Hand­ballspiel nicht selten weniger Talent und Begeisterung als ihre afrikanischen Kommilitonen mitbringen, hat es sich bewährt, zur Beantwortung der Frage, ob die Sportstudenten die Spielidee des Handballspiels verstanden haben, sie mit einer besonderen Aufgabenstellung zu konfrontieren. Sie haben das Handballspiel pantomimisch zu spielen; dabei leite ich das Spiel als Schieds­richter, alle üblichen Handballregeln haben Gültigkeit. Den Spielern steht lediglich kein Ball zur Verfügung. Im Vergleich zum Handballspiel mit Ball muss ich dabei sehr oft die Beobach­tung machen, dass vor allem spielstarke Mannschaften nahezu un­fähig sind, Handball pantomimisch zu spielen. Spätestens nach einer Minute wissen sie nicht mehr, wer im Ballbesitz ist. Plötzlich sind zwei oder drei Bälle im Spiel und keiner der Spieler weiß, was er noch zu tun hat. Beim oben erwähnten Hand­ballehrgang in Togo habe ich den afrikanischen Kollegen dieselbe Aufgabe gestellt, das Ergebnis war jedoch ein anderes. Hand­ball pantomimisch – von afrikanischen Spielern gespielt – un­terschied sich vom deutschen Spiel ganz wesentlich. Ausgelas­sene Freude und viel Gelächter kennzeichneten das Spiel, das mehr als 10 Minuten dauerte. Eine Mannschaft spielte gegen die andere auf zwei Tore, auf einem regulären Spielfeld und nie wurde der Ball verloren. Wenn ein Angriffsspieler eine Finte vorgab, so verteidigte der Abwehrspieler mit den entsprechen­den Bewegungsmustern. Wenn ein Angreifer auf das Tor warf, so versuchte der Torwart, den Ball zu fangen. Das pantomimische Handballspiel der afrikanischen Handballspieler stellte sich mir als ein perfektes, nicht-sprachliches System der Kommuni­kation dar. Haben Afrikaner eine spezielle Fähigkeit für Panto­mime? Unterscheidet sich die Spielidee von Afrikanern von der Idee des Spielens in Europa? Wollen Europäer gewinnen, möchte jeder Spieler im europäischen Spiel in erster Linie ein Tor erzielen, während hingegen Afrikaner in erster Linie spielen möchten? Ist das Spiel dort weniger wettbewerbsorientiert, mehr kooperativ, auf Solidarität angelegt? Was ist der Zweck des afrikanischen Spiels? Was ist der Grund, dass sie ohne Ball taktisch spielen können, während sie mit Ball eher zum Einzel­spiel, zum Alleingang und weniger zur Kooperation neigen? Der Stuttgarter Verhaltensforscher NIETSCHKE hat eine wichtige Beobachtung in diesem Zusammenhang gemacht: In den meisten europäischen Sportarten wird die Aufmerksamkeit des Sportlers auf ein Ziel gerichtet, das außerhalb seines Körpers liegt, so z.B. beim Hochsprung: Eine Latte möglichst hoch zu über­springen. In den meisten nicht-europäischen Bewegungskulturen richtet sich hingegen die Aufmerksamkeit des übenden auf den eigenen Körper. Es kommt zur Erfahrung des Leibes von innen heraus, so z.B. in den Formen des traditionellen Judos, aber auch in vielen afrikanischen Tänzen. Beim Judo steht z.B. nicht das Prinzip des Überbietens im Zentrum der Bemühungen der Part­ner. Die Erfahrung des Nachgebens und Umlenkens sind die beson­deren Merkmale dieser asiatischen Kampfsportart. In nicht-euro­päischen Bewegungsmustern können Menschen offensichtlich andere Erfahrungen als im Sport machen. Können solche Erfahrungen auch Europäern nützen? Indische Yoga-Übungen, asiatischer Kampfsport und afrikanische Tänze scheinen Beleg genug dafür zu sein; doch machen Europäer dabei auch die gleichen Erfahrungen wie Chinesen, Schwarze oder Inder? Viele Fragen stellen sich. Sie scheinen wert, dass man sie diskutiert.

Unsere Werte müssen nicht die der Partner sein

Das nächste Beispiel handelt ebenfalls vom Handball spielen. Von Togo mehr als 10.000 km entfernt, in Padang, auf der Insel Sumatra, war Handballspielen auf dem Lehrgangsprogramm ange­sagt. Indonesische Nachwuchsdozenten spielten zum Abschluss eines anstrengenden Vorlesungstages gemeinsam mit drei deut­schen Kollegen Hallenhandball. In das Spiel waren sie von einem deutschen Sportexperten erst jüngst eingewiesen worden. Die Dozenten hatten an dem Spiel Interesse gefunden und waren auch bereit, gleichsam als erste indonesische Handballmannschaft an einem freien Nachmittag einen geregelten Trainingsbetrieb durchzuführen. Die Spielweise war in erster Linie von den ihnen bekannten Bewegungsmustern des Basketballs geprägt. Für akrobatische Würfe zeigten die Spieler aber ein ähnliches Talent wie ihre afrikanischen Kollegen. Das Spiel selbst stellte sich den anwesenden Europäern, die den Sport, beruf­lich bedingt, immer auch mit pädagogischen Zielen verknüpfen, in vieler Hinsicht als problematisch dar. Passierte in dem Handballspiel der Indonesier einem Spieler ein Missgeschick, so war Schadenfreude die übliche Reaktion. Im Angriff versuchten die Spieler, einmal in Ballbesitz gekommen, möglichst im Allein­gang ein Tor zu erzielen. Selbst aus völlig hoffnungslosen Posi­tionen wurde auf das Tor geworfen. Das euro-pädagogisch bela­stete Urteil für solches Spiel lautet: unfair, unsozial. Sozia­les Lernen wäre demnach das Gebot der Stunde für solche Spieler.

Sowohl die Analyse als auch die Schlussfolgerung ist aber mehr als vorschnell, aus der Sicht der indonesischen Kollegen sogar falsch. Als ich sie nach dem Spiel auf meine Beobachtungen hin­wies, waren die indonesischen Kollegen über meine Sorgen verwun­dert. Weder die Lacher, noch die „Opfer des Lachens“ sahen in ihren Handlungen irgendein Problem und auch der Alleingang oder der angeblich unfaire Wurf über den Scheitel des Torwarts wurde nicht als eine negativ zu beurteilende Handlung bewertet, wie es für uns als Europäer üblich ist.

Was ist daraus zu lernen? Gewiss wäre es falsch, wenn daraus ge­folgert würde, dass alles relativ, alles so oder so sein kann und letztlich universelle Verbindlichkeiten nicht existieren. dass aber in anderen Kulturen auch andere Werte gelten, und damit auch in einer Sport- und Bewegungskultur nicht notwendig jene Normen und Werte gelten müssen, die wir für richtig halten, dies scheint mir eine lohnenswerte Schlussfolgerung aus diesem Ereig­nis zu sein.

Ähnliche Beobachtungen ließen sich über das Training von Athle­ten in Nigeria, über den Schulsport in Madagaskar, über Ligaspiele im Fußball und Handball in Ägypten, über Sportwettkämpfe in Vene­zuela, Malaysia oder Indonesien machen. In all diesen Ländern und vielen weiteren kann man erleben, dass lediglich auf den ersten Blick Sport gleich Sport ist. International anerkannte Regeln ermöglichen, dass Inder mit Kolumbianern ebenso im Sport wett­eifern können, wie sich Franzosen oder Deutsche mit Marokkanern oder Madagassen in verschiedenen Sportarten vergleichen. Betrach­tet man jedoch die Ausübung der einzelnen Sportarten etwas genauer, fragt man auch, wer Sport treibt und welcher Sport von wem betrie­ben wird, fragt man, in welchen Sportarten Frauen beteiligt sind und wo und warum sie in anderen ausgeschlossen werden, wer den Sport fördert und was er sich davon verspricht; wird so gefragt, so muss man sehr schnell erkennen, dass sich uns der Sport in der Dritten Welt als eine Vielfalt präsentiert, die es zu schätzen und möglichst auch zu nutzen gilt. Für Europäer scheint dies nicht ganz einfach zu sein; in zwei weiteren Beispielen soll davon die Rede sein.

Nicht alles ist rational erschließbar

Das erste Beispiel handelt von den Erfahrungen eines befreunde­ten Kollegen, der mehrere Jahre in Togo als Fußball­lehrer arbeitete. Dass Sportexperten, wenn sie erfolgreich sind, eine privilegierte Rolle in einer unterentwickelten Gesell­schaft einnehmen, das mag bedauert werden. dass ein Erfolg bei einer Junioren-Weltmeisterschaft oder in einem Afrika-Cup kein Indiz für wirkliche Entwicklung ist, das ist nach mehr als 70 Jahren deutscher Sportförderung mehr als offensichtlich. dass man aber auch von seinen Spielern, von seinen Partnern, von der fremden Kultur lernen kann, das ist erwähnenswert, des­halb sollen Auszüge aus einem Brief meines deutschen Kollegen zitiert werden:

„Togo spielt 1987 bei der Junioren-WM in Chile! Für mich selbst ist es fast noch ein Traum, aber es ist wahr. Wir haben uns ge­gen die Nummer eins im afrikanischen Fußball, Marokko, für die­ses Endturnier in Südamerika qualifiziert. Ganz Togo steht Kopf. Zum ersten und vielleicht auch zum letzten Mal kann eine togole­sische Mannschaft an einer WM teilnehmen und gegen die Großen der Welt spielen. So viele Hände musste ich noch nie schütteln. Fremde Menschen auf der Straße beglückwünschten die Mannschaft und mich, überall rief es „Entraineur merci, maintenant on va chercher la Coup du Monde“. Nun, dieses Ziel werden wir nie erreichen, aber allein die Teilnahme ist schon riesig …“

Dann beschreibt der Kollege, wie es zu diesem sensationellen Er­folg über Marokko in einem schwierigen Qualifikationsverfahren gekommen ist. Da er sich den Erfolg seiner Mannschaft nur teil­weise erklären kann, sind ihm Beobachtungen wichtig, die leider viel zu häufig belächelt, meist nicht geglaubt, in der Regel verachtet werden. „Fußball in Afrika ist aber ganz anders als bei uns, viel emotionaler, sowohl auf dem Spielfeld als auch auf den Zuschauerrängen. Seit langer Zeit war das Stadion in Lomé wieder einmal fast ausverkauft und von vielen Stellen im Stadion erklang das Tam-Tam der Trommeln zu unserer Unter­stützung. Aber vielleicht war eine andere Art von Unterstützung für den Ausgang des Spiels viel entscheidender. Die Fetischiseure, die Gegner und Tore verhexen und mir den Ausgang und Ablauf des Spiels exakt voraussagten. Im Augenblick glaube ich (noch) nicht an diese Dinge, aber beeindruckend war schon zu sehen, welche Mittel angewandt wurden. Meine Spieler beeindruckten schon ihre marokkanischen Gegner beim ersten Blickkontakt im Kabinen­gang mit einem laut gesungenen Schlachtlied. Ihr Herumhüpfen und Herumtänzeln während der offiziellen Begrüßung und zwischen den Nationalhymnen, erweckten beim Gegner Vorahnungen über un­sere Entschlossenheit und die Konsequenz, mit der wir ins Spiel gehen wollten. All dies werden die Psychologen kennen und als alte Hüte abtun. Im Zusammenhang mit den nachfolgenden Aktionen gewinnen aber viele solcher Details an Gewicht und verstärken den Eindruck: Mit einer speziell gemischten Flüssigkeit wurden die marokkanischen Spieler für sie völlig überraschend beim Verlassen der Umkleidekabinen von zwei Fetischiseuren besprengt. Gleichzeitig riefen sie Formeln der Verhexung; achteten streng darauf, dass wir ja keinen Tropfen abbekamen. Auf ähnliche Weise wurden Spielerbank und Tor verzaubert – ein Ritual, das alle Zu­schauer erfreute; es geschah aber zum Entsetzen der Marokkaner. Ein Ferkel und eine Ziege wurden durch das Tor getrieben und vieles mehr

Über solche Beobachtungen kommt er in seinem Brief zu dem Re­sümee: „Unsere deutsch-europäische Denk- und Sichtweise darf man nicht zum Maßstab afrikanischer Handlungen erheben, über­haupt: Je länger wir hier sind, umso wichtiger werden uns afri­kanische Fragen und Probleme, und das wirtschaftsstarke und hochtechnisierte Europa verliert für uns zunehmend an Bedeu­tung. Auf einer maßstabgerechten Weltkarte ist es verglichen mit Afrika ein kleiner Teil der Welt, aber ein Teil, der sich selbst zu wichtig nimmt und zu egoistisch am eigenen Fortschritt und Wohlergehen orientiert ist und die Dritte Welt zu gerne vergisst.“ Kulturelle Offenheit, das scheint jene Maxime zu sein, die uns der deutsche Fußballehrer im Umgang mit dem Sport der Dritten Welt empfiehlt.

Sind wir zu einer derartigen Offenheit bereit, so wird es auch möglich sein, uns einige Enttäuschungen in der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Sports zu ersparen. Deutsche Sportexperten sind nicht selten geneigt, von ihren Partnern in der Dritten Welt Dankbarkeit zu erwarten, um damit letztlich Anerkennung für die eigene Arbeit zu erfahren. So schreibt ein während eines Expertenaufenthaltes krank gewordener deutscher Sportwissenschaft­ler: „Seit vier Tagen laboriere ich mit Fieber, Kopfschmerzen, Durchfall und Appetitlosigkeit und dergleichen mehr herum. Jetzt kommt so richtig der Dank zurück, den ich mir wohl über Jahre hier eingehandelt habe. So lange ich intakt bin, so lange ich mich engagiere, so lange ich funktioniere für meine Kollegen, bin ich gewünscht und gefragt. Jetzt, wo ich darniederliege, ist der Besuch der Kollegen spärlich und zurückhaltend. Sobald ich wieder auf den Beinen bin, werde ich aber dann wieder angemacht, ausgenommen, angebettelt um Arbeitsunterstützung, zu Veranstal­tungen gebeten, nach Geschenken und Mitbringseln gefragt. In solch einer Situation empfinde ich die Mentalität der Kollegen unerträglich, aber ich kann es nicht ändern. Im Gewühle des Alltags und dann, wenn ich mich wieder fit fühle, und mit ihnen zusammen den ganzen Tag arbeite, fallen mir solche Dinge weniger auf. Ich gehe leichter darüber hinweg und lasse auch solche Dinge gar nicht so oft an mich herankommen.“ Die Betroffenheit des deutschen Kollegen ist verständlich. Dennoch könnte es hilfreich sein, wenn er anhand dieses Beispiels lernen würde, dass er letztlich seine Kollegen mit europäischen Moralvorstellungen bewertet. Diese müssen aber nicht ohne weiteres auch Gültigkeit für eine andere Kultur haben. Formen der Dankbarkeit müssen nicht universell sein und Hilfsbereitschaft muss sich nicht notwendig auf die gleichen Personen erstrecken, wie es in Europa üblich ist. Das eigene Missbehagen kann freilich mit solchem Wissen auch für den deutschen Kollegen nicht ausgeräumt werden. Es lässt sich vermutlich aber eher ertragen, wenn eine Schuldzuweisung anders oder gar nicht erfolgt.

Maßstäbe für eine erfolgreiche Zusammenarbeit

Seit meinem ersten Einsatz in Togo sind mehr als 50 Jahre vergan­gen. Über mehrere Jahrzehnte war es mir möglich, in Sportfördermaßnahmen der Bundesregierung, durchgeführt vom Nationalen Olympischen Komitee, von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammen­arbeit, von sportwissenschaftlichen Instituten deutscher Univer­sitäten und einer Reihe weiterer internationaler Träger, sportwissenschaftliches und sportpraktisches Fachwissen und Erfahrungen Partnern in der Dritten Welt zu unterbreiten. Es liegt die Frage nahe, ob es überhaupt sinnvoll ist, dass die Bundesregierung Sportexperten in die Länder der Dritten Welt entsendet mit dem Ziel, dem Partner beim Aufbau von Sportstrukturen zu helfen. In der Vergangenheit wurde diese Frage sehr verschieden beantwortet. Blickt man auf die Ziele, die sich z.B. die Bundesregierung in ihren Sportbe­richten bei dieser Aufgabe stellt, so scheint es vernünftig zu sein, Jahr für Jahr deutsche Experten nach Kenia oder Madagaskar, nach Burundi oder Malawi, nach Ruanda oder Ekuador zu schicken. Sie sollen den Einstieg in eine kulturelle Zusammenarbeit mit jenen Staaten eröffnen, mit denen bisher kein engeres Netz kulturel­ler und wissenschaftlicher Beziehungen geknüpft werden konnte. Mit ihrer Arbeit im Sport sollen sie Impulse auf den Entwicklungsprozess insofern geben als angenommen wird, dass durch die Übertragung des im Sport eingeübten Verhaltens von Individuen und Gruppen andere gesellschaftliche Bereiche profitieren. Kommunika­tionsprozesse zwischen verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen soll der Sport herbeiführen, soziale Schranken sollen mittels Sporttreiben abgebaut und auf diese Weise eine Gemein­schaftsbildung bewirkt werden. Von der Sporterziehung wird er­hofft, dass sie zur Dynamisierung der oftmals statischen und entwicklungshemmenden Strukturen in den Entwicklungsländern bei­trägt.

Die Frage, ob die Ziele aber auch wirklich erreichbar sind, ob sie erreicht werden und ob sie letztlich auch wirklich wünschens­wert für die Entwicklung der unterentwickelten Staaten sind, ist bis heute noch nicht befriedigend beantwortet worden. Die Erfolge deutscher Sportentwicklungspolitik, das kann heute nüchtern bilan­ziert werden, sind sehr bescheiden. Diese Bilanz ist insbesondere dann zu ziehen, wenn man als Ziel ein Sportsystem vor Augen hat, das dem der Bundesrepublik Deutschland gleichen soll. Im Ver­gleich zum Zeitpunkt vor 50 Jahren scheint z.B. in Togo und nicht nur dort aus der Sicht der Bundesrepublik die Sportentwicklung zu stagnieren, Entwicklung, mit welchem Ziel auch immer, scheint nicht stattzufinden.

Doch ist diese Art zu werten, Bilanz zu ziehen, und Nutzen zu definieren, überhaupt angemessen?

Nicht nur auf dem Gebiet des Sports ist man schon seit längerer Zeit zu der Einsicht gekommen, dass so manches Entwicklungshilfeprojekt nicht zuletzt deshalb gescheitert ist, weil die sozio-kulturellen Gegebenheiten zu wenig beachtet und berücksichtigt wurden. Oft lag und liegt dies an der Einstellung der Regierungen der Entwicklungsländer selbst, die zu ihrer eigenen Tradition und Geschichte und damit zu weiten Teilen ihrer eigenen Bevölkerung ein sehr gespaltenes Verhältnis haben. Es lag und liegt aber auch an den Entwicklungskonzepten der Ersten Welt, die nicht selten in erster Linie darauf ausgerichtet sind, alte Kulturwerte, Traditionen und ethnologische Befunde zu überwinden. Animismus und Zauberkult müssen aber nicht notwendig ein Entwicklungshindernis sein, wie dies bis heute gerade auch im Sport viel zu häufig noch angenommen wird. Hier soll nicht der ‚Sehnsucht nach Wildnis“ im Sport das Wort geredet werden. Nicht alles, was rational begründbar ist, muss verdächtig und gefährlich sein, Zurückhaltung und Sicherheit im interkulturellen Urteil ist jedoch angebracht. Mit solch einer Einstellung könnte es dann auch möglich sein, draußen in anderen Kulturen das zu finden, was man zu Hause vermisst, ohne sich dabei einer kommerziellen Exotik hinzugeben, in der mittlerweile Afrikanisches ebenso wie Indianisches Hochkonjunktur hat.

„Fremde Kulturen akzeptieren“ darf freilich nicht heißen, die eigene Kultur zu verleugnen. Das verklärte Bild vom guten Wilden ist ebenso ideologisch wie die Auffassung von der selbstverschul­deten Unterentwicklung. Nicht alles ist akzeptabel, was uns fremde Kulturen anzubieten haben, so wie umgekehrt auch unsere Kultur für den Partner nicht immer akzeptabel sein kann. Das Aussetzen neugeborener Säuglinge, das Steinigen von Ehebrecherinnen und rituelle Menschenopfer sind Bestandteile von Kulturen, die es nicht lohnt, dass man sie rückgewinnt, oder anderen Kulturen zur Nachahmung empfiehlt. Kulturelle Identität darf deshalb nicht zum Selbstwert erhoben werden. Der kulturelle Relativismus hat dort seine Grenze, wo Sklaverei, Apartheid oder Faschismus be­ginnen.

Sportiver Ethnozentrismus ist nicht gefragt

Für die interkulturellen Begegnungen auf dem Gebiet des Sports stellen sich solche Grenzen jedoch kaum. Hier ist es sehr viel wichtiger, dass die Repräsentanten des Sports aus der Ersten Welt erkennen, dass die Annahme, nicht selten von olympischen Funktionären vorgetragen, es handle sich beim Sport um einen kulturell homogenen Bereich, selbst mit Blick auf die Heimatlän­der des olympischen Sports grundlegend falsch ist. Nicht von ungefähr wird südländische Ballverliebtheit von geradlinigem englischem Kraftfußball unterschieden. Faustball ist ein eher deutsches Sportspiel, während Krickett und Rugby eher in angel­sächsischen Regionen beheimatet sind und Lacrosse französisch­sprechende Regionen prägt. Solche Unterschiede sind lediglich dann nicht sichtbar, wenn man ethnozentrisch, das heißt aus einer angeblich allein-seligmachenden Perspektive mit einer Ein­heitsbrille die Welt des Sports bewertet.

Diese Perspektiven des Ethnozentrismus aufzugeben, heißt aber auch akzeptieren zu lernen, dass der Sport zum guten Glück nicht überall so perfekt, luxuriös und teuer ausgeübt werden kann und sollte, wie es bei uns zwischenzeitlich üblich ist. Bälle aus Bananenlaub, Sprungseile aus dem Gummi alter Autoschläuche, Staffelstäbe aus Bambusholz, selbstgeknüpfte Tor- und Volley­ballnetze, selbstangelegte Sportanlagen – Beispiele gibt es genug, die deutlich machen, dass es eine Sportkultur auch ohne drei Streifen, ohne DIN-Norm und Kunststoff, ohne Sportluxus und Sportindustrie geben kann.

Der Sport verfügt über die besondere Chance, dass er zwischen Kulturen vermitteln kann, die in ihrem weiteren Entwicklungsprozess nicht mehr getrennt gehalten werden können. Vermittlung heißt jedoch „geben und nehmen“, so zusammenarbeiten, dass beide Seiten ihre Fähigkeiten darstellen können. Die Einbahnstraße, auf der bisher die deutsche Sportförderung viel zu oft erfolgte, muss mit neuen Verkehrszeichen versehen werden. „Achtung! Gegenverkehr“, müsste der Hinweis lauten, der uns auf Experten einer uns frem­den Kultur aufmerksam macht und die zu uns gekommen sind, um unsere eigene Sport- und Bewegungskultur zu erweitern. Nicht Baseball und Tennis, und nicht noch eine und noch eine Diszi­plin bei den Olympischen Wettkämpfen im Schwimmen, in der Leichtathletik oder beim Turnen dürfen dann in die Sammlung der olympischen Sportarten aufgenommen werden, sondern es ist end­lich an der Zeit, dass auch Sportmuster anderer Kulturen, wie z.B. Capoeira oder Sepak Takraw den Zugang zu Olympia erhalten.

Dies ist vor allem auch deshalb von Bedeutung, weil schon seit län­gerer Zeit in einigen Ländern der Dritten Welt auch in kultu­reller Hinsicht ein Umdenken zu beobachten ist. Die alleinige Orientierung des politischen Handelns an den Errungenschaften der Industriegesellschaften hat für die Länder der Dritten Welt gerade auf dem Sektor der Kultur zu einer Bedrohung ihrer eigen­ständigen Tradition geführt. Eine Rückbesinnung auf nahezu in Vergessenheit geratene Spiele und Tänze ist heute deshalb nahezu in jedem Land der Dritten Welt zu beobachten (allerdings wird der Aufwand für den modernen Sport unübersehbar höher und die Rückbesinnung auf die eigenständigen Traditionen ist nicht sel­ten mit touristisch-folkloristischen Motiven verknüpft). Dennoch ist auf diese Weise in der Dritten Welt eine Situation entstan­den, in der der moderne Sport vermehrt einer Spiel- und Bewe­gungskultur begegnet, die ihre eigenen Ansprüche erhebt. Sieht der moderne Sport dies nicht als Gefahr, sondern als Chance, so könnte es in der nächsten Zukunft zu einer interessanten gegenseitigen Beeinflussung und Durchdringung, zu echter kul­tureller Kommunikation und zu wechselseitigem Lernen auch auf dem Gebiet des Sports kommen.

Voneinander lernen „heißt nicht; den anderen zu beherrschen“

Gegenseitiges Lernen als Maxime für Begegnungen mit dem Sporttrei­benden aus Ländern der Dritten Welt sollte jedoch nicht falsch verstanden werden. Lernen wird bei uns viel zu oft gleichgesetzt mit ‚alles möglichst genau wissen‘. Unser wissenschaftliches Welt­bild, von dem selbst jene Menschen unserer Gesellschaft geprägt sind, die sich öffentlich mit einer mittlerweile populär und deshalb attraktiv gewordenen Wissenschaftsfeindlichkeit schmücken, hat uns letztlich eine nimmersatte Neugierde beschert. Nichts soll geheimnisvoll bleiben, gerade auch in der Begegnung mit fremden Kulturen werden Verstehensfeldzüge durchgeführt, die meist nichts anderes im Sinn haben, als damit das nun Verstandene beherrsch­bar zu machen. Marianne GRONEMEYER, eine Theologin aus Bochum, hat diesen Sachverhalt mit einer treffenden Äußerung charakteri­siert: „Verstehen ist oft mit Niederbügeln erkauft“. Was können wir, was sollten Sportexperten in der Dritten Welt aus diesem Hinweis lernen? Im Umgang mit unseren Sportpartnern aus Ländern der Dritten Welt sollten wir versuchen, uns in die Rolle der Part­ner selbst zu versetzen, unseren Sport aus ihrer Sicht betrachten, ihren Sport als gleichwertig mit dem unsrigen einschätzen, Erfah­rungen aufgreifen, die uns nützen, Erfahrungen weitergeben, von denen wir glauben, dass sie unseren Partnern eine Hilfe sind. Wir sollten aber auch die Grenzen des Verstehens akzeptieren, d.h. wir müssen uns in der Achtung von Differenzen, das Akzeptieren von Gegensätzen einüben. In den Unterschiedlichkeiten liegt die Viel­falt der Kultur begründet, nicht in der Einheitlichkeit. Gerade im Sport, angesichts seiner so gefährlichen wie willkommenen Tendenz zur Gleichmacherei, scheint mir dieser Hinweis besonders bedenkenswert zu sein. Viel zu schnell und viel zu häufig gibt es gerade auch in den Begegnungen mit Sportlern und Sportfunktio­nären der Dritten Welt die auch für den deutschen Sport üblichen vorschnellen Umarmungserlebnisse. Der Satz „Wir sind eine Familie“ erzeugt im Sport zu oft ein „Wir sind uns alle einig“, wo eigent­lich Einigkeit gar nicht gefragt ist. Dies gilt nicht nur für die interkulturelle Begegnung im Sport. Was im Sport wünschenswert ist, ist nicht weniger im politi­schen Umgang mit der Dritten Welt in gleicher Weise geboten. Diese Erkenntnis soll abschließend mit einigen bemerkenswerten Ausführungen von Bundespräsident Richard von WEIZSÄCKER ver­deutlicht werden:

„Wenn wir den Menschen in den Entwicklungsländern nur Geld und technische Hilfsmittel bringen, werden sie es genauso passiv entgegennehmen wie heute die Not und Abhängigkeit. Wenn wir kom­men, um sie religiös zu bekehren, dann werden sie es nicht ver­stehen. Wenn wir aber lernen, dass z.B. in ihrem Koran die ethi­schen Antriebe und Ratschläge bis hin zur Familienplanung enthal­ten sind, können wir sie besser unterstützen, selbst aktiv zu werden und sich dabei unserer Hilfsmittel zu bedienen. Hier be­ginnt Entwicklungszusammenarbeit zum wechselseitigen Geben und Nehmen zu werden. Unsere eigene Kultur hat sich im Laufe der Zeit immer stärker vom Denken bestimmen lassen und ist zu einer Art wissenschaftlich-technischer Zivilisation geworden. Nach und nach hat dieses Denken alle ihm fremden Elemente ausgeschieden und mündet konsequenterweise im Computer. Von daher bestimmen sich die meisten unserer Bedürfnisse und Ziele. Wir fühlen uns in dieser Entwicklung anderen Kulturen überlegen. Diese anderen Kul­turen aber haben andere Maßstäbe. Für sie ist nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung maßgebend. Sie bringen keine rechten Winkel hervor. Sie haben ein anderes Verhältnis zu Zeit und Raum, zu lebenden und verstorbenen Ahnen, zum Wesen des Todes. Sie denken an Kräfte und Mächte, die mit dem Falsch-Richtig-Test nicht zu erfassen sind, die wir zu unserem eigenen Unglück oft nicht sehen und die doch ein Verhältnis zur Natur, zum Rang und Wert eines Menschen, zur Ethik des Zusammenlebens erschließen, das wahrhaft menschenwürdig ist. Und jedes Wertmuster, das menschliche Würde ermöglicht, ist richtig, „ist lebensspendend“.“ (Richard von WEIZSÄCKER, in „Der Spiegel“ 12 (1986)).

Letzte Überarbeitung: 24.11.2020