Einflüsse gesellschaftlicher Entwicklungen auf Schule und Sport

Will man das Phänomen des modernen Sports, so wie es sich uns in diesen Tagen zeigt, angemessen nachzeichnen, so ist es hilfreich, wenn man sich an Vergangenes erinnert. Vor 70 Jahren bin ich in Stuttgart zur Schule gegangen. Handball war dabei mein wichtigster Lebensinhalt. In der Schule gab es ein Unterrichtsfach mit dem Namen „Leibesübungen“. Völkerball, Schleuderball, Staffelwettkämpfe, Handball und Fußball waren die beliebtesten Sportspiele. Retter und Schlienz, später dann Waldner und Geiger waren die Idole, die uns der VfB Stuttgart offerierte. 6000 Zuschauer konnte das Dreikönigsturnier im Handball auf den Stuttgarter Killesberg locken. Der grüne Sportbericht wurde Sonntagabends von den Jugendlichen sehnsüchtig erwartet, bei Fußballspielen gab es in regelmäßigen Abständen kleine Dorfkonflikte. Geoffrey Duke war auf der Solitude der ungekrönte Held in der 500 cm3 Klasse, Baltisperger aus Reutlingen war unser nationaler Hero, Max Resch war unser Boxidol und erwartungsvoll blickten wir alle auf die Olympischen Sommerspiele, die 1972 in München stattfinden sollten.

Seit dieser Zeit hat sich das System des Sports auf geradezu revolutionäre Weise verändert. Eine relativ einfache, überschaubare Sportlandschaft hat sich zu einem der bedeutendsten gesellschaftlichen Teilsysteme weiterentwickelt, das sich in seiner Komplexität nur noch mit Mühe überblicken läßt. Die stattgefundenen Veränderungen lassen sich hierbei als ein „Prozess der Versportlichung unserer Gesellschaft“ beschreiben.

Wenn wir die Versportlichung unserer Gesellschaft in den vergangenen 70 Jahren nachzeichnen möchten, so können wir erkennen, daß der Sport „imperiale Züge“ auf- weist. Sport ist mittlerweile in aller Munde. Wo immer in dieser Gesellschaft Kommu- nikation stattfindet, ist die Kommunikation über Sport naheliegend. Ob im Bundestag oder in der Stammkneipe, ob in öffentlichen Medien, in Universitäten oder in Foren und in den sozialen Medien, Sport als Kommunikationsinhalt hat Hochkonjunktur. Sport ist dabei längst zu einem Synonym für die gesamte Bewegungs-, Spiel- und Körperkultur unserer Gesellschaft geworden. Es ist zu einer Ausweitung der Semantik des Sportbegriffes gekommen und man kann allenthalben beobachten, wie Orte mit dem Begriff Sport besetzt und Tätigkeiten mit dem Begriff Sport näher gekennzeichnet werden. Sport steht sowohl für den stillgestellten als auch für den dynamisch sich beschleunigenden Körper, Yoga gehört ebenso unter das Dach des Sports wie die Atemgymnastik, das Joggen und das Wandern, aber auch der harte Kern des Sports existiert nach wie vor, d.h. die traditionellen Sportarten mit ihren kompetitiven Elementen. Alles ist gleichsam Sport geworden. Sport ist mittlerweile auch allerorten. War früher der Sport auf die Anlagen des traditionellen Sports begrenzt – d.h. auf die rechteckigen Turnhallen und die Freiluftplätze, die der Sport über seine Regeln definiert hatte – so wird Sport mittlerweile in der Luft, am Boden und im Wasser betrieben und er zeigt dabei alle Varianten auf, die diese Räume ihm ermöglichen. Neben einer Ausweitung der Räumlichkeiten läßt sich auch eine Veränderung in Bezug auf die Sporttreibenden beobachten. Sport ist heute eine Tätigkeit für jeden Mann und für jede Frau, er hat sich im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Massenphänomen entwickelt. War Sport vor 70 Jahren eine Angelegenheit von jungen Menschen – und dabei vorrangig von jungen Männern und war auch die Umwelt des Sports im Wesentlichen über eine athletische Männlichkeit geprägt, so hat sich dies entscheidend verändert. Dem Sport ist es längst gelungen, nahezu alle Gruppen unserer Gesellschaft mit seinem Angebot zu erreichen. Sport ist somit eine Angelegenheit von der „Wiege bis zur Bahre“: es existieren bereits Sportkindergärten, Sportinternate und Spezialschulen zugunsten des Sports sowie Sportkrankenhäuser – in der Reihe fehlt eigentlich nur noch der Sportlerfriedhof.

Wenn ein Phänomen in dieser umfassenden Weise unsere Gesellschaft tangiert und Massen an sich bindet, so ist es naheliegend, daß der Sport auch eine Sache des Geldes wurde, und wo immer wir heute über Sport diskutieren, diskutieren wir über ihn in Verbindung mit der Frage der Finanzen, mit der Frage nach den Möglichkeiten des Verdienstes und mit der Frage nach den potentiellen Verlusten. Die Ökonomisierung ist prägend für den Sport, so wie er uns heute begegnet. Dabei ist auch die Ökonomie selbst einem Versportlichungsprozess unterlegen. Es ist ein interessanter Austausch diesbezüglich zu beobachten.

Auch die Wissenschaft mit ihrem Expertenwissen hat Einzug in diese interessante und komplexe Welt des Sports gehalten. Immer mehr Wissenschaftler und Teildisziplinen der Wissenschaft beteiligen sich an der Beratschlagung des Sports. Ja, sie profitieren von der Ausdifferenzierung des Sports durch die Entstehung eigener Wissenschaftsprofessionen zu Gunsten des Sports. Insbesondere die Technologie ist dabei ein entscheidender Antriebsmotor für die Sportentwicklung und Technologen mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen sind in der Welt des Sports besonders gefragt.

Sport ist ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und alles, was wichtig wird, ruft auch Konflikte hervor. Verteilungsprobleme und die Frage nach dem „Oben“ und „Unten“ stellt sich auch für das System des Sports und so kann es nicht überraschen, daß der Sport in den vergangenen Jahrzehnten einem umfassenden Verrechtlichungsprozess ausgeliefert war. Nirgendwo wird dies deutlicher als in Fragen des Berufssports, aber auch am Problem des Betrugs und hier insbesondere am Problem des Dopingbetrugs läßt sich diese Entwicklung aufzeigen. Wir stehen am Anfang der Professionalisierung des Sportrechts an den Universitäten, Lehrstühle werden bereits für dieses Feld ausgewiesen und wir können jetzt schon davon ausgehen, daß es zukünftig mehrere–analog zu der Profession des Sportmediziners¹ – Anwaltskanzleien geben wird, die sich als Kanzleien des Sportrechts auf dem Markt offerieren werden.

Sport war auch immer schon eine Angelegenheit der Politik, sowohl aus bestimmten Eigeninteressen heraus als auch aufgrund des politischen Auftrags, der sich durch die Wähler ergibt. Wenn wir die vergangenen 70 Jahre unter dem Aspekt der Sport- entwicklung etwas genauer beleuchten, so können wir erkennen, daß es dabei auch zu einem Zuwachs der politischen Einflußnahme in das System des Sports gekommen ist. In vieler Hinsicht kann man bereits von der naheliegenden Konsequenz sprechen, daß – wie es in anderen Industrienationen bereits üblich ist – auch in Deutschland eine Bundeskompetenz für die Sportpolitik dezidiert ausgewiesen wird.

Wenn man den Prozeß der Versportlichung unserer Gesellschaft genauer betrachtet, so kann man diese Entwicklung als einen Prozeß der funktionalen Differenzierung beschreiben. Der Sport steigert seine Funktionalität, er wird von immer mehr Funktionen, die an ihn herangetragen werden, belastet und in gewisser Weise auch überlastet. Die Ausdifferenzierung läßt sich dabei auf der Seite der Anbieter beobachten. Gab es zunächst nur wenige Anbieter des Sports – dies waren vorrangig die Vereine und Verbände, die gleichsam ein Monopol auf der Angebotsseite aufzuweisen hatten – so sind nun insbesondere auf dem privaten und kommerziellen Sektor viele neue Anbieter hinzugekommen. Gleiches läßt sich auf dem Gebiet der Angebote erkennen. Im Jahre 1950 waren gerade einmal 20 Sportverbände an der Gründung des Deutschen Sportbundes beteiligt.

Heute unterscheidet man im DSB insgesamt 66 Sportverbände, die teilweise mehrere kompetitive Sportarten unter ihrem Dach vereinen (vgl. Tab. 1). Bei Fragen der Städte- und Raumplanung werden heute bereits mehr als 240 Sportaktivitäten, Sportarten und Bewegungsmuster unterschieden, die gleichsam die Angebotsfülle dokumentieren, die den Menschen in unserer Gesellschaft offeriert wird.

19502020
Sportvereine19.87491.250
Mitgliedschaften3,2 Mio.27,8 Mio.
Fachverbände2066
Bevölkerungsanteil6,7%32,48%

Auf der Seite der sporttreibenden Personen ist ebenfalls ein umfassender Prozeß der Ausdifferenzierung im Gange. Wie bereits erwähnt, waren es früher vorwiegend junge Männer, die in ihrer Freizeit sportlichen Aktivitäten nachgingen. Heute erfaßt der Sport alle Menschen und es können vor allem die Frauen als die entscheidende Wachstumskomponente des modernen Sportsystems identifiziert werden. Der Sport hat sich nun aber auch allen Problemlagen zugewandt, was zur Folge hatte, daß nunmehr eine Reihe von Problemgruppen unserer Gesellschaft als neue Zielgruppen in den Sport integriert wurden. Von den Drogenabhängigen über Alkoholsüchtige, von der Ausländern bis zu Straffälligen – man könnte nahezu jedes soziale Problem in unserer Gesellschaft benennen, auf das der Sport in den vergangenen 70 Jahren teilweise sehr erfolgreich, häufig aber auch ohne Erfolg angewandt wurde.

Neben einer Pluralität der Räume, in denen Sport betrieben wird, ist es auch zu einer Ausdifferenzierung der für das Sporttreiben zeitlichen Dispositionen gekommen. Während man früher nach der Arbeit abends zwei- bis dreimal die Woche Sport betrieb und am Wochenende zu Wettkämpfen fuhr, so werden heute Sportangebote zu jeder Zeit für Jedermann zur Verfügung gestellt. Ferner veränderte sich die Finanzierung des Sports, indem nun variable Finanzen eingesetzt werden, im Bereich der Motive für das Sportengagement ist es zu einer Motivvielfalt gekommen und aus institutioneller Sicht prägen in der heutigen Zeit viele verschiedenartige Institutionen und Organisationen das komplexe System des modernen Sports in unserer Gesellschaft (vgl. Abb. 1).

Für den Bürger ist durch die Ausdifferenzierung des Sportsystems eine Optionsvielfalt entstanden, bei der der Sport zum Wahlmenü wurde. Die klassische Pyramide von einst, so wie sie insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren in der Sportsoziologie diskutiert wurde, ist ins Wanken geraten. Das traditionelle Pyramidenmodell mit einer breiten Basis und einer schmalen Spitze ist eingebrochen (vgl. Abb. 2).

An die Stelle dieser Pyramide trat eine komplexe Sportlandschaft, die sich derzeit in einem Übergangsprozeß befindet. Eine Tendenz ist dabei zu erkennen. Es entstehen Teilsysteme im System des Sports, wobei zum heutigen Zeitpunkt sicher noch nicht von geschlossenen Systemen gesprochen werden kann, da sich noch nicht spezifische Codes ausmachen lassen, aber die Teilgebildeentwicklung ist unaufhörlich im Gange.

In meinen Arbeiten wird in fünf verschiedene Sportmodelle unterschieden. Konjunktur haben hierbei insbesondere der „Sport ohne organisierten Wettbewerb“, der „instrumentelle Sport“ sowie der „Berufssport“, welcher vor allem in den Medien die Aufmerksamkeit genießt und die Zuschauermassen fasziniert (vgl. Abb. 3).

Die Entwicklung, die ich aufzuzeigen versuchte, könnte auch auf eine etwas karikaturhafte Formel gebracht werden: Das freche „frisch, fromm, fröhlich, frei“ eines Turnvater Jahns ist in der Versportlichung unserer Gesellschaft von den vier P ́s abgelöst worden: „Product, Price, Placement and Promotion“. Die vier M’s „Markt, Medien, Mode, Medizin“ wären noch hinzuzufügen, da sie die wichtigsten Antriebkräfte in der aktuellen Entwicklung des Sports darstellen.

Die Ursachen für diese Entwicklung lassen sich relativ einsichtig kennzeichnen. Der materielle Lebensstandard wurde seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für viele Gruppen in unserer Gesellschaft beträchtlich erhöht. In seiner Folge entstand ein entsprechender Massenkonsum, der sich teilweise bereits zum Luxuskonsum entwickelt hat. Handlungsfreiheiten, um am Konsum teilhaben zu können, wurden durch die Teilnahme am Arbeitsmarkt gesichert. Deshalb hat der Arbeitsmarkt auch nicht an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Heute ist es mehr denn je wichtig, über Arbeit zu verfügen. Die Dynamik des Arbeitsmarktes erzwingt Mobilität, was wiederum die Bindungskraft sozialer Netzwerke abschwächt. Auf einen Nenner gebracht heißt dies: Unsere Gesellschaft ist durch diese Entwicklung äußerst komplex geworden. Im Prozeß zunehmender Ausdifferenzierung wird in den Teilsystemen dieser Gesellschaft immer häufiger nur Funktionsspezifisches angesprochen, der Mensch kann immer nur vorübergehende Teilbindungen eingehen: als Arbeitnehmer, als Nachbar, als Wähler, als Sporttreibender, als Urlauber. „Flexibilität“ ist die Maxime der Stunde.

Der Prozeß der Ausdifferenzierung hat den Menschen in vieler Hinsicht genützt. Immer mehr Menschen verfügen über mehr Autonomie als früher; immer mehr Menschen finden Ausdrucks- und Entfaltungsräume, die ihnen früher versperrt geblieben sind, und immer mehr Menschen können auf finanzielle Möglichkeiten zurückgreifen, die ihnen individuelles Wahl- und Entscheidungshandeln gerade auch im Freizeitleben eröffnet. Die Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren und sind noch immer vielversprechend: „Jederzeit Freizeit zu haben, als kreativer Mensch zu handeln, Arbeit und Vergnügen als Einheit zu erleben, Entlohnung nicht nur durch Arbeit, sondern auch durch Anerkennung und Zuneigung zu erhalten, sich sozial zu engagieren, unbekümmert zu lachen, ungeniert zu weinen, philosophisch unabhängig zu sein, fähig sein zur Liebe und sich selbst zu finden“, wer wollte dies nicht für sich in Anspruch nehmen (vgl. ROBERTSON 1989). Leistet der Sport dabei einen wichtigen Beitrag, so kann dies nur wünschenswert sein. Wer wünscht sich nicht Kreativität als Lebensstil, wer plädiert nicht für Toleranz, Offenheit, Wahrhaftigkeit und eine größere Breite von akzeptablem Verhalten?

Die heute beobachtbaren Tendenzen lassen sich auf vielfältige Weise interpretieren. In einer positiven Sichtweise läßt sich dies als wünschenswerter globaler Wandel verstehen, in dem sich ein neues Verständnis von Arbeit, Familie, Kultur und Gesellschaft ausdrückt. Es findet dabei eine Hinwendung zu einem am persönlichen Nutzen orientierten Lebenssinn statt. Aber auch die Tendenz zu einem expressiven Individualismus wurde unübersehbar. Dieser Individualismus formuliert eine neue Version des geglückten Lebens, nämlich die Sehnsucht, nicht selbst zugunsten

übergreifender gesellschaftlicher Ziele und Ansprüche vereinnahmt und geopfert zu werden.

Wenn unsere Gesellschaft sich durch diese Veränderungen auszeichnet, so müßte es eigentlich folgerichtig sein, wenn auch der Sport dieser Tendenz entspricht, seine Angebote modernisiert und individualisiert und somit dem Menschen in seiner Wahl- freiheit gerecht wird. Blicken wir auf die letzten Jahrzehnte zurück, so hat genau dies im System des Sports stattgefunden. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob der derzeit eingeschlagene Weg der Sportentwicklung der einzig richtige ist. Was das 20. Jahrhundert in besonderer Weise auszeichnete, war eine nahezu zwanghafte Modernisierung all dessen, was gestern als modern gegolten hat. Diese Modernisierung zeigt sich uns auch heute noch in allen Teilen unserer Gesellschaft. Besonders deutlich ist sie im politischen, ökonomischen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Bereich zu erkennen. Die Modernisierung selbst setzt sich dabei vorrangig über bestimmte Entwicklungsprozesse durch; fünf sind in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert:

Da ist zunächst die Aufwertung des Individuums zu benennen, wie sie in den ver- gangenen Jahrzehnten in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften erfolgte. Dabei kommt es über den bereits erwähnten Prozeß der Individualisierung zu einer sukzessiven Erosion ehedem relativ fester und von Generation zu Generation tradierter Lebensgemeinschaften. Ulrich BECK sprach deshalb von der Freisetzungsdimension, die den Prozeß der Individualisierung prägt (vgl. BECK 1986). Es kommt ferner zu einer Enttraditionalisierung von handlungsleitenden Beständen und kulturellen Normen. Traditionelle Wissensbestände werden irrelevant und durch neue ersetzt, ehemals relevante Glaubenssätze werden überflüssig. BECK bezeichnete dies als die Entzauberungsdimension. Angesichts von Freisetzung und Entzauberung ist es nicht weiter überraschend, daß es zu einer Aneignung neuartiger sozialer Einbindungsformen als Reaktion auf die Auflösungstendenzen kommt. Dies könnte man als Re-Integrationsdimension bezeichnen.

Ein zweites Merkmal, das die Modernisierung unserer Gesellschaft prägt, ist die immer durchgreifendere Rationalisierung unseres Denkens und Handelns. Die Handlungsgrundlagen der Menschen werden dabei immer entschiedener von wertra- tionalen Entscheidungsstrukturen bereinigt und durch zweckrationale Entscheidungen ersetzt. Gesinnungsethische Leitideen werden nach und nach von funktionalistischen Effektivitätserwägungen abgelöst. Das Leben wird zunehmend zu einer Input- /Output-Kalkulation.

Mit dieser weitreichenden Rationalisierung unserer Handlungsgrundlagen geht die Ökonomisierung unseres Lebens einher. Persönlicher Nutzen und Maximierung des eigenen Vorteils werden zum obersten Gebot menschlichen Handelns. Die Nutzen- erwartung wird dabei in Relation zu nötigen Aufwendungen gesetzt. Kosten-/ Nut- zenkalküle werden zum Merkmal des Alltags. Sie lassen sich bei Kindern ebenso wie bei Jugendlichen und Erwachsenen beobachten; sie finden in der Schule, im Arbeitsleben und in der Freizeit. Das Ausnutzen von Privilegien und damit in gewisser Weise immer auch der Auszug aus der Solidargemeinschaft wird zum gängigen Merkmal heutiger Alltagspraxis. Gekonnte Kosten-/Nutzenkalküle werden zum Qualitätsmerkmal für kompetentes Handeln. Das Leben wird durchkapitalisiert und vermarktet.

Angesichts solcher Veränderungen liegt es nahe, daß die Frage nach Recht und Unrecht zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ein besonderes Kennzeichen der Modernisierung der Moderne ist deshalb ihre zunehmende Verrechtlichung; es kommt zu neuen Hierarchie- und Gewaltverhältnissen zwischen ihren Mitgliedern. Die Verrechtlichung erreicht dabei alle Lebensbereiche, insbesondere die sozialen und kulturellen Sektoren unserer Gesellschaft; auch die Privatsphäre ist zunehmend von Fragen des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts betroffen.

Schließlich ist als fünfter bedeutsamer Trend jener zu erwähnen, der mit dem Begriff der Globalisierung zu erfassen versucht wird. Die Globalisierung hat ihren Ursprung in den Industrieunternehmen, und sie ist bis heute im Wesentlichen auf diesen Bereich beschränkt geblieben. Empirisch zeigt sich uns die Globalisierung über grenzüberschreitende Transfers von Geld, Waren, Dienstleistungen und Know-how. Belege für diesen Globalisierungsprozeß sind ausländische Direktinvestitionen, internationale Kooperationen auf Firmenebene, die sich wandelnde Struktur des internationalen Handels und die Globalisierung der Finanzmärkte. Die zunehmenden ausländischen Direktinvestitionen sind vorrangig auf technologischen Wandel, auf makroökonomische strukturelle Divergenzen und auf staatliche Politik zurückzuführen. Nicht zuletzt hängen sie mit den sinkenden Kosten für Kommunikation zusammen, die die wesentliche Grundlage des Globalisierungsprozesses bilden. Globalisie- rung zeichnet sich somit vor allem durch einen neuen Arbeitsmarkt aus, in dem traditionelle Einflüsse zurückgehen und die Arbeitsstandards in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften unterminiert werden. Das Ökonomische dominiert dabei alles. Politisch befindet sich die aufkommende neue Weltgesellschaft in einer Art Naturzustand. Nahezu auf anarchische Weise kämpfen dabei alle gegen alle, suchen ihre individuellen Vorteile, und Rechtsnormen müssen sich erst mühsam bilden.

Angesichts dieser Entwicklungen macht es Sinn, in Bezug auf die heutige Zeit von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Dieser Wechsel ist vergleichbar mit der Ablösung der Agrarwirtschaft durch die Industrielle Revolution. Der sich abzeichnende Wechsel vom Industriezeitalter zur Informations-, Wissens- und Kommunikationsgesellschaft wird alle Menschen erfassen, die Industrie und alle in ihr Beschäftigten, die Arbeitslosen, das Privatleben und die Freizeit. Bei diesem sich abzeichnenden Paradigmenwechsel wird es einige Schlüsselentwicklungen geben, die für die ganze Welt zu beachten sind. Wachstum wird dabei nicht notwendigerweise an jenen Orten stattfinden, die für das 20. Jahrhundert bedeutsam gewesen sind. Dank der neuen Möglichkeiten zur elektronischen Datenverarbeitung und mittels neuer Kommunikationstechnologien gibt es nun völlig neue Wachstumsmuster für die Volkswirtschaften der Welt. Es gibt Räume, in denen Aufschwung zu beobachten ist, und es gibt bereits Räume, die sich durch Niedergang auszeichnen. Der herkömmliche Nationalstaat, das wird immer deutlicher, verliert dabei an Steuerungskraft, um über Fragen des Aufschwungs oder des Abschwungs entscheiden zu können. Es sind regionale Wirtschaftsräume in einer Welt ohne Grenzen entstanden, und in ihnen wird operiert und Handel getrieben. Der Schlüssel zum Wohlstand im 21. Jahrhundert liegt dabei offensichtlich darin, daß sich das Denken und Handeln über Telefonleitungen und über die neuen Medien der Satellitenkommunikation ereignen wird. Folgt man dem japanischen Ökonomen Kenichi Ohmae, so werden Regionen, die nicht von einer Bevölkerung mit einer gemeinsamen Vision getragen sind, bei diesem Paradigmenwechsel kaum eine Chance haben. Sie werden von der übrigen globalen Gemeinschaft verschlungen und überflüssig gemacht.

Wird unsere Gesellschaft im Übergang in ein neues Jahrtausend von diesen Trends geprägt, so stellt sich nun die Frage, wie der Sport als eines der erfolgreichsten Kul- turphänomene des 20. Jahrhunderts von ihnen betroffen ist. Ein Blick in den Spiegel des Sports der vergangenen Jahrzehnte kann uns dabei eine Antworthilfe sein. Allgemeine Aspekte des sozialen Wandels sind dabei ebenso zu erkennen wie spezifische.

Was zeigt uns ein Blick auf den Sport der vergangenen Jahre? Das Bild, das sich uns zeigt, ist gespalten. Wir erkennen einige markante positive Entwicklungen, wir erkennen aber auch Probleme, die möglicherweise das Leben im Sport in den nächsten Jahren begleiten und belasten könnten. Sieben Aspekte sollen hervorgehoben werden:

  1. Da ist zunächst zu erkennen, daß gerade auch im Sport die Ideologie des Marktes an Bedeutung gewinnt. Marktapostel haben ihre Sternstunden. Die Durchö- konomisierung aller Lebensbereiche schreitet voran. Dies begünstigt die bereits vorhandene Individualisierungsspirale und zeigt eine Moderne, die von der Grundfigur des Alleinstehenden, des Singles, beherrscht wird. Das heißt aber auch, dass die „Konstruktionen der Selbständigkeit“ zu „Gitterstäben der Einsamkeit“ geworden sind (BECK 1991, 6).
  2. Im Spiegel des Sports sieht man zum zweiten, daß der Prozeß der Enttabuisierung von Handlungsmustern und Lebenssphären auch im Sport stattfindet und die Zunahme der Wahlfreiheiten für das Individuum und eine gleichzeitige Schwächung der traditionellen Bindungen weiterhin prägend sein wird. Vermehrt entsteht damit aber auch ein Entscheidungszwang für den einzelnen. Die durch Unterhaltungs-, Konsum- und Medienindustrie inszenierten Lebensstile sind zu Orientierungspunkten und Nachahmungsobjekten für viele geworden. Besondere Bedeutung hat die Betonung von Differenzen. Nicht Identität und Einheitlichkeit sind gefragt, sondern eher Verschiedenartigkeit, Einzigartigkeit, verbunden mit eigenwilligen Formen der Stilisierung.
  3. Drittens kann man im Spiegel des Sports jene Probleme erkennen, die wir als Krise der menschlichen Zeiterfahrung bezeichnen können. Die noch immer fort- schreitende Arbeitsflexibilisierung hat nur für wenige ein höheres verfügbares Einkommen, mehr individuelle Freizeit und mehr persönliche Zeitsouveränität gebracht. Dem größeren Teil der Beschäftigten beschert sie mehr Nacht- und Schichtarbeit, mehr Samstags- und Sonntagsarbeit und eine verstärkte Isolierung und Abkopplung von gemeinsam verbrachter Lebenszeit. Der einzelne mag dabei reicher an Gütern und Diensten geworden sein, aber wir alle leiden zunehmend unter Zeitnot. Der Sport ist dabei in besonderer Weise betroffen. Immer mehr Menschen sehnen sich deshalb nach einer Zeitordnung, die dem organischen Rhythmus des Menschen und den zyklischen Bewegungen der Natur gerecht wird.
  4. Ferner sieht man die Massenmedien und dabei vor allem das Fernsehen, das dank einer fatalen Einfallslosigkeit noch mehr als bislang nahezu ausschließlich von den Prinzipien des Marktes geprägt wird. Mit der Vergeßlichkeit ihrer Rezipienten rechnend, von der Kurzlebigkeit des Zeitgeistes geprägt, beeinflußt das Fernsehen die Wahrnehmungsmuster seiner Rezipienten, manipuliert mit einem vordergründigen Unterhaltungsinteresse seine Botschaften und verkauft damit höchst fragwürdige Produkte. Die Sportberichterstattung spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Motiven des Sporttreibens und den Motiven, welche durch die Medien dargestellt werden, wird immer problematischer.
  5. Auffallend für unsere derzeitige Lage ist die Renaissance des Nationalen. Wo immer im Sport Nationenvergleiche stattfinden – bei Olympischen Spielen, bei Welt- und Europameisterschaften –, läßt sich dies beobachten. Doch die dabei zu erkennenden Nationalismen leben meist von Bildern der Vergangenheit, die die Gegenwart und die Zukunft in ein falsches Licht rücken. Nicht nur Osteuropa und der Nahe Osten zeigen uns dabei, daß Märkte wohl globaler werden können, daß aber gleichzeitig unter der Decke der scheinbar globalen Weltkultur in immer heftigerer Weise zivilisatorische Lebenswelten aufeinanderstoßen, die nicht die Integration, sondern die Separation zu ihrem Programm erhoben haben.
  6. Die Kluft zwischen arm und reich im System des Sports vergrößert sich. Dadurch erhöhen sich auch die Risiken. Davon betroffen ist insbesondere die Finanzierung der Vereins- und Verbandsarbeit. Es ist dabei auch die Gefahr zu erkennen, daß der Sport als Konsumgut mit seinen Sportarten zu einer austauschbaren Wegwerfware wird. Dabei werden seine ethisch-moralischen Grundlagen brüchig und er verliert zunehmend seine Authentizität.
  7. Besonders problematisch ist die aktuelle Situation des Schulsports. Es stellt sich dabei die Frage nach einer reformierten Schule und damit nach einem reformierten Sporttreiben in einer neugestalteten Schul- und Lebenswelt.

Nicht nur das öffentliche Schulwesen steht in diesen Tagen auf dem Prüfstand. Warum können unsere Schüler nicht genügend lesen, warum mangelt es an grundlegenden mathematischen Fähigkeiten, warum ist unsere Schule von einer nicht hinnehmbaren sozialen Ungleichheit geprägt? Diese Fragen sind zu stellen und es bleibt nur zu hoffen, daß bei der Beantwortung dieser Fragen nicht die vorschnelle Besserwisserei sich einmal mehr durchsetzen kann, wie dies in den vergangenen fünfzig Jahren viel zu häufig der Fall war. Es kommt nicht von ungefähr, daß man in der Pisa-Studie die Schüler keinem sportmotorischen Fertigkeitsvergleich unterzogen hat. Wäre es der Fall, so würden vermutlich eine ganze Reihe von Mängeln des Schulsports offensichtlich, die freilich nicht nur hier in Deutschland zu beobachten sind.

Blicken wir in vergleichender Weise zurück auf die Entwicklung des Sports als Unter- richtsfach im öffentlichen Schulwesen, wie ich dies eingangs für die Entwicklung des Sports im Allgemeinen getan habe, so kann durchaus von einer interessanten Karriere dieses Faches berichtet werden.

1956, als erstmals Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung an den Schulen verabschiedet wurden, da hieß das Fach noch Leibesübungen. Man nannte die Lehrer dieses Faches „Turnlehrer“ und im Alltagssprachgebrauch wurde der Unterricht als „Turnunterricht“ bezeichnet. 2 Stunden Turnunterricht war dabei bezeichnend und das Turnen war vorrangig ein praktisches Fach. Seine Inhalte waren im wesentlichen Turnen, Gymnastik, Spiel, Sport und Wandern, wobei im Sport lediglich die Sportarten Schwimmen und Leichtathletik einen Platz in diesem Unterricht haben konnten. Es ging um die Gehalte des Beherrschens, Übens, Gestaltens, Spielens, Kämpfens, Leistens, Wetteiferns, aber auch besondere Natur- erlebnisse wurden angestrebt. Die Schüler übten sich in den Rollen des Turners, des Gymnasten, des Spielers und des Wettkämpfers. Zwischenzeitlich hat sich vieles verändert. Mittels zweier Aktionsprogramme versuchte man den Schulsport neu zu justieren.

Betrachten wir heute das Fach im öffentlichen Schulwesen, so sprechen wir vom Sport, vom Sportunterricht, vom Sportlehrer, 3 x 45 Minuten findet das Fach viel zu selten statt, es ist ein praktisches und theoretisches Fach. Es wird ein Pflichtbereich mit den Sportarten Gerätturnen, Gymnastik/Tanz für Mädchen. Leichtathletik, Schwimmen und mit den Mannschaftssportarten Basketball, Fußball, Handball und Volleyball unterschieden. Daneben gibt es einen Wahlbereich und eine Sporttheorie. Es gibt ohne Zweifel viele gute Argumente, die uns die Bewertung nahelegen, daß man die vergangenen fünfzig Jahre als eine positive Entwicklung dieses Unterrichtsfaches interpretieren könnte. Dies gilt vor allem für die Aufwertung des Berufsbildes, für die Anerkennung des Faches, nicht zuletzt auch für die räumlichen Voraussetzungen, in denen dieser Unterricht stattfindet. Dennoch: die Klagen über die aktuelle Situation des Schulsports sind umfassend. Zu wenig Sportunterricht, zu wenige Sportlehrer, überfüllte Sportklassen, überfrachtete Sportlehrpläne, häufiger Unterrichtsausfall, Erziehungskonflikte mit Kindern aus zerrütteten Familien, mit Kindern Alleinerziehender, mit Einzelkindern und Ausländerkinder, Entwicklungsschwierigkeiten und -störungen, Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit, der Arbeits-, Übungs- und Leistungsbereitschaft, zu hoher Fernsehkonsum, Zunahme von Gewalttätigkeiten gegen andere und Sachen und was vor allem ganz spezifisch den Schulsport betrifft : immer deutlicher sichtbar werdende Mängel in der Motorik der Kinder, gesundheitliche Frühschäden, Bewegungsmangel, Mangel an Sozialerfahrung, Spielmangel, Sportmangel.

Schon seit längerer Zeit findet auch ein sportpädagogische und fachdidaktische Dis- kussion statt, die den Sportunterricht in Frage stellt. Der Sportunterricht soll durch ein Fach „Gesundheitserziehung“ ersetzt werden, andere möchten ihn in „Körpererziehung“ umbenennen, eine dritte Gruppe plädiert für ein Fach „Bewegungserziehung“. Auf dem Prüfstand steht dabei ein Sportunterricht, in dem vorrangig die Sportarten die wichtigsten Inhalte des unterrichtlichen Handelns darstellen. Mit durchaus bedenkenswerten Argumenten wird gar für eine Abschaffung des Faches argumentiert, zumindest sollte auf die Notengebung verzichtet werden und der Unterricht sollte freiwilligen Charakter haben. Viele Anliegen, die in dieser pädagogischen Diskussion vorgetragen werden, sind ohne Zweifel berechtigt, wenngleich ich die vorgelegten fachdidaktischen Konzeptionen zu einer Neuorientierung des Faches terminologisch als unlogisch, inhaltlich als widersprüchlich und deshalb nicht als tragfähig empfinde. Ein Unterrichtsfach an den Schulen sollte an den Inhalten gemessen werden, die ihm vorgegeben sind und es sollten ihm nicht ungelöste Probleme angelastet werden, die dieses Fach nicht zu verantworten hat. Möglicherweise ist es notwenig, daß ergänzend zum Sportunterricht dem Fächerkanon des öffentlichen Schulwesens das Fach „Gesundheitserziehung“ hinzugefügt wird. Angesichts der mangelnden Soziabilität könnte es auch notwendig sein, ein Fach „Sozialerziehung“ ergänzend zu diskutieren. Wer diese Fächer jedoch an Stelle des Sportartenunterrichts setzen möchte, der sollte dies deutlich zum Ausdruck bringen. Man müßte ihm dann freilich auch erklären, welch pädagogischer Verlust auf diese Weise für die Schule eintreten würde.

Für mich hat mit den Worten Ommo Grupes gesprochen die Schule eine prinzipielle Verantwortung für unsere Kultur und damit auch für das Kulturgut Sport. Dabei handelt es sich um eine pädagogische Verantwortung, denn der gesellschaftliche Auftrag unserer Schule ist ein ausdrücklich pädagogischer Auftrag. Schule sollte und kann eine Instanz der Sinnvermittlung sein. Das Kulturgut Sport mit seinem vielfältigen Sinn sollte deshalb in der Schule auch zukünftig, erhalten, gepflegt, weitergegeben und möglichst auch verbessert werden. Will die Schule dieser Verantwortung gerecht werden, so ist es eine wesentliche und unverzichtbare Bedingung, daß den Schülern ein quantitativ ausreichend und qualitativ anspruchsvoller Sportunterricht unterbreitet wird. Dieser Unterricht hat das notwendige Minimum an Voraussetzungen für die körperliche, gesundheitliche, emotionale und soziale Erziehung der Schüler und Schülerinnen zu sichern. Die heute nur selten realisierten drei Stunden Sportunterricht wären dabei das absolute Minimum.

Der Schulsport ist dabei jedoch mehr als Sportunterricht. Der Schulsport kann das notwendige „Mehr“ ermöglichen, wenn es die Verantwortlichen in der Schule selbst wollen und wenn die politischen Rahmenbedingungen erfüllt werden. Die Lösung für das „Mehr“ ist im außerunterrichtlichen Schulsport zu suchen und dabei kommt der Zusammenarbeit mit den Turn- und Sportvereinen eine herausragende Bedeutung zu. Dies bietet sich schon allein deshalb an, weil die große Mehrzahl der Schüler in Vereinen organisiert sind. Aber es ist vor allem auch deshalb sinnvoll, weil die Vereine selbst neben der Schule eine bedeutsame Erziehungs- und Sozialisationsinstanz in unserer Gesellschaft darstellen, auf deren Zusammenarbeit die Schule nicht verzichten darf (vgl. GRUPE 2000, 113-142).

Der Sportunterricht darf in unserem öffentlichen Schulwesen nicht als ein Fach unter anderen Fächern verstanden werden. Die sportliche Erziehung der Schule muß vielmehr auch zukünftig als ein eigenständiges Prinzip der Erziehung erkannt werden, das der Schule Wege und Anlässe bietet, den Zielen schulischer Erziehung im ganzen gerecht zu werden. Leider ist in den letzten zwanzig Jahren der erzieherische Anspruch des Faches immer weiter in den Hintergrund getreten. Sport ist vielmehr ein „Fach unter Fächern“ geworden. Sport hat nun gleiche Rechte wie alle anderen Fächer auch. Im Sportunterricht konzentriert man sich auf die Vermittlung sportmotorischer Fertigkeiten, man verzichtet weitgehend auf fachübergreifende Ansprüche, orientiert sich an Sportarten oder beschränkt sich auf die Vermittlung von Freude und Spaß. Positiv gedeutet könnte man diesbezüglich von einer selbstgenügsamen Ausrichtung des Sportunterrichts sprechen. Angemessener wäre es jedoch, daß möglichst schnell erkannt wird, daß auf diese Weise die pädagogische Qualität des Sportunterrichts und des Schulsports in Frage gestellt wird. Die Sportarten als die ausgewählten Inhalte des Sportunterrichts und des Schul- sports sind dabei keineswegs das Problem, so wie es viele Kritiker meinen.

Die Schule kann die Welt des Sports, so wie sie außerhalb der Schule anzutreffen ist, weder abbilden noch umfassend widerspiegeln. Insofern stellt sich für das unterrichtliche Handeln im Schulsport das Problem der Auswahl der Inhalte in prinzipieller Weise. Berücksichtigt man dabei die bislang geführten pädagogischen Debatten über das Auswahlproblem, so lassen sich verschiedene Lehr-Lern-Muster erkennen, die die Lösung des Auswahlproblems gewährleisten. Das „exemplarische Lehren und Lernen“ hat sich dabei über Jahrhunderte bewährt. Das „Lehren und Lernen am Modell“ ist ebenso wichtig wie das „mehrperspektivische Lehren und Lernen“. „Qualifizierendes und emanzipatorisches Lehren und Lernen“ sind zwingend notwendig und „verkürzendes Lehren und Lernen“ sind angesichts überzeugender historischer Lehr- und Lernerfolge für alle Fächer im öffentlichen Schulwesen empfehlenswerte Prinzipien. Nicht jede Variante des Sports kann somit den Weg in den Schulsport finden und nicht jede dieser Varianten ist für den Schulsport wünschenswert. Nur der pädagogisch wünschenswerte Sport gehört in die Schule. Pädagogisch wünschenswert ist ein Sportmuster, wenn in ihm das sportliche Leisten, das Können, das Üben, das Trainieren, die Konzentration, das beharrliche Einlassen auf eine Sache und das sich Zurechtfinden in sportspezifischen Zusammenhängen erfahrbar sind. Faires und den Regeln entsprechendes sportliches Handeln muß dabei ein Ziel des Schulsports sein, das in seiner grundlegenden Bedeutung für dieses Fach nicht hoch genug bewertet werden kann. Regeln lernen, Regeln einüben, Regeln einhalten und Regelbewußtsein muß für jeden Schulsport inhaltliche Maxime werden. Für den Sportunterricht wird man dabei nicht umhinkommen, seine Ansprüche zu reduzieren und die Frage nach den verantwortbaren Inhalten neu zu beantworten. Weniger könnte dabei mehr sein und Sportarten, die Inhalt des Sportunterrichts sind, sollten zumindest einigen Bedingungen genügen.

In ihnen sollten möglichst vielseitige körperliche Anforderungen bestehen, es sollte eine möglichst breite Palette an Bewegungsmöglichkeiten und sportlichen Hand- lungsmöglichkeiten sich in ihnen eröffnen und dennoch sollte der Zugang zu diesen Sportarten auf möglichst leichte Weise gewährleistet sein.

Es werden in diesem Sportunterricht Muster benötigt, bei denen mit Hilfe der sportlichen Bewegung ein objektiv nachweisbares Resultat erzielt wird, es werden aber auch sportlichkünstlerische Inhalte den Schülern zu unterbreiten sein, die auf Optimierung der Bewegungsschwierigkeit und Bewegungsqualität ausgerichtet sind. Und schließlich benötigt man die sportlich-spielerischen Inhalte, die mit Hilfe der Bewegung den fortgesetzten Vergleich mit einem unmittelbaren Gegner erlauben (vgl. Abb. 4). Beschränkt man sich auf diese von SÖLL genannten Grundverhaltensweisen, so denke ich, ist ein ausreichend pädagogisch nachvollziehbares Kriterium vorgegeben, das tragend für die Ausrichtung des Sportunterrichts sein könnte (vgl. SÖLL 1996).

Sport, Spiel und Bewegung müssen dabei aber nicht nur den Sportunterricht prägen, vielmehr müssen Sport, Spiel und Bewegung das Schulleben in ganz wesentlicher Weise kennzeichnen. Schule sollte sich als eine spezifische Lebenswelt auszeichnen, in der dem Sport eine herausragende Bedeutung zukommt. Kreative und phantasievolle Lösungen sind dazu vonnöten. Die Sportlehrer müßten dabei bereit sein, sich über den Unterricht hinaus für die Verwirklichung eines sportiven Schullebens zu engagieren. Den Schülerinnen und Schülern müßte die Möglichkeit eröffnet werden, daß sie sich selbst organisieren können. Den Vereinen muß die Kooperation mit den Schulen nahegelegt und erleichtert werden. Den Eltern muss eine Mitarbeit dort eröffnet werden, wo sie sich mit ihren spezifischen Kompetenzen einbringen können. Ältere Schüler trainieren jüngere Schüler und zeigen damit, was sie selbst an bedeutsamem Wissen und Können erworben haben. Sportbegeisterte Väter und Mütter bringen sich mit ihrem speziellen Wissen und Erfahrungen ein und der Sport wird auf diese Weise zu einem Identitätsmerkmal jeder öffentlichen Schule. Sporttreiben findet in der Pause, in der Freistunde, an Nachmittag, an Abenden, an Wochenenden und in den Ferien statt, es gibt innerschulische und zwischenschulische Spiel- und Sportwettbewerbe, eine „hall of fame“ im Foyer der Schule, Skiaufenthalte, Wanderungen, sportliche Talente werden gepflegt, gefördert und betreut, aber auch den sportlich Schwachen kommt eine fördernde Betreuung zu. Schülermentoren haben nicht mehr Modellcharakter, sondern sind alltägliche Realität, Übungsleiter aus Vereinen helfen mit und Schüler-Sportvereine sind eine naheliegende Konsequenz selbstverwalteter demokratischer Teilnahme. Nur über eine Ausweitung des Sportunterrichts in den Schulsport hinein kann der Schulsport seinen pädagogischen Auftrag gerecht werden. Die Fülle des Sports und die Vielfalt der Sportarten kann nur außerunterrichtlich in angemessener Weise das Schulleben prägen. Das „Fundamentum“ obliegt dem Sportunterricht, das „Additum“ könnte vielfältig und müßte vor allem wandlungsfähig sein. Ob die von mir hier skizzierten Ziele einer Schulsportkultur erreicht werden können, hängt von vielem ab: der Leitung einer Schule kommt wohl die wichtigste Bedeutung zu, die den Schulen zur Verfügung gestellten Sportanlagen mit ihren verschiedensten Sportgelegenheiten sind gewiß nicht weniger grundlegend. Entscheidend ist jedoch, ob Lehrer, Schüler, Eltern und jene, die die Schule zu verantworten haben, zur grundlegenden Übernahme von Verantwortung bereit sind. Ist man dies, so kann von jedem schon heute die Sache angepackt werden, ohne daß man wartet, bis endlich der andere den ersten Schritt tut.

Das deutsche Bildungswesen ist u.a. dank der PISA-Studien nunmehr immer wieder in aller Munde und die Politiker der Parteien haben es schon immer gewußt, was der richtige Bildungsweg ist, nur ist man ihnen ganz offensichtlich nicht gefolgt. Die Stellungnahmen der Kultusminister der 16 Bundesländer haben eine gemeinsame Qualität, sie sind sich alle sicher, daß sie das Richtige tun und das die beklagten Versäumnisse immer vom politischen Gegner verursacht wurden. Diese Reaktion ist das eigentliche Erschreckende in diesen Tagen. Die Diagnosen der Pisa-Studien selbst, konnte nur „Blinde und Blauäugige“ überraschen. Die Probleme unseres öffentlichen Schulwesens waren und sind hinlänglich bekannt. Dennoch ist nachvollziehbar, warum die Befunde, die uns vorgelegt werden von vielen als erschütternd empfunden wird. Deutsche Schüler verstehen Texte schlechter als ihre Altersgenossen, in keinem anderen Industrieland gibt es so viele Bildungsverlierer wie in Deutschland und nirgendwo sind die Unterschiede zwischen guten und schlechten Schülern so groß wie hier zu Lande. Der eigentliche Skandal ist jedoch die Kopfnote, die die internationalen Forscher dem deutschen Bildungswesen gegeben haben. Das deutsche Schulsystem ist ungerechter als jedes andere, nirgendwo haben es die Schüler aus unteren sozialen Schichten so schwer ihre geistigen Fähigkeiten zu entfalten, wie in der Bundesrepublik. Nimmt man diesen Befund ernst, so muß begriffen werden, daß die Misere des deutschen Bildungswesens, weder mit besseren Studiengängen, noch mit Lehrerfortbildungsmaßnahmen, mit keiner Reduzierung der Schulzeit und auch nicht mit verfrühtem Fremdsprachenunterricht gelöst werden kann. Notwendig ist ein finanzielles Bekenntnis zur Bildung. Notwendig ist, daß die Schule jene Ausstattung erhält, die sie konkurrenzfähig macht. Notwendig ist, daß den Schülern jener Zeitraum für das Lernen gewährt wird, der erforderlich ist. Eine Ganztagesschule ist unverzichtbar, kleinere Klassen sind zwingend notwendig. Beides kostet zunächst und vor allem Geld und Vieles spricht dafür, daß man einem wildwüchsigen Individualismus am öffentlichen Schulwesen ein Ende machen kann. Die Schuluniform darf kein Tabu sein und die konsequente Selektion nach Leistung bleibt unersetzbar. Doch das qualitative Problem im öffentlichen Schulwesen bedarf keiner revolutionärer Initiativen. Es müßten alle jenes machen, was auch heute schon möglich ist. Schüler müßten motiviert lernen, Lehrer müßten mit Begeisterung ihren Schülern das Lernen ermöglichen und Schulleiter müßten ihrer Verantwortung entsprechend Schulen leiten, Eltern müßten Verantwortung für das Schulleben übernehmen und die älteren Schüler müßten mit den jüngeren Schülern sich in einem regen Austausch befinden. Schule müßte sich somit durch ein aktives Schulleben auszeichnen, müßte eine positive Lebenswelt sein auf die man im Rückblick stolz ist, bei der eine Teilnahme nicht als Last, sondern als bedeutsamer Lebensabschnitt erfahren wird.

In Deutschland wurde jede sinnvolle Schulreform durch einen unsinnigen Parteienstreit unmöglich gemacht. Man erinnere sich an die von Picht postulierte Bildungskatastrophe und man erinnere sich an die Diskussionen über die notwendigen Reformen. Die Idee der Gesamtschule wurde so umfassend diskreditiert, daß man selbst in SPD regierten Ländern sich für diesen Schultyp am Ende zu schämen begann. Überlebte Selektionsmodelle wurden wiederbelebt und gleichzeitig wurden Besitzstände bewahrt, die niemanden zustehen. Hinzu kam, daß eine Schulbürokratie die Schule verregelte, daß ein freies Leben an Schulen nicht möglich werden konnte. Chancengleichheit und Excellenz müssen in einem modernen Bildungswesen keineswegs Gegensätze sein. Sollte dies jedoch erreicht werden, so bedarf es einer neuen schulischen Lebenswelt. Schüler dürfen weder unterfordert noch überfordert werden. Sie müßten den bestmöglichen Unterricht erhalten. Statt Schülern jeweils vorzugeben, was sie bis zur nächsten Klassenarbeit zu lernen haben, sollte endlich jene Situation geschaffen werden, die den Schülern die Möglichkeit zum selbständigen Lernen eröffnen. Die modernen didaktischen Konzepte, wo Schüler nicht nur belehrt werden, sondern angeregt werden zum selbständigen Lernen gibt es auch in deutschen Schulen, doch leider viel zu selten im öffentlichen Schulwesen. Zu einer Reform gehört aber auch, daß Lehrer mit Lehrer kooperieren und daß sie sich dem Vergleich stellen, daß Schulleiter wirklich Schulen führen und daß sie über das Lehren und Lernen öffentlich Rechenschaft abgeben. Was an deutschen Schulen dringend zu ändern ist, das wissen wir. Die Frage, die sich uns stellt ist, warum es nicht zu diesen Veränderungen kommt. Die Übernahme von Verantwortung muß gefordert werden und die Verantwortung ist von jenen zu übernehmen, die für das Gelingen des schulischen Handelns entscheidend sind. Schulleitung und Lehrer auf der einen Seite und die Schüler und die Eltern auf der anderen Seite können die dringenden Lösungen durchaus bereits heute wahrscheinlich machen.

Literaturverzeichnis

  • BECK, U.: Jenseits von Frauen- und Männerrollen oder: die Zukunft der Familie. In: Universitas (1991) 1, 1-7.
  • DIGEL, H.: Sport verstehen und gestalten. Ein Arbeits- und Projektbuch. Reinbek 1982.
  • DIGEL, H.: Zur pädagogischen Bedeutung von Sportregeln. In: ADL (Hrsg.): Schüler im Sport – Sport für Schüler. Schorndorf 1984, 199-213.
  • DIGEL, H.: Regeln. In: EBERSPÄCHER, H. (Hrsg.): Handlexikon Sportwissenschaft. Reinbek 1987, 321-329.
  • DIGEL, H.: Zur sportpolitischen Bedeutung der Regeln des Sports. In: FISCHER, K./GÜLDENPFENNIG, S./KAYSER, D. (Red.): Gibt es eine eigene Ethik des olym- pischen Sports? Köln 2001, 147-157.
  • GRUPE, O.: Vom Sinn des Sports. Kulturelle, pädagogische und ethische Aspekte. Schorndorf 2000.
  • ROBERTSON, J.: Szenarien für Lebensweisen und Gesundheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt. Beiträge einer internationalen Tagung in Köln vom 7. – 10. Oktober 1985. Berlin u.a. 1989, 227-248.
  • SÖLL, W.: Sportunterricht – Sport unterrichten. Ein Handbuch für Sportlehrer. Schorndorf 1996.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 17. 10. 2022