Doping als Verbandsproblem

Beobachtungszeiraum 1988 – 1995
Vorbemerkung

Das Dopingproblem ist Ausdruck einer moralischen Krise in unserer Gesellschaft, von der viele Bereiche betroffen sind. Das Sportsystem, und hierbei vor allem der Spitzensport, bilden dabei wohl jenes Teilsystem in unserer Gesellschaft, das von dieser moralischen Krise am intensivsten erfasst ist. Dabei ist die Legitimation des Spitzensports in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt. Unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten stehen Doping und Gewalt im Sport, ungerechte Belohnungssysteme und eine zunehmende Aufkündigung traditioneller sozialer Strukturen in Widerspruch zum selbst erhobenen Anspruch, ein System des Fair Play zu repräsentieren. Unter ökonomischen Gesichts­punkten stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit des Spitzensports, nach­dem sich der Sport in eine indirekte Abhängigkeit zur Wirtschaft, zu den Medien und zum Staat begeben hat. Unter organisatorischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage nach der Einheit des Sports. Es wird somit gefragt, inwieweit eine auf Breitensport ausgelegte Basis organisatorisch mit dem Spitzensport verknüpft bleiben kann. Die Diskussion über diese Krise wird zumeist über deren massenmediale Repräsentation geprägt. Im Zentrum öffentlicher Kritik befinden sich dabei vor allem die Funktionäre, aber auch die Athleten, die Trainer und die Wissenschaftler. Überlagert wird diese Diskussion durch einen nach wie vor ungelösten Ost-West-Konflikt, der nicht zuletzt dadurch hervorgerufen wurde, dass der Ersatzkriegsschauplatz Sport – wie er für den kalten Krieg typisch war – innerhalb kürzester Zeit aufgelöst wurde, womit eine der zentralen Legitimationsformeln für eine staatliche Sportförderung außer Kraft gesetzt wurde.

Das Dopingproblem bildet in gewisser Weise den Brennpunkt der aktuellen Krise, weil sich in ihm alle anderen Probleme des Spitzensports spiegeln. Es zeigt sich dabei, dass das Dopingproblem die im System des Hochleistungssports angelegte Falle ist, aus der es für Athleten und Verbände, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, kein Entrinnen gibt.

Das Dopingproblem kann unter verschiedenen Aspekten beobachtet und analysiert werden. Inhaltlich kann es als Athleten-, Mediziner-, Trainer- und/oder Funktionärsproblem gefasst werden. Es kann aus der Sicht verschiedener Wissenschaften behandelt werden, so u.a. von der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Pädagogik, der Pharmakologie, der Philosophie, der Biologie und gewiss auch von der Soziologie. Im öffentlichen Meinungsaustausch wird es meist von inkompetenten Journalisten, von Moralaposteln, skrupellosen Geschäftsleuten aber auch von Pseudo-Wissenschaftlern und pädagogischen Idealisten thematisiert.

Ich möchte im Folgenden das Dopingproblem als ein Verbandsproblem beschreiben. Als Beispiel soll dabei der Deutsche Leichtathletik-Verband dienen. Ich beschreibe dabei das Problem aus der Sicht eines Beobachters, der in diesem Verband mehrere Jahre als Berater tätig sein konnte und diesem Verband acht Jahre als Präsident zur Verfügung stand.

Wenn ich nun das Dopingproblem als Verbandsproblem skizzenhaft kenn­zeichnen möchte, so ist zu beachten, dass das Dopingproblem unter Organisationsgesichtspunkten in erster Linie ein Problem der Fachverbände ist. Dem DOSB kommt in dieser Frage allenfalls eine nachgeordnete Bedeutung zu. Dies gilt auch dann, wenn die öffentliche Berichterstattung über das Dopingproblem des Öfteren gegenteilige Vermutungen nahelegt. In den Spitzenverbänden selbst ist das Dopingproblem in erster Linie ein Problem von deren Präsidien. Nur im Ausnahmefall sind deren Landesverbände davon betroffen und höchst selten ist es ein Problem der Vereine. All dies hat Folgen für die kommunikative Bearbeitung des Problems, aber auch für die juristischen Lösungen, die dabei gesucht und anzustreben sind.

Allgemeine Merkmale des Dopingproblems aus soziologischer Sicht

Führt man Literaturrecherchen in einschlägigen nationalen und internationalen Bibliographien durch, so ist die Vermutung naheliegend, dass die soziologische Erforschung des Dopingproblems über erste Anfänge nicht hinausgekommen ist. Dennoch lassen sich meines Erachtens einige Merkmale kennzeichnen, die das Dopingproblem aus soziologischer Sicht prägen. Doping kann soziologisch z.B. unter der Rubrik ‚Betrug im Sport‘ diskutiert werden. Dieses Thema weist bereits eine eigenständige sportsoziologische Tradition auf, in der an die soziologische Diskussion über die Funktion von Regeln und Normen anzuknüpfen ist. Aus regeltheoretischer Sicht handelt es sich beim Dopingproblem um das Phänomen des Regelverstoßes, wobei – folgt man einer von mir vorgelegten Regeltypologie – Maximen und konstitutive Regeln des Sports verletzt werden. Die Maximen des Sports beinhalten dabei die moralischen Regeln des Sports und die Regeln zur Sportidee, die im Sinne ungeschriebener Gesetze ethisch-moralische Grundsätze für Verhaltensweisen festlegen, die eine faire sportliche Praxis garantieren. Konstitutive Regeln ermöglichen bestimmte Handlungen im Sport, sie kennzeichnen eine Sportart, sie konstituieren diese. Sie können als Ausführungsbestimmungen zu den Regeln der Sportidee verstanden werden.

Aus soziologischer Sicht stellt sich die Frage, aus welchen Gründen es in der Entwicklung des Spitzensports gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer Häufung der Regelverstöße und damit zum eigentlichen Dopingproblem kommen konnte. Diese Frage lässt sich auf vielfältige Weise beantworten. Ich möchte folgende sechs Vermutungen diskutieren, die meines Erachtens überprüfenswert sind:

1. Das Dopingproblem ist Resultat der Systemlogik des Hochleistungssports

Das System des Leistungssports ist auf Leistungssteigerung ausgelegt; der Athlet unterliegt einem Steigerungsimperativ. Das Steigerungsvorhaben ist dabei nach oben offen angelegt. Zu diesem Vorhaben stehen die zentralen sportmoralischen Normen inkommensurabel im Widerspruch. Die heute aktuell vorherrschende Sportmoral kann allenfalls steigerungsbremsende Wirkung haben. Unterliegt man einer Steigerungsrationalität, wie es heute für Athleten zwangsläufig gilt, so besteht jedoch kein Bedarf an einer derart moralischen Diskussion. Der Steigerungsimperativ des Spitzensports bewirkt hingegen, dass Athleten immer intensiver mit Fragen des Grenznutzens ihres Trainings und ihrer Wettkämpfe konfrontiert werden. Wenn dabei gleichzeitig der Nutzen des Handelns fast ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten bewertet wird, so ist die Gefahr der Grenzüberschreitung zur Sicherung des ökonomischen Nutzens im System des Leistungssports selbst angelegt. Dies führt uns zu der Vermutung, dass die Systemlogik des Hochleistungssports Dopingverstöße zwangsläufig bedingt, dass in gewisser Weise das System des Hochleistungssports auf Selbstzerstörung ausgerichtet ist.

2. Das Dopingproblem ist Resultat des zunehmenden ökonomischen Kalküls

In vielen olympischen und nicht-olympischen Sportarten geht die Teilnahme am Hochleistungssport mit einem ökonomischen Kalkül einher. Überall in unserer Gesellschaft, wo mittels einzelner Handlungen oder weniger Handlungsgruppen überdurchschnittlich hohe ökonomische Gewinne zu erzielen sind, lassen sich vermehrt Betrug und Grenzüberschreitungen beobachten. Es ist deshalb anzunehmen, dass dieser Zusammenhang auch im System des Sports wirksam ist. Bei dieser Vermutung ist jedoch zu beachten, dass Doping als Problem auch in Sportarten zu finden ist, in denen ein ökonomisches Kalkül so gut wie keine Rolle spielt. Dies gilt für einige Kraftsportarten ebenso wie für einige Disziplinen der Leichtathletik. Dennoch ist anzunehmen, dass Dopingverstöße umso wahrscheinlicher sind, je höher die Preisgelder sind, die dem Athleten für bestimmte Leistungen bzw. Rekorde angeboten werden.

3. Das Dopingproblem ist Resultat einer moralischen Diffusität

Geschlossene Gesellschaften zeichnen sich durch Gewissheiten, durch verbindliche Ideologien, durch einheitliche Erziehungsvorstellungen und meist auch durch einen tragfähigen moralischen Konsens aus. Doping findet hingegen in einer Weltgesellschaft statt, die sich im Wesentlichen aus komplizierten, differenzierten und dissoziierten Teilgesellschaften zusammensetzt. Pluralismus und Individualismus sind dabei die kennzeichnenden Merkmale dieser Gesellschaften. Pluralismus ist daher auch die Maxime für die Beantwortung moralischer Fragen. Betrug ist dabei ein relativer Begriff. Aber auch die ethisch-anthropologische Diskussion über das Wesen des Menschen, über das seiner Natur Gemäße ist relativ geworden. Ernährung und Substitution, Manipulation, Betrug sind dabei unscharfe Begriffe für die Beschreibung umstrittener Phänomene geworden. Ist vieles relativ, gelten viele Meinungen, gibt es für schwierige Fragen mehrere Antworten, so ist moralische Diffusität die notwendige Konsequenz, aus der heraus das Individuum und damit auch der Athlet seinen eigenen Weg, seine eigene Entscheidung finden kann, ohne dabei moralische Skrupel haben zu müssen.

4. Das Dopingproblem ist Resultat einer immer hilfloser werdenden Steuerungspolitik in Sportorganisationen und einer unzureichenden Organisationsstruktur des Spitzensports

Wenn Doping in erster Linie ein Regelproblem ist, so wird die Lösung des Problems vorrangig davon abhängen, inwiefern die Regelüberwachung institutionell funktioniert. Wenn Regelverstöße folgenlos bleiben, wenn Regeln mehrdeutig werden und sich für beliebige Interpretationen öffnen, dann verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass Akteure, die diese Regeln meist nicht selbst vereinbart haben, solchen mehrdeutigen Regeln folgen. Für das IOC ebenso wie für die internationalen Sportfachverbände und die nationalen Sportorganisationen kann schon seit längerer Zeit eine Steuerungsschwäche bezogen auf die Sportregeln diagnostiziert werden. Die Organisationsstruktur der Sportverbände ist in fast allen relevanten Steuerungsfragen ineffizient, die gewählten Steuerungsmedien erweisen sich immer häufiger als wirkungslos. Insbesondere ist die Kommunikation zwischen den Dachorganisationen und den Basiseinrichtungen nicht mehr gewährleistet. Die Zunahme von Dopingverstößen kann somit in diesem Zusammenhang ursächlich diskutiert werden.

5. Das Dopingproblem ist Resultat der Professionalisierungstendenzen, es ist auch Resultat der zunehmenden Hauptamtlichkeit in Sportfachverbänden

Die gesellschaftliche Bedeutung, die heute dem Spitzensport zugemessen wird, vor allem aber das ökonomische Interesse, das heute an den Sport herangetragen wird, hat bewirkt, dass die Professionalisierung des Sports in keinem anderen Bereich des Sports vergleichbar weit fortgeschritten ist wie im Spitzensport. Vereinfacht ausgedrückt heißt das: nirgendwo arbeiten so viele Hauptamtliche im Sport wie in diesem Bereich. Hauptamtlichkeit bedeutet gewiss sehr oft bessere Qualität der Arbeit, schnellere Erledigung von Aufträgen und flexible Anpassung an neue Herausforderungen. Bezogen auf das Dopingproblem heißt das aber auch, sich täglich mit dem Problem der Steigerung der Leistung zu beschäftigen, Arbeitsplätze durch Medaillenerfolge zu sichern, Sportmedizin im Interesse der Steigerung und nicht im Interesse der Gesundheit des Athleten zu betreiben, ständig etwas Neues entwickeln zu müssen, wo eigentlich nichts mehr zu entwickeln ist. Meine Vermutung zielt somit auf den Sachverhalt, dass Hauptamtlichkeit im Spitzensport eine Mentalität zur Grenzüberschreitung begünstigt und die Vorstellung von einer Spitzenleistung im Sport um jeden Preis eher nahelegt als verhindert.

6. Das Dopingproblem ist Resultat einer unprofessionellen Ehrenamtlichkeit

Das Gegenstück zur Professionalisierung der Hauptamtlichen in Bezug auf die Ursachen des Dopingproblems bildet die unprofessionelle Ehrenamtlichkeit, die in fast allen internationalen und nationalen Dachorganisationen des Sports zu beobachten ist. Ehrenamtliches Handeln zeichnet sich dabei vor allem durch langwierige Entscheidungsprozesse aus. Die Verfügbarkeit der Ehrenamtlichen ist dabei ebenso begrenzt wie deren Kompetenz. Eine Sachorientierung ist eher selten anzutreffen, eine Bereitschaft zu schnellen Entscheidungen oft nicht zu finden. Verbunden ist dies mit einer äußerst begrenzten Bereitschaft zur Übernahme individueller Verantwortung. Deshalb wird, wenn Dopingfragen auf der Tagesordnung der Sportgremien stehen, vertagt, werden Kommissionen beauftragt, Gutachten eingeholt, die nächste Verbandsratssitzung abgewartet etc. Auf diese Weise werden für die Athleten die Entscheidungen der Verbände unverständlich, das Vertrauen in die Regelstrukturen ihrer Sportarten schwindet, der Respekt vor den Regelautoritäten im Verband geht verloren. Insofern kann in der unprofessionellen Ehrenamtlichkeit ein Nährboden für das noch immer wachsende Dopingproblem vermutet werden.

Meine sechs Vermutungen über Ursachen des Dopingproblems sollen den Charakter von Vermutungen im eigentlichen Sinne haben. Mit meinen Beobachtungen beim Deutschen Leichtathletik-Verband können diese Vermutungen nur erhellt werden, sie bedürfen einer sehr viel solideren empirischen Fundierung als dies über wenige Beobachtungen möglich ist, wobei noch einschränkend hinzukommt, dass ich in meiner Rolle als Berater zunehmend einem Beobachter-Paradoxon unterworfen war, zumal ich immer mehr und immer häufiger selbst zum Akteur wurde.

Akteure auf der Dopingbühne

Will man das Dopingproblem als Verbandsproblem näher beschreiben, so bietet es sich an, in einem ersten Schritt die Beteiligten zu kennzeichnen, die auf der Vorder- bzw. Hinterbühne des Dopingdramas als Akteure handeln. Ich verwende dabei bewusst eine rollentheoretische Terminologie, die selbst auf die Theatersprache zurückzuführen ist. Goffman’s Arbeiten können dabei eine hilfreiche Bezugsliteratur darstellen. Die Bühnenmetapher ist besonders geeignet, weil beim Problem des Dopings im Sport und beim Kampf gegen Doping vieles verschleiert, verdeckt, hinter und vor der Bühne gehandelt wird, und nur ein Teil auf einer einsichtbaren Bühne für Beobachter stattfindet. Es handelt sich beim Dopingstück um ein Massenschauspiel, an dem unübersichtlich viele Akteure beteiligt sind. Im engeren Zentrum des Handelns befinden sich dabei der Athlet bzw. die Athletin, sein bzw. ihr Trainer, nur selten Trainerinnen, manchmal auch mehrere Trainer auf einmal. Diese sind umgeben von Medizinern, Pharmakologen, Trainingswissenschaftlern und Dealern. In einem etwas weiter entfernten Umfeld lassen sich die Funktionäre aus den unterschiedlichsten Gremien des Sports, die Journalisten von Funk, Presse und Fernsehen, Vertreter des Staates, insbesondere des Bundesministeriums des Innern und Sponsoren aus den unterschiedlichsten wirtschaftlichen Branchen beobachten, die in ihrem Handeln direkt auf die Leistung der Athleten bezogen sind. Sie geben Normen, Ansprüche und Qualifikationskriterien vor, belohnen Leistungen, treten als moralische Kontrolleure auf, sind teilweise Mitwisser, tauschen Halbwahrheiten aus, sind konfrontiert mit einer Welt von Andeutungen, mit Stammtischunterstellungen, Unwissen und fachlicher Inkompetenz. In Bezug auf den eigentlichen Dopingverstoß, d.h. die Anwendung unerlaubter Mittel, gibt es schließlich noch einen weiteren Personenkreis, der immer dann die Bühne betritt, wenn etwas aus dem Doping-Underground an die Oberfläche gezerrt wurde. Es handelt sich dabei einerseits um jene, die die Enthüllungstat vollbringen, gemeint sind also die Dopinganalytiker und Dopingkontrolleure. Es sind aber auch andererseits jene, die sich immer dann auf den Plan berufen fühlen, wenn das Kind bereits ins Wasser gefallen ist. Sportwissenschaftliche, wissenschaftliche und sonstige Experten, Rechtsexperten, Politiker und Ausschüsse spielen dann die Rolle von Analytikern, Anklägern, Moralaposteln etc. Dabei ist zu beachten, dass manche dieser Akteure eine enge Beziehung zu den eigentlichen Akteuren in dem Kreis aufweisen, der das Zentrum des Dopingproblems darstellt, oder sich zumindest diesem Zentrum sehr nahe befinden. Dies gilt zum Beispiel für die DVS und den Deutschen Sportärzte-Bund ebenso wie für den Sportausschuss des Deutschen Bundestages, aber auch einige Einzelexperten müssten hier erwähnt werden.

Doping im DLV – ein Stück in sechs Akten

In einem nächsten Schritt gilt es nun, die Akte des Dopingstückes zu kennzeichnen, die während meiner Zeit im DLV aufgeführt wurden und die in gewisser Weise die Dramaturgie des Dopingschauspiels im Deutschen Leichtathletik-Verband geprägt haben. Die Akte haben unterschiedliche Länge und sind im Wesentlichen über sogenannte Fälle zu rekonstruieren. Sie sollen als Beweise dienen. Für das DLV-Stück waren dies sechs Fälle im genannten Zeitraum. Jedes Beispiel hat dabei vor allem unter juristischen Gesichtspunkten seine Eigenheiten, aber auch mit Blick auf moralische Maßstäbe eine spezifische Qualität.

Im Fall eins stand vorrangig das Kontrollsystem, die Qualität der Kontrollen und die verbandsrechtliche Absicherung des Kontrollsystems zur Disposition. Teilweise wird dies noch bis heute strittig verhandelt.

Fall zwei verweist auf die problematische Beziehung eines Trainers zu seiner Athletin – er zeigt eine einsichtige und reuige Athletin. Dieser Fall verdeutlicht aber auch die Härte der Strafe, wenn jemand gegenüber dem Verband nicht auf zivilrechtlicher Ebene interveniert. Er verweist auf Unterschiede zwischen sogenannten armen und reichen Athleten, auf Unterschiede zwischen Athleten, die von Managern und Anwälten gestützt und betreut sind, im Vergleich zu Athleten, die auf sich selbst angewiesen sind.

Fall drei macht auf Probleme aufmerksam, die sich uns eröffnen, wenn Athleten verletzt sind. Wenn sie beabsichtigen, ihre Laufbahn zu beenden, dann jedoch nach vorläufiger Genesung in den Leistungssport zurückkehren. Unwissenheit, Dummheit, aber auch Verantwortungslosigkeit sind dabei Merkmale, die sich auf der Dopingbühne immer wieder finden lassen.

Fall vier verweist auf besondere internationale Zusammenhänge, die bei Dopingfällen auftreten können, deren Lösung äußerst schwierig ist. Es geht dabei um die Frage, was passiert, wenn sich ein Athlet den Dopingkontrollen entzieht, wenn er sich nach einer Suspendierung der Reichweite der nationalen Verbandsgerichtsbarkeit entzieht und versucht, in einen anderen nationalen Verband überzuwechseln.

Fall fünf zeigt uns die Reichweite des Problems bezogen auf den Personenkreis, der davon betroffen sein kann. Auch der Senioren-Wettkampfsport wird von medikamentöser Manipulation zumindest teilweise geprägt, wobei die öffentliche Diskussion darüber kaum stattfindet und sich die moralischen Verurteilungen in engen Grenzen halten.

Fall sechs schließlich bringt das Dopingproblem im Sinne einer dramatischen Steigerung für den DLV in thematische Zusammenhänge, die in ihrer Komplexität für Laien kaum noch zu erfassen sind. Pharmakologen spielen dabei ebenso eine Schlüsselrolle wie juristische Experten. Verbandsrecht versus Zivilrecht prägt die Auseinandersetzung. Wissenschaftliche Gutachter für die eine Seite versus wissenschaftliche Gutachter für die Gegenseite heißt der zweite Streit. DLV versus IAAF und umgekehrt heißt schließlich die dritte Debatte.

Meine skizzenhafte Darstellung der sechs Fälle sollte andeutungsweise die Komplexität des Themas verdeutlichen, das bei einer fundierten Diskussion über das Dopingproblem zu beachten ist. Die Komplexität zeigt sich sowohl auf der Ebene der Akteure als auch in Bezug auf Raum und Zeit, in denen das Dopingstück abläuft. Sie zeigt sich vor allem aber auch auf der Wissensebene. Dies wird im Bereich medizinischen, pharmakologischen, biologischen und juristischen Wissens deutlich. Komplex ist das Problem aber auch unter philosophischen, ethisch-moralischen und pädagogischen Gesichtspunkten. Angesichts dieser Komplexität muss es eigentlich überraschen, wie vorschnell vor allem Wissenschaftler bei ihren Auftritten auf der Dopingbühne handeln, zumal gerade von jener Gruppe erwartet werden müsste, dass sie der besonderen Komplexität des Problems in ihrem Handeln gerecht wird. Warum dies so war und vermutlich auch weiterhin so sein wird, bedarf meines Erachtens einer gründlichen Diskussion unter den Wissenschaftlern selbst. Das Dopingproblem verweist deshalb vor allem auf ethische Probleme der Wissenschaften. Es lassen sich aber auch theoretische und empirische Schwierigkeiten zeigen, die Wissenschaftler bei der Bearbeitung des Dopingproblems haben. Das Dopingproblem weist aber auch auf die fragwürdige Rolle hin, die Wissen­schaft einnimmt, wenn es um Fragen der Wahrheitsfindung geht. Einmal mehr ist somit am Beispiel des Dopings die Rolle von Wissenschaft als Beratungsinstitution auf dem Prüfstand.

Mein Versuch, die Komplexität des Dopingproblems zu verdeutlichen, kann als erster Hinweis auf die Berechtigung der Annahme dienen, dass es beim heute existierenden Dopingproblem keine schnellen und einfachen Lösungen geben wird, dass vielmehr die sich uns stellenden komplexen Fragen und Probleme nur durch komplexe Antworten befriedigend und dabei möglicherweise immer nur teilweise zu lösen sind. Diese Vermutung wird vor allem auch dann nahegelegt, wenn wir uns in einem dritten Schritt der Ausgangssituation und den Formen der Konfliktbearbeitung zuwenden, wie sie innerhalb des DSB bzw. des DOSB vor dem ersten Fall anzutreffen war bzw. wie sie seit diesen Fällen bis heute stattgefunden haben.

Die Ausgangssituation des Verbandes

Bevor der DLV mit dem ersten Dopingfall konfrontiert wurde, der von einer weltweiten öffentlichen Aufmerksamkeit begleitet war, war das Dopingthema im DLV schon lange latent vorhanden. Verbandspolitisch war es jedoch allenfalls ein Thema am Rande. Es gab wohl zuvor bereits den tödlich endenden Fall von Birgit Dressel. Zudem wurden viele Einzelfälle des Dopingmissbrauchs im DLV aufgedeckt. Dies alles ereignete sich aber ohne öffentliche Diskussionen mit größerer Reichweite. Und so waren jene, die sich im Kampf gegen Doping engagieren wollten, in dieser Zeit in gewisser Weise auf der Verliererstraße. Im DLV war das Dopingthema ein Thema für Stammtische, Spekulanten, so z.B. in den Fällen von zahlreichen Zehnkämpfern, Sprinterinnen oder weiblichen Kugelstoßern. Wirksamer Einhalt wurde dabei jedoch von niemandem gefordert. Es war so, wie es ein ehemaliger DLV-Präsident in einem Interview ausdrückte: Doping war ein Kavaliersdelikt. Mit einem wirklich gefährlichen Dopingproblem, das in kritischer Weise die Substanz des Verbandes gefährdet, wurde der DLV erst mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und mit dem Beitritt des DVFL in den DLV konfrontiert. Mit dem Beitritt versuchte man, sich der Erfolge des DDR-Sportsystems zu bedienen, wohl wissend, dass dieses System im Bereich der medikamentösen Steuerung von Training und Wettkampf eine Führungsrolle im Weltsport eingenommen hatte. Der DLV folgte dabei einer politischen Vorgabe, wie sie von der Bundesregierung im Einigungsvertrag festgelegt war und wie sie ganz offensichtlich von DSB und NOK erwünscht gewesen ist. Der politisch intendierte Versuch, vom DDR-Sportsystem einzelne Strukturelemente in ein neues gemeinsames Sportsystem zu integrieren, ist jedoch mit Blick auf die system-funktionalen Aspekte von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Deshalb haben Einrichtungen wie das IAT oder das FKS in der Form, in der sie heute erhalten sind, mit ihren Vorgängereinrichtungen nichts mehr gemein. Gleiches gilt für die sportbetonten Schulen im Vergleich zu den ehemaligen KJS.

Die klammheimliche Übernahme von fragwürdigen DDR-Sportstrukturen scheiterte aber auch deshalb, weil einige aufmerksame Einzelpersonen, allen voran Frau Berendonk und Herr Franke, sich entschieden gegen eine ungeprüfte Übernahme fragwürdiger sportwissenschaftlicher Einrichtungen und des in ihnen beschäftigten Personals zur Wehr setzten. Vermutlich wäre das Dopingproblem einmal mehr wieder in Vergessenheit geraten, hätten sich nicht die Magazine Spiegel und Stern und einige weitere Tageszeitungen das Dopingthema zu einem zentralen Vereinigungsthema gemacht und wäre Frau Berendonk mit ihrer Publikation nicht äußerst resistent gegenüber Vereinnahmungen und Verharmlosungen gewesen. Erst dieser Grund rief den DSB, das NOK, den Sportausschuss des Deutschen Bundestages und andere Institutionen auf den Plan. Erst deshalb wurde die Einrichtung der Reiter-Kommission, der Richthofen-Kommission und der Anti-Doping-Kommission unter Leitung von Herrn Evers notwendig. Es muss dabei darauf hingewiesen werden, dass es bereits zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt vergleichbare Kommissionen gegeben hat. So wurde 1976 die Anti-Doping-Kommission unter der Leitung von Grupe eingerichtet und auch am Bundesinstitut wurde eine Anti-Doping-Kommission unter Leitung von Keul geführt. Die zweite Kommission hat ihre Tätigkeit sehr schnell eingestellt. Es ist dabei zu beachten, dass diese Kommission von einem Mediziner geleitet wurde, der selbst in der Dopingauseinandersetzung mehrfach schwer belastet wurde.

Nicht nur der DLV wurde somit von der Härte der Auseinandersetzungen über das Dopingproblem überrascht, nachdem es sich ja über mehr als zwei Jahrzehnte mit einer Strategie der passiven Verdrängung hat ganz gut leben lassen. Mit der als plötzlich und hart empfundenen Konfrontation wurde nunmehr sehr schnell und nahezu für jedermann sichtbar, dass die Ausgangssituation in den Sportverbänden zur Bewältigung des Dopingproblems völlig unzureichend war. Dies gilt auch für den DLV. Die Mängel ließen sich dabei auf vielen Gebieten beobachten. Ein besonders qualifiziertes Personal zur Behandlung des Problems gab es nicht, weder auf haupt- noch auf ehrenamtlicher Ebene. Beide Personengruppen zeichneten sich vielmehr eher durch moralische Unglaubwürdigkeit hinsichtlich des Dopingproblems aus. Besonders kritisch war dabei die Stellung der Trainer, Athleten und Ärzte zu bewerten. Ihnen mangelte es nicht selten an einem ausreichenden moralischen Bewusstsein, und auch an fachlicher Kompetenz. Als folgenschwer erwiesen sich die unzureichenden Strukturen und die meist sehr begrenzten juristischen Kompetenzen, die im Verband in Bezug auf die neu zu diskutierenden Fragen anzutreffen waren. Erschwerend kam hinzu, dass eine am Sieg- und Rekordkonzept der Mehrheitsberichterstattung orientierte Öffentlichkeitsarbeit im Umgang mit diesem Problem sehr schnell überfordert war, wie umgekehrt allerdings die Sportjournalisten diesem Problem bis heute noch nicht gewachsen sind.

Will man die Merkmale der Ausgangssituation auf einen Nenner bringen, in der sich der DLV bei seiner eigentlichen Konfrontation mit dem Dopingproblem befand, so kann man diese mit den Begriffen unvorbereitet, überrascht, fachlich inkompetent und moralisch unglaubwürdig wohl am ehesten umschreiben.

Formen der Konfliktbearbeitung

Angesichts dieser höchst unbefriedigenden Ausgangssituation kann es kaum überraschen, dass die Art, wie dann das Dopingproblem als Verbandsproblem behandelt wurde, welche Instrumente dabei zum Einsatz kamen und welche Widersprüchlichkeiten sich dabei beobachten ließen, äußerst kritisch zu beurteilen ist. Tauchen in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in Gruppen bzw. in gesellschaftlichen Teilsystemen Probleme auf, so lassen sich auf der Grundlage von Erfahrungen eine ganze Reihe von Strategien beschreiben, die auch zur Lösung des Dopingproblems als mögliche Alternative gewählt werden könnten. Vor allem bieten sich dabei als Strategien zur Bewältigung des Dopingproblems Handlungsmuster wie Verschweigen, Vertagen, Verharmlosen, Bekämpfen, Bestrafen, Kontrollieren, Erziehen, Aufklären und Koalieren an. Genau diese Handlungsmuster lassen sich auch im DLV beobachten, wenn man das Handeln des DLV-Präsidiums, dessen geschäftsführenden Präsidiums, des Verbandsrates und der in diesen Gremien handelnden Personen genauer beleuchtet. Aufschluss können dabei die Sitzungsgespräche geben. Aber auch die Protokolle zu den Sitzungen und die Entscheidungen, die in den Sitzungen dieser Gremien getroffen wurden, können dabei als Beobachtungsdaten herangezogen werden. Die einzelnen Handlungsmuster zeigen jedoch eine unterschiedliche Wirksamkeit und meist hatten sie nur eine begrenzte Reichweite. Ein besonderes Problem stellt das „Vertagen“ dar, denn dies ist ein Handlungsmuster, das für ehrenamtlich geführte Vereine und Verbände besonders typisch ist. Angesichts der Bedeutung des Dopingproblems für das Verbandswesen kann dieses Handlungsmuster allerdings besonders gefährliche Wirkungen und Nebenwirkungen haben. Vor allem zu Beginn meiner Beobachtungen waren die Diskussionen noch viel zu häufig von der Hoffnung geprägt, dass die Zeit die Wunden heilen würde und dass deshalb eine zeitliche Verzögerungsstrategie ein hilfreiches Lösungsinstrument sein könnte.

Nur sehr unzureichend wurden und werden im DLV die Handlungsmuster „Aufklärung“ und „Erziehung“ angewandt und in entsprechende Programme umgesetzt. Hier sind allenfalls erste Anstöße zu erkennen, so z.B. mit Hilfe von Aufklärungsbroschüren bzw. mit Aufklärungsaktionen bei den Deutschen Jugendmeisterschaften.

Interessanterweise gelingen eine Kontrolle und damit auch die verbandsjuristische Bekämpfung und Bestrafung oft zu dem Zeitpunkt, wenn sich ein Verschweigen und Verharmlosen zunehmend als wirkungslos erwiesen hat. Es scheint bei der Mehrheit der beteiligten Personen ein Bewusstseinswandel angesichts der ständigen massenmedialen Thematisierung des Problems einzutreten. Die größten Schwierigkeiten hat der Verband bei der Anwendung des Musters „Koalieren“. Aufklärer werden dabei meist als Gegner beurteilt, und es besteht weiter die Gefahr, dass falsche Bündnisse mit den falschen Partnern eingegangen werden.

Das Entscheidungshandeln wurde im DLV ganz wesentlich durch ein unzureichendes Informations- und Wissenssystem beeinträchtigt, was zu unklaren Entscheidungen und zu Verstrickungen in Widersprüche geführt hatte. Hier wurde deutlich, dass es in Bezug auf die Bearbeitung des Dopingproblems an Professionalität mangelte. Eine befriedigende professionelle Situation konnte auch mit der Einrichtung eines Anti-Doping-Beauftragten, einer Anti-Doping-Kommission und eines hauptamtlichen Anti-Doping-Mitarbeiters nicht erreicht werden. Das besondere Problem stellte dabei die mangelhafte Professionalität im ehrenamtlichen Handeln dar. Kritisch und folgenreich ist dabei insbesondere die begrenzte Verfügbarkeit der ehrenamtlichen Funktionsträger, z.B. des Anti-Doping-Beauftragten, des Rechtswartes, der juristischen Kommission, des Rechtsausschusses etc. Dringend notwendige Veränderungen wurden dadurch zu äußerst langwierigen Prozessen. Auf diese Weise wurde es möglich, dass der nächste Fall bereits auftrat, ohne dass die Lehren aus dem vorangegangenen Fall gezogen waren. In der eigenartigen Mischung von Haupt- und Ehrenamt, die sich beide durch geringe Professionalität auszeichnen, ist auch die Ursache für das konzeptionslose Tageshandeln, für den unkoordinierten Aktionismus zu sehen. Auf diese Weise bestand laufend die Gefahr, dass sich der Verband selbst Fallen baute. Zur Beseitigung dieser Mängel neigte der Verband zu einer „Personifizierung des Dopingproblems“. Der Dopingkampf wird dabei nicht nur im DLV auf das Engste mit Namen einzelner Personen verbunden. Die Personifizierung reicht bis in den Kreis der Kontrolleure hinein. Bei German Control war dies Wengoborski; im DLV waren es die Personen Rous und Nickel, im Deutschen Schwimm-Verband die Personen Beyer und Media. Dabei war auffällig, dass diese Personen Gefahr liefen, Opfer ihres eigenen Kampfes gegen Doping zu werden.

Ein weiteres Merkmal der Konfliktbearbeitung im DLV war die mangelnde Möglichkeit der Gleichbehandlung von Ost und West. Ost-Athleten waren durch eine perfektionistische Aufzeichnungs- und Dokumentationspraxis in der ehemaligen DDR im Vergleich zu den Westathleten benachteiligt. Gleiches galt für die Trainer. Dies führte zu Diskussionen, die durch Misstrauen und Spaltung geprägt waren. Das Dopingproblem hat sich dabei als die eigentliche Barriere in der Vereinigung der beiden Verbände erwiesen.

Als ein besonderes Merkmal der Konfliktbearbeitung im DLV ist schließlich das Vortäuschen einer Vorreiterrolle zu erwähnen. Dabei scheint es so zu sein, dass diese Haltung im deutschen Hochleistungssport insgesamt entwickelt wurde, im DLV jedoch besonders zum Ausdruck kam. Athleten, Trainer und Funktionäre geben dabei vor, lediglich Deutschland betreibe konsequent einen Dopingkampf und man befinde sich deshalb in der Gefahr, sich international lächerlich zu machen. Es seien einmal mehr die Deutschen gründlicher als alle übrigen und auf diese Weise habe man mittel- und langfristig im internationalen Leistungssport keine Chance mehr. Von Vortäuschung muss deshalb gesprochen werden, weil solche Äußerungen wider besseren Wissens erfolgten und dabei meist vom eigenen Versäumnis abgelenkt wurde, in den internationalen Gremien vergleichbare Regelungen durchzusetzen, wie dies für den nationalen Verband der Fall ist.

Die Konfliktbearbeitung des Dopingproblems im DLV muss mit Blick auf meinen Beobachtungszeitraum eher negativ bewertet werden. In diesem Zeitraum ist jedoch auch zu erkennen, dass die Dominanz positiver Handlungsmuster immer mehr zunimmt. Die Einsicht in einen konsequenten, offensiven und unnachgiebigen Kampf gegen Doping scheint in den Gremien des DLV immer deutlicher zu werden. Immer wichtiger wurde dabei, dass sich der DLV im Vergleich zu anderen Verbänden, aber auch im Vergleich zu NOK und DSB als Vorreiter fühlte und sich damit immer entschiedener auf den Weg aus einer defensiven in eine offensive Haltung befand.

Das Dopingstück – ein Personality-Problem

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Dopingstück im DLV in ganz wesentlicher Weise ein Stück ist, in dem bestimmte Personen bedeutsame Rollen spielen. Obgleich im Wesentlichen die unzureichenden Verbandsstrukturen die entscheidende Ursache für die unbefriedigende Bearbeitung des Dopingproblems sind, ist es unter soziologischen Gesichtspunkten von Interesse, auch die Rolle von Einzelpersonen bzw. Gruppen näher zu beleuchten, die diese bei der Aufführung des Dopingstückes spielen. Eine besonders bedeutsame Rolle spielen dabei einzelne Juristen, wie überhaupt den Juristen neben den Medizinern und Ärzten eine Schlüsselfunktion im Dopingkampf zukommt. Die Juristen können dabei kaum als einheitliche Gruppe bezeichnet werden. In den Auseinandersetzungen im DLV haben sich dabei u.a. folgende Einzelpositionen beobachten lassen: Zunächst ist eine unabhängige Juristen-Kommission zu erwähnen, die vom DLV beauftragt wurde, um gemäß der Auflagen der Reiter-Kommission Trainer aus dem Einzugsbereich der ehemaligen DDR in Bezug auf ihre Vergangenheit und ihre Perspektiven für die Zukunft zu überprüfen. Als zweite juristische Institution ist der unabhängige Rechtsausschuss im DLV zu nennen, der sich zweimal mit seinen Entscheidungen im Widerspruch zum Rechtsverständnis des DLV-Präsidiums befand, wobei vor allem die Richter Emig und Schöppe besondere Rollen spielten. Hinzu kamen Einzelmitglieder dieses Rechtsausschusses, so u.a. ein Anwalt, der Rechtsver­treter eines angeklagten Trainers aus den neuen Bundesländern war.

Ein zweites wichtiges Glied im Rollengefüge des Dopingstückes stellten die Naturwissenschaftler und Mediziner dar. Hierzu gehörten Dopingexperten verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen wie Donicke und Franke, Pharmakologen wie Rietbrock und Sportmediziner wie Kindermann und Keul. Weniger einflussreich, aber dennoch im Dopingkampf in fragwürdiger Position, war der Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaftler. Zu erwähnen sind dabei Sportpädagogen wie Grupe und Volkamer, das Präsidium der DVS, aber auch Wirtschaftswissenschaftler wie Wagner. Widersprüchlich und kaum für deutsche Verhältnisse nachvollziehbar war die Rolle der IAAF. Auch hier waren wiederum Einzelpersonen bedeutsam, so Nebiolo, der Präsident, Lundquist, der Vorsitzende der medizinischen Kommission, Kirsch als deutsches IAAF-Council-Mitglied und erneut Donicke als deutsches Mitglied der medizinischen Kommission. Einen weiteren fragwürdigen Rollenbereich bot der Deutsche Sportbund mit seinem Vorsitzenden der ersten Anti-Doping-Kommission von Richthofen, seinem Vorsitzenden der zweiten Doping-Kommission Dr. Evers und dem Präsidenten des Deutschen Sportbundes selbst. Fragwürdig war auch die Rolle des Bundesministerium des Inneren, BMI. Dabei sind vor allem die Positionen von Minister Schäuble, Minister Seiters, Ministerialdirigent Schaible, Staatssekretär Vöcking und nachgeordneten Beamten zu erwähnen. Nicht weniger widersprüchlich als die Rolle des BMI war die Rolle der Sponsoren. Auch hier ist unter personellen Gesichtspunkten vor allem das Vorstandsmitglied von Daimler-Benz, Kleinert, zu nennen, der den Konflikt zwischen Medaillen- und Rekordorientierung auf der einen und einem sauberen Leistungssport auf der anderen Seite personifiziert. Schließlich muss noch die Rolle der ehemaligen Athleten aufgezeigt werden, allen voran Frau Berendonk und Frau Westermann. In ihrem Umfeld waren auch die Personen Kofink und Treutlein zu beachten, die in Verbundenheit zur Leichtathletik, aber aus neuen beruflichen Positionen heraus im Dopingkampf eine bemerkenswerte Rolle spielten. Abschließend sollte die Rolle der Trainer nicht vergessen werden. Sie spielten vor allem im Bereich des DLV eine Sonderrolle, angesichts der großen Anzahl von Bundestrainern, die aus dem Bereich der ehemaligen DDR übernommen wurden. Stellvertreterrollen nahmen dabei die Trainer Schubert, Drechsler und Tepper ein.

Lösungsinstrumente – Waffen im Dopingkampf

Die ungünstige Ausgangssituation und die Art, wie das Dopingproblem im Verband bearbeitet wurde, haben bereits deutlich gemacht, dass es kurze Wege zur Lösung des Problems in freiwilligen Vereinigungen wie dem DLV nicht geben kann. Betrachtet man die Prozesse etwas genauer, in denen Lösungsinstrumente erdacht, erarbeitet und in die Praxis eingeführt wurden, so kann man erkennen, dass dabei meist die für Verbandsarbeit typischen, aber kaum wirksamen Lösungsinstrumente am Beginn dieses Prozesses stehen. Dazu gehört die Einrichtung von Kommissionen, die Abgabe von Erklärungen und die Hinweise auf die Notwendigkeit von Aufklärung. Ergänzt wird dies mit moralischen Appellen und Resolutionen. All dies findet sich auch im DLV. Vieles von dem hat sich als nicht wirksam erwiesen. Die mehr oder weniger wirksamen Instrumente sind hingegen in der Einrichtung eines Kontrollsystems und in der Zusammenarbeit mit Dopinganalytikern zu sehen. Hierbei ging der DLV als erster Verband den Weg hin zu einer unabhängigen Kontrollinstanz (German Control). Er war auch einer der wegweisenden Verbände, die dieses Kontrollsystem in der eigenen Satzung abgesichert haben. Satzungsänderungen, Änderung der Wettkampfordnung, Verpflichtungserklärungen der Trainer und der Athleten waren die erfolgreichen Meilensteine, die den DLV in die Position gebracht haben, heute auf ein relativ lückenloses Dopingkontrollsystem verweisen zu können, das auch mit seiner eigenen Satzung kompatibel ist. Auch die Berufung eines Anti-Doping-Beauftragten und die Einstellung eines hauptamtlichen Mitarbeiters für Antidopingfragen haben sich bewährt.

Unzureichend sind nach wie vor die Kommunikationsinstrumente zur Aufklärung der Athleten und der Öffentlichkeit. Eine Aufklärungsbroschüre wurde nach zwei Nummern eingestellt. Der Runde Tisch – ein Diskussionsforum mit Betroffenen und Experten – fand lediglich zweimal statt und auch die Aufklärung von Trainern und Athleten ist immer noch äußerst begrenzt.

Ausblick

Ich habe mit meinen Ausführungen versucht, die Komplexität des Problems in erster Linie für den Deutschen Leichtathletik-Verband darzustellen. Bringt man die gemachten Beobachtungen in einen interpretativen Zusammenhang zu den eingangs gemachten Vermutungen, so können diese Beobachtungen darauf hinweisen, dass es sich lohnen könnte, sie im Sinne von Hypothesen eingehender zu überprüfen. Meine Beobachtungen deuten vor allem darauf hin, dass das Steuerungsproblem in den Sportorganisationen nach wie vor ungelöst ist, dass sich die Steuerungsversuche meist durch Hilflosigkeit auszeichnen und dass dies vor allem mit einer unzureichenden Organisationsstruktur der Verbände zu tun hat. Das Dopingproblem ist somit ein Resultat einer unprofessionellen Ehrenamtlichkeit; es ist aber auch Resultat bestimmter Formen von Hauptamtlichkeit, die einerseits das Dopingproblem selbst verursacht haben, andererseits nicht in der Lage sind, es mit angemessenen Instrumenten zu bearbeiten.

Will man abschließend einen Ausblick in die Perspektiven zur Lösung des Dopingproblems aus der Sicht des DLV machen, so muss anerkannt werden, dass der Deutsche Leichtathletik-Verband mittlerweile auf nationaler Ebene in Bezug auf Tätigkeiten und Lösungen im eigenen Verband wegweisende Erfolge aufweisen kann. Unter finanziellen Gesichtspunkten hat sich nunmehr gezeigt, dass nicht nur der DLV in der Frage des Umfangs des Kontrollsystems seine ökonomischen Grenzen im Hinblick auf den Anti-Doping-Kampf erreicht hat. Eine Ausweitung des Kontrollsystems wird sich allein aus diesem Grunde verbieten. Hinzu kommen aber auch ethisch-moralische Bedenken, die zu Recht gegen eine weitere Ausdehnung der Kontrollinstrumente geäußert werden. Die Einsicht, dass über das Kontrollieren und Bestrafen das Dopingproblem nicht zu lösen ist, wird zunehmend die Verbandsarbeit kennzeichnen, wobei tragfähige Perspektiven zur grundsätzlichen Lösung des Problems noch immer nicht in Sicht sind. Das Dopingproblem – und das wird immer deutlicher – ist Resultat der Systemlogik des Hochleistungssports. Deshalb wird es wohl kaum mit Kontrolle und moralischen Appellen oder mit Aufklärung und Erziehung zu lösen sein. Notwendig ist ein Eingriff in die Systemlogik des Hochleistungssports selbst. Hier sind unterschiedliche Initiativen denkbar und wünschenswert. So wäre es zumindest angebracht, auf ökonomischer Ebene Initiativen zu ergreifen in einem System, das im Wesentlichen von der Frage des finanziellen Gewinns geprägt ist. Zu denken ist dabei an neue Modellwettkämpfe, bei denen es sich für Sieger lohnt, Leistungen auf saubere Weise erbracht zu haben. Zu denken ist aber auch an die Gestaltung einer neuen Wettkampfkultur, die gerade unter ökonomischen Gesichtspunkten möglicherweise für das System der Wirtschaft und der Medien sogar anschlussfähiger sein kann als es das bisherige Hochleistungssportsystem ist. Dazu bedarf es neuer Ideen, der Kreation neuer Wettkämpfe und einer besonderen Betonung der visuellen Wahrnehmung des Wettkampfes selbst, einer Rücknahme der digitalisierten Leistungserfassung, einer Hervorhebung der Präsentationsleistung der Athleten und einer Zurücknahme des Einflusses all der Zulieferindustrien, die heute angeblich oder tatsächlich sportliche Leistungen bedingen. Die Lösung des Dopingproblems liegt ganz offensichtlich in einer Utopie eines besseren Sports. Begibt man sich nicht auf die Suche nach diesem Sport, so wird das derzeitige System des Hochleistungssports wohl kaum eine Überlebenschance haben.

letzte Überarbeitung: 21.03.2018

Erstveröffentlichung: Doping als Verbandsproblem. In: Bette, K.H. (Hrsg.): Doping im Leistungs­sport sozialwissenschaftlich beobachtet. Stuttgart 1994, S. 131-152.