Beijing 2022 – Eine fragwürdige deutsche Kommunikationsbilanz

Es war wie immer, und doch war es ganz anders.
Wie immer wurde wenige Wochen vor den Olympischen Spielen – wie von unsichtbarer Hand gesteuert – ein journalistisches Theaterstück inszeniert, das bis zur Eröffnungsfeier der Spiele in mehreren Akten auf der Bühne des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und der führenden deutschen Tageszeitungen aufgeführt wurde. Wie vor den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking, den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi und den Winterspielen in Pjöngjang wurde auch vor den Winterspielen 2022 ein „Feldzug“ gegen den Gastgeber der Spiele, gegen das IOC und gegen den Olympismus im weitesten Sinne aufgeführt. Sämtliche mittlerweile hinreichend bekannte Szenen dieses Theaterstücks kamen dabei erneut wieder zur Aufführung: an erster Stelle stand dabei die Kritik der Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen Gastgeber. 2008 war es die buddhistische Bevölkerung Tibets, die von der kommunistischen Regierung Chinas verfolgt wird, 2014 war es die Diskriminierung der LBTG Community durch Russlands Regierung, 2022 waren es die muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang, die angeblich oder tatsächlich von der kommunistischen Regierung Chinas in Erziehungslagern gefangen gehalten werden. Jedem der Gastgeber wurden große ökologische „Verbrechen“ vorgeworfen, die Sinnhaftigkeit von Winterspielen in den jeweiligen Ländern wurde infrage gestellt, Winterspiele wurden zu einem europäischen Vermächtnis stilisiert, dem IOC wurde und wird der Ausverkauf der olympischen Werte und Ideale vorgehalten. Kommerzialisierung und Größenwahn gefährden demnach die Zukunft der Spiele und die Spiele werden von einer korrupten Funktionärselite gesteuert, die sich mit den Autokraten dieser Welt verbrüdert haben. Die ARD meldete sich wie üblich mit einem chinesischen Horrorszenario in Dopingfragen zu Wort, für das Seppelt mit seinem für ihn typischen Recherchestil verantwortlich zeichnen darf. Ein Berliner Sportphilosoph stellt in Interviews mit Tageszeitungen den Olympismus und das IOC infrage, ohne dass man dabei erkennen kann, was an seinen Ausführungen philosophisch sein soll und auf welchen empirischen Grundlagen er seine Unterstellungen gegenüber dem IOC vorträgt. Er stellt die Behauptung auf, dass „Olympia in den Händen von Barbaren“ gelandet sei. Er selbst ist sich aber nicht zu schade, sich vom Höchsten dieser „Barbaren“ mit dem Ethik-Preis des deutschen Sports auszeichnen zu lassen. Nahezu in sämtlichen Medien wird den verschiedenen internationalen Organisationen wie „Transparency International“, „Amnesty International“, „Human Rights Watch“ und einigen Dissidenten die Gelegenheit gegeben, u.a. auch ihre Boykottforderungen an die deutsche Öffentlichkeit zu richten. Nur einer kleinen Minderheit wird die Gelegenheit gegeben, ihre Gründe vorzutragen, warum sie einen Boykott nicht für sinnvoll erachten und ein politischer Boykott angesichts der tatsächlichen Beziehungen der verschiedenen politischen Systeme einer groß angelegten Heuchelei gleichkommt.

So wie immer endete auch 2022 das dominante Narrativ des Anti-Olympiatheaterstücks nahezu pünktlich mit der Eröffnungsfeier der Spiele.  Von heute auf morgen wurde das Narrativ nahezu vollständig von einem neuen Narrativ abgelöst, indem vor allem die Athletinnen und Athleten, die Trainerinnen und Trainer, die Wintersportexperten¹ und nicht zuletzt auch das Fernsehpublikum vor dem Bildschirm zu Wort kommen. Das „Athletendorf“ wird nun als sehr gelungen gelobt und die von den chinesischen Gastgebern angebotenen Dienstleistungen werden hervorgehoben. Die Abfahrtspiste, die von Bernhard Russi, dem ehemaligen Schweizer Goldmedaillengewinner in der Abfahrt, kreiert wurde, wird als eine der besten der Welt eingeordnet. Die bestens präparierten Pisten werden gelobt. Die Versorgung im „Athletendorf“ ist vorbildlich. Die moderne Architektur der Spiele wird gewürdigt. Athleten und Athletinnen schwärmen von der Atmosphäre, die trotz der Corona-Pandemie und der dadurch bedingten Abschottung gegenüber der chinesischen Bevölkerung, im „Athletendorf“ und während der Sportwettkämpfe angetroffen werden konnte. Es werden Leistungen von Gegnern bewundert. Die Athletinnen und Athleten, aber auch die TV-Zuschauer können wahrnehmen, wie schön sportliche Wettkämpfe sein können, wenn sie in Arenen stattfinden, die nicht von Werbeplakaten zugepflastert sind, wenn die Körper der Athleten und Athletinnen keine Litfaßsäulen sind und wenn viele der Athletinnen und Athleten bemüht sind, dem Ideal des Fair Play und der olympischen Friedensidee gerecht zu werden. Viele spannende Wettbewerbe werden gezeigt. Viele Reporter überzeugen durch fachliche Kompetenz und auch die neuen Olympischen Wettbewerbe werden auf anschauliche und verständliche Weise dem Zuschauer erklärt. Manchmal möchte man sich ein kompetenteres Regelwissen der Reporter wünschen und auf manche einseitige nationale Orientierung könnte verzichtet werden. Doch insgesamt waren die Bilder von der Eröffnungsfeier, von den Wettkämpfen und dem Leben in der „Olympischen Blase“ sehr gelungen und ihre kommunikative Begleitung auch meist sehr informativ.

So wie immer endet auch dieses Narrativ mit dem Schluss der Spiele. Die teilnehmenden Olympischen Mannschaften machen sich meist sehr schnell auf den Nachhauseweg und bereits wenige Tage nach den Spielen geht der sportliche Alltag mit seiner Weltcup-Saison weiter. Die Spiele geraten schnell in Vergessenheit und so wie es auch 2008 den Tibetern ergangen ist, so wird es auch 2022 den Uiguren ergehen. All die massenmedialen Eiferer, die sich vor den Spielen für die Einhaltung der Menschenrechte in China eingesetzt haben, wenden sich sehr schnell ganz anderen Themen zu und die Uiguren Chinas werden mit ihren Problemen ebenso vergessen wie dies für alle anderen Minderheiten Chinas schon seit langem der Fall ist.

Vieles war also im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2022 und während der Winterspiele genauso wie wir es auch 2008 in Peking und 2014 in Sotschi erlebt haben und doch – so meine ich – war vieles aber auch ganz anders, und manches war meines Erachtens auch sehr viel problematischer als dies jemals zuvor der Fall war.

Zunächst musste auffallen, dass bei den theatralen Aufführungen vor den Spielen die in verschiedenen Akten vorgetragene Kritik an China, am IOC, an Präsident Bach und den Olympischen Spielen im Allgemeinen und den Winterspielen im Speziellen sehr viel aggressiver, sehr viel intensiver und quantitativ sehr viel umfassender war als bei all den Spielen zuvor. Die Kritik wurde von einem nahezu gleichgeschalteten journalistischen System in einer beinahe zwangshaften Weise auch noch während der Spiele selbst vorgetragen, bei der es für Gegenkritik keinen Platz gab. Interviewpartner waren nur jene Personen, von denen man wusste, dass sie das eigene Vorurteil über die Spiele bestätigen würden und bereit waren, die von Ihnen erwartete Kritik an den Spielen auch vorzutragen. Die TV- Dokumentationen waren von völlig unzureichenden Recherchen geprägt. Fehlinformationen haben sich dabei gehäuft wie nie zuvor. Einmal in die Welt gesetzte Sachverhalte wurden von den Fernsehsendern ständig wiederholt und von vielen Journalisten in den Redaktionen der Tageszeitungen „nachgeplappert“, bzw. schrieb einer von dem anderen ab, ohne selbst eigenständig recherchiert zu haben. Acht Beispiele für diesen fragwürdigen Journalismus müssen an dieser Stelle erwähnt werden. Sie wären von vielen weiteren noch zu ergänzen.

Die Vorberichterstattung in Deutschland war häufig von Beleidigungen gegenüber dem chinesischen Gastgeber geprägt. Dabei entbehrten diese Beleidigungen jeglicher Fakten. Der Sportdirektor „Alpin“ des DSV unterstellte z.B. dem chinesischen Organisationskomitee, dass es die Absicht habe, die COVID-19 Testung der Athleten zum Ausschluss für gegnerische Athleten zu nutzen. Er behauptete wider besseres Wissen, dass von den Chinesen die Infektionsgrenzwerte willkürlich festgelegt würden, er unterstellte den Chinesen den Diebstahl deutscher Wachsgeheimnisse und deutscher skitechnologischer Errungenschaften und suchte die Unterstützung durch den Bundesnachrichtendienst Deutschlands (BND). ARD- Skiexperte Felix Neureuther unterstützte diese Behauptungen, indem er sie noch mit seiner Vermutung ergänzte, dass das, was in Sotschi bei der Manipulation der Dopingkontrollen passiert ist, auch in China der Fall sein könnte. In der massenmedialen Öffentlichkeit Deutschlands wurden diese abenteuerlichen Behauptungen und Vermutungen zu keinem Zeitpunkt korrigiert und zurückgewiesen, schon gar nicht wurden sie sanktioniert, was man zumindest von den Arbeitgebern dieser Sportexperten hätte erwarten können. Vielmehr war genau das Gegenteil der Fall. Fast in allen Kommentaren zu den Spielen wurden diese geradezu lächerlichen Vorwürfe teilweise sogar als Tatsachen wiederholt, obgleich es keinen einzigen Beleg dafür gegeben hat. Genau das Gegenteil ist vielmehr der Fall. In den alpinen Wettbewerben, für die Herr Maier für die deutschen Teilnehmer verantwortlich zeichnet, gibt es so gut wie keine chinesische Konkurrenz, verschiedene Wachsgeheimnisse gibt es allenfalls bei den verschiedenen Skiherstellern und die Kompetenz chinesischer Ingenieure kann sich längst mit deutscher Ingenieursexpertise messen. Um dies zu verstehen, hätte Herr Maier lediglich sein deutsches Mobiltelefon öffnen müssen oder die Bezeichnung vielfältiger Produkte in seinem privaten Haushalt nachlesen müssen, die mit Made in China gekennzeichnet sind.

Die Behauptung, dass die Spiele von 2008 in Peking und für China völlig wirkungslos geblieben seien, wurde von sämtlichen deutschen Massenmedien in unzähligen Kommentaren ständig wiederholt, obgleich diese Behauptung durch viele empirische Fakten widerlegt werden kann. Die Vergabe der Sommerspiele 2008 an Peking hatte bereits im Vorfeld dieser Spiele eine Öffnung der chinesischen Gesellschaft zur Folge wie dies zuvor noch nie der Fall war. Ich selbst habe bei meinen Gastprofessuren und vielen Aufenthalten in China von dieser neuen Freizügigkeit und den neuen touristischen Möglichkeiten profitiert und konnte nahezu unkontrolliert in Begegnungen mit Land und Leuten eintreten. Von 2008 bis 2013 unter der Führung von Präsident Hu Jintao profitierten viele Chinesen von dieser Öffnung durch die Spiele. Die Spiele 2008 gingen auch mit einem Fremdsprachenerwerb der chinesischen Jugend einher, der seinesgleichen in Europa oder den USA sucht. Erst mit der Machtergreifung von Xi Jinping kam es zunehmend wieder zu einer Schließung der chinesischen Gesellschaft, die bis heute anhält. Diese Einschätzung wird nahezu von sämtlichen Sinologen an deutschen Universitäten geteilt, doch sie kamen mit ihrer wissenschaftlichen Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung Chinas in den vergangenen Wochen so gut wie nicht zu Wort.

Geradezu stereotyp wurde auch der Topos wiederholt, dass China keine Wintersportnation sein kann, weil es nicht über die dafür geeigneten Gebirge und den für den Wintersport erforderlichen Schnee verfügt. Die von den chinesischen Gastgebern genannten Statistiken zum Wintersport wurden gebetsmühlenartig infrage gestellt, ohne dass man sich selbst mit der Frage konfrontierte, welche verlässlichen Wintersportstatistiken wir über Europa haben und welche Institutionen diese Daten über den Wintersportmarkt Europas erheben. Tatsache ist jedoch, dass ein großer Teil der Geographie Chinas bis in die höchsten Gebirgsregionen des Himalaya- und des Altaigebirges reicht und es bereits heute mehrere Hundert Wintersportplätze gibt, deren Beschneiungsanlagen, Bergbahnen und Sessellifte nahezu ausschließlich von europäischen Produzenten hergestellt wurden. Eine Nachfrage bei der Südtiroler Firma „Leitner“, bei der österreichischen Firma „Doppelmayr“ und bei der Schweizer Firma „Bertholet“ über deren Absatzzahlen hätte ergeben, dass für die europäische Bergbahnindustrie China der wichtigste aktuelle und zukünftige Absatzmarkt ist. Ob Xi Jingping das anspruchsvolle Ziel erreicht hat, dass mit der Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 400 Millionen Chinesen den Weg in den Wintersport finden werden, kann zu Recht bezweifelt werden. Die Absatzzahlen an verkauften Skiern, Snowboards und sonstigen Wintersportgeräten machen jedoch deutlich, dass tatsächlich in den vergangenen Jahren viele Chinesen, die der schnell anwachsenden chinesischen Mittelschicht angehören, für sich den Schnee – und Wintersport als eine neue Freizeitaktivität entdeckt haben. Wer selbst gerne rodelt, Ski fährt oder Langlauf betreibt, müsste sich eigentlich darüber freuen können. Eine gewisse Schadenfreude könnte gegenüber all jenen „medialen Experten“ beinahe angebracht sein, die in ihrer Berichterstattung immer wieder die Behauptung aufgestellt hatten, dass es in Peking noch nie geschneit habe. Mit dem mehrtägigen Schneefall während der Spiele wurde dieses unsinnige Vorurteil eindrucksvoll widerlegt.

Das einmal ausgesprochene Urteil, dass mit den Olympischen Winterspielen in China ein ökologischer Sündenfall begangen wurde, der vor allem vom IOC zu verantworten ist, wurde vor den Spielen und während des gesamten Zeitraums der Spiele immer wieder in den Raum gestellt, und es wurden immer wieder Experten präsentiert, die das einmal ausgesprochene Urteil zu bestätigen hatten und die von den Chinesen behauptete Nachhaltigkeit ihrer Spiele infrage stellten. Dass dabei aus einer eurozentrischen Haltung heraus ökologische Fragen Chinas in einer bevormundenden Weise dargestellt und diskutiert wurden, fand bei niemandem Beachtung.
Es muss deshalb darauf hingewiesen werden, dass im Gegensatz zu europäischen alpinen Skigebieten in Peking´s neu erschlossener Wintersportregion kein einziger Baum gefällt werden musste, weil sich die neue Freizeitregion in einer wüstenähnlichen Gebirgsregion befindet, die sehr trocken ist, wenige Niederschläge aufweist und im Winter sich meist durch eine hohe Kälte auszeichnet. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Provinzregierung von Chinas Hauptstadt mit den Spielen die strukturpolitische Absicht verfolgte, für ihre 25 Millionen Einwohner eine Freizeitregion zu erschließen, die von der Hauptstadt aus, mit einer neuen Zugverbindung sehr schnell erreicht werden kann und ganzjährig als Urlaubs – und Freizeitort den Bürgerinnen und Bürgern Chinas offenstehen soll.
Besonders scharf und heftig wurde die neu erstellte Rodel – und Bobbahn von deutschen Kritikern in Bezug auf deren Nachhaltigkeit infrage gestellt. Dabei hätte eine Erkundung sehr schnell ergeben, dass für den Sommer eine intensive Nutzung dieser Anlagen geplant ist. Vorbild ist dabei die Bob- und Rodelbahn in Berchtesgaden, die in den Sommermonaten ebenfalls touristisch bis zu ihrer Zerstörung im vergangenen Jahr genutzt wurde. Auf diese Weise können die Kosten, die durch die exklusive Nutzung dieser Sportanlagen von Olympischen Athleten entstehen, erheblich reduziert werden. Die Nachnutzung der Olympischen Wintersportstätten ist im Übrigen vor allem auch von Entscheidungen der Internationalen Wintersportverbände abhängig, inwiefern diese bereit sind, zukünftig Weltcupwettbewerbe auch in der neu geschaffenen Wintersportregion Chinas auszurichten. Erwähnenswert ist auch, dass sämtliche neu geschaffenen Anlagen unter der Aufsicht und Beratung der zuständigen Internationalen Wintersportverbände geschaffen wurden. Ehemalige Athleten und Sportstättenexperten aus aller Welt waren beim Bau in leitenden Positionen beteiligt und auch deutsche Experten haben dabei mitgewirkt.

Gebetsmühlenhaft wurde vor und während der Spiele auch die Behauptung wiederholt, dass das IOC und an dessen Spitze dessen Präsident Thomas Bach die Meinung vertreten, dass die Olympischen Spiele wider besseres Wissen als ein „unpolitisches Ereignis“ darstellen möchten und betrachten würden. Auch diese Behauptung steht im Gegensatz zu allen empirisch nachvollziehbaren Aussagen des IOC-Präsidenten Bach und der tatsächlich bestehenden Sachverhalte. Seit seiner Wahl zum IOC-Präsidenten, aber auch bereits zuvor, hat er in allen nachlesbaren Verlautbarungen bei allen von ihm geleiteten IOC-Sessionen, bei seinen Reden vor der UN- Vollversammlung, der UNESCO und dem europäischen Parlament und in allen von ihm verfassten Dokumenten und Schriften  die außergewöhnlich große politische Bedeutung der Olympischen Spiele hervorgehoben, vor den Gefahren einer unangemessenen politischen Instrumentalisierung gewarnt und die Forderung als unverzichtbar erklärt, dass Olympische Spiele selbst „politisch neutral“ sein müssen und damit auch das IOC sich politisch neutral zu verhalten hat und dass mit  den Olympischen Spielen keine Partei zu Gunsten einer politischen Ideologie ergriffen werden darf. Genau dieses Erfordernis ist in der Olympischen Charta festgelegt und daran hält sich IOC-Präsident Bach äußerst konsequent. Nur deshalb kann mit der Ausrichtung von Olympischen Spielen der bedeutsamen Idee des „politischen Friedens auf Zeit“ („Olympic Truce“) entsprochen   werden. Wäre dies nicht der Fall, so gebe es keine Zukunft für die Olympischen Spiele.
Die Berichterstattung von ARD und ZDF und die Kommentatoren und Meinungsbildner in den führenden Tageszeitungen waren jedoch einmal mehr nicht bereit, über den Unterschied zwischen dem „Gebot der politischen Neutralität“ und dem „politischen Charakter“ der Olympischen Spiele zu unterscheiden. Wären Sie hierzu bereit, so müssten sie sich von den diffamierenden Äußerungen über den IOC-Präsidenten in der deutschen massenmedialen Öffentlichkeit distanzieren. Holger Gertz von der SZ, der sich wohl selbst als der „Intellektuelle“ unter den deutschen Sportjournalisten sieht, kritisiert in seinem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung vom 5.2.2022 über die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele die von Bach gemachten Ausführungen mit folgenden Sätzen: „Dann sagte er, dass man bei Olympia drüben im Dorf friedlich zusammenlebt, er sagte, dass es dort im Dorf keine Diskriminierung gibt. Ganz abgesehen davon wie selbstbezogen diese Aussage ist: mal wieder die alte Beschwörung der Behauptung, Olympia sei unpolitisch. So versuchen sie sich beim IOC ihre Sicht der Welt schön zu reden und gehen sich inzwischen selbst auf den Leim. Die Bubble, in der alle Olympiamenschen in China gerade leben, ist eine Metapher für die Scheinwelt, in der die Olympiabosse sich eingerichtet haben. Die Opening Ceremony mag ein Platz zum Träumen sein, aber kurz ein Einwurf aus der echten Welt: nein, der Sport ist politisch“. Für diese Einsicht braucht es ganz gewiss nicht eines Ausrufs von Herrn Gertz. Jeder Sportamtsleiter einer deutschen Kleinstadt kann uns erklären wie weitreichend der politische Charakter des Sports schon immer ist. Doch Herrn Gertz muss gesagt werden, dass Herr Bach genau das Gegenteil von dem bei seiner Eröffnungsrede sagte, was ihm von Herrn Gertz unterstellt wird. Er behauptete keineswegs, dass der Sport unpolitisch sei. Er betonte vielmehr die politische Bedeutung des Sports, wenn durch die Friedensidee der Olympischen Spiele jegliche Diskriminierung im Olympischen Dorf für den begrenzten Zeitraum der Olympischen Spiele ausgeschlossen werden kann.

Diffamierend gegenüber dem IOC Präsidenten und des IOC sind auch die vor und während der Spiele mehrfach wiederholten Berichte über die Pressefreiheit während der Spiele und über die Möglichkeiten der Athleten und Athletinnen, ihre Meinung während ihres Aufenthaltes in Peking frei zu äußern. Dabei könnte jeder Journalist nachlesen, dass in den abgeschlossenen Ausrichterverträgen zwischen dem IOC und dem jeweiligen Olympischen Organisationskomitee seit 2015 der Gastgeber zu garantieren hat, dass die Athleten und Athletinnen in der sog. „Mixed Zone“ und bei Pressekonferenzen ihre persönliche, politische und religiöse Meinung frei äußern können, ohne dass Konsequenzen vom IOC oder durch die chinesische Regierung zu erwarten sind. Der freie Internet-Zugang war bei diesen Spielen ebenfalls durch den Ausrichtervertrag gesichert und das IOC garantierte den anwesenden Journalisten eine freie Berichterstattung über die Spiele während der Spiele und in den für die Olympischen Spiele akkreditierten Räume. Dass diese freie Berichterstattung während der Spiele in Peking möglich gewesen ist, zeigen die vielen kritischen Betrachtungen über den chinesischen Gastgeber in den deutschen Massenmedien vor, während und nach den Spielen. Dass man mit den Spielen eine freie Berichterstattung in China für die Zeit nach den Spielen und eine freie Meinungsäußerung für chinesische Bürgerinnen und Bürger erreichen möchte oder gar kann, hat das IOC noch nie behauptet. Die Olympischen Spiele sind lediglich eine „Insel auf Zeit“, auf der sich Menschen ohne gegenseitige Diskriminierung und mit der Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung bei friedlichen Wettkämpfen begegnen. Auf das, was sich politisch vor und nach den Spielen in dem jeweiligen Gastgeberland tatsächlich  ereignet und anzutreffen ist, kann das IOC keinen Einfluss nehmen. Finden jedoch die Spiele in einer Diktatur statt, wie dies bei den Winterspielen 2022 der Fall war, so kann die herausragende symbolische Bedeutung dieser „Insel“ in einer Weise zum Tragen kommen, wie dies nicht annähernd der Fall ist, wenn die Spiele in einer westlichen Demokratie ausgerichtet werden.  Es kann deshalb zu Recht die These vertreten werden, dass angesichts dieser außergewöhnlichen Möglichkeit auch zukünftig die Spiele immer wieder in Ländern und gesellschaftlichen Systemen stattfinden sollten, in denen Menschenrechte nicht respektiert werden und die von Autokraten oder gar von Diktatoren beherrscht sind.

Von einem freien Journalismus, der für westliche Demokratien als angemessen gelten kann, muss auch eine Differenzierung innerhalb der Berichterstattung erwartet werden. Dazu gehört vor allem, dass auch die negativen und positiven Aspekte der Spiele in Peking in einem ausreichenden Ausmaß zur Darstellung gebracht werden, die während der Spiele zu beobachten waren. Dies setzt allerdings eine Recherche vor Ort voraus und verbietet eine Kommentierung aus deutschen Studios, ohne dass die Kommentatoren sich jemals ein eigenes Bild von den Spielen in China gemacht haben. So wäre es wünschenswert gewesen, dass man einen genauen Blick auf die Kommunikation der chinesischen Gastgeber mit den Gästen aus den verschiedenen Nationalen Olympischen Komitees geworfen hätte. Auch der Aufenthalt der Athletinnen und Athleten im Olympischen Dorf wurde nur sehr unzureichend in Wort und Bild dargestellt. Die Auswirkungen des Olympic Solidarity Programms für Winterspiele wurde kaum erfasst. Gleiches gilt für die Rolle des „Olympischen Refugee Programms“ bei Winterspielen. Ebenso wäre es wünschenswert gewesen, dass die Entscheidungs – und Überwachungsketten, die für das kommunistische System Chinas typisch sind, in ihren Auswirkungen in der olympischen Blase genauer dargestellt worden wären. Auch hätte man gerne erfahren wie die in China üblichen disziplinären Maßnahmen der chinesischen Gastgeber untereinander innerhalb der olympischen Blase durchgeführt wurden und welche Rolle Parteisekretäre innerhalb der Blase gespielt haben. Auch hätte meines Erachtens die Frage gestellt werden müssen, welche inakzeptablen Maßnahmen es von den Gastgebern gegeben hat, die nicht mit dem Gebot der COVID-Sicherheit begründet werden können. Der wünschenswerte journalistische Katalog könnte noch fortgeführt werden. Er weist darauf hin, dass man in der deutschen Berichterstattung von einer differenzierten Darstellung der Verhältnisse in China während der Olympischen Spiele weit entfernt war.

Zu einem der größten Ärgernisse der deutschen Olympiaberichterstattung zählten jene Talkshows, mit denen die Verantwortlichen der TV-Sender glaubten, Hintergründe der Olympischen Spiele offenlegen zu müssen. Diese Talkshows wurden von eingeladenen Gästen geprägt, deren Äußerungen an Dummheit und Unwissenheit teilweise nur schwer zu  ertragen waren. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen bot dabei Leuten wie Christian Neureuther, dem Vater von Felix Neureuther, eine ideale Bühne für deren nostalgische Erinnerungen an frühere Winterspiele und an die von ihnen angeblich gezeigte kommerzielle Bescheidenheit. Keine der dabei aufgestellten Behauptungen wurden dabei hinterfragt und schon gar nicht wurden diese Kritiker mit Menschen konfrontiert, die ihnen hätten widersprechen können. Neureuther sprach von einem so genannten „Bid-Book“ des IOC, das es schon längst nicht mehr gibt, und auch in jener Zeit und in jener Form, über die er sprach, noch nie gegeben hat. Die Reformen, die über die „Agenda 2020“ durch den IOC-Präsidenten Bach auf den Weg gebracht wurden und die mit der „Agenda 2020 +5“ noch ergänzt wurden, hatten weder die Moderatoren noch die eingeladenen Gäste in Vorbereitung der Sendungen gelesen. Die mittlerweile erfolgten Veränderungen bei der Bewerbung und Durchführung von Olympischen Spielen wurden ausgeblendet oder bewusst nicht zur Kenntnis genommen. Das finanziell wesentlich günstigere neue Bewerbungsverfahren, die neuen Ausführungsbedingungen, durch die vor allem auch die Nutzung bestehender Sportanlagen möglich geworden ist, und die Kosten für die Ausrichtung durch die Beteiligung ganzer Regionen und mehrerer Städte wesentlich günstiger sind, wurden ebenso wenig zu Kenntnis genommen wie die ökologischen Einsparungsbemühungen des IOC, die in vieler Hinsicht vorbildlich geworden sind. Auch die neuen Compliance-Verfahren und Good- Governance Maßnahmen des IOC im Kampf gegen Korruption und Betrug wurden mit keinem Wort erwähnt, obgleich sie von internationalen Gutachtergremien als vorbildlich beurteilt wurden. Dafür dürfen die Talkshowgäste an einem Überbietungswettbewerb an Polemik gegen das IOC teilnehmen und die Talk-Master übertreffen sich dabei in ihrer zur Darstellung gebrachten fachlichen Naivität und Unwissenheit.

Über die sportliche Bilanz der deutschen Olympiamannschaft bei den Spielen in Peking 2022 lässt sich immer trefflich streiten. Die Bilanz der massenmedialen Begleitung dieser Spiele ist meines Erachtens jedoch eindeutig. Legt man die Kommunikationsmaßstäbe der Objektivität, der Klarheit, der Relevanz und vor allem der Wahrheit an, also jene Maßstäbe, die in westlichen Demokratien kennzeichnend für die Massenmedien sein sollten, so fällt das Urteil über die deutsche Olympiaberichterstattung äußerst negativ aus. Für die für diese Berichterstattung leitenden Verantwortlichen, für die Intendanten und die Chefredakteure sollte dies Anlass zur Selbstkritik, zur Überprüfung der bestehenden Kommunikationskonzepte und vor allem zu der Frage führen, ob nicht auch das deutsche massenmediale Kommunikationssystem an zukünftigen gelungenen Olympischen Spielen ein Interesse haben sollte und welchen Beitrag man dabei leisten möchte.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 19. Februar 2022