Neue Körperliche Grundbildung: Können und Verstehen

Ein Gastbeitrag von Prof. em. Dr. Albrecht Hummel

Einführung
Einige deutsche Sportpädagogen sind gegenwärtig bemüht, die Fachkultur des Sportunterrichts grundsätzlich neu zu bestimmen. Sie grübeln und theoretisieren darüber, ob nach erfolgtem Aufstand des Denkens und vollzogener reflexiver Wende das neuerdachte Kognitions- und Reflexionsfach -bislang schlicht mit „Sport“ bezeichnet-, nun ausgerichtet am Leitbegriff „Sportliteralität“ (Schierz & Miethling, 2017, S.60), eher als „Sport-Studies“ oder als „Sportwissenschaft“ zu bezeichnen wäre. Diese Vorschläge passen nicht in das übliche Geschehen, dass nach dem medialen Aufploppen einer gesellschaftlichen Problemlage zeitnah ein Schulfach (Wirtschaft, Programmieren, Gesunde Ernährung, Umweltschutz u.a.m.) gefordert wird, um diese gesellschaftlichen Probleme mittels der Institution Schule in den Griff zu bekommen. Bei „Sport-Studies“ geht es eher um die tiefgreifende Veränderung eines etablierten und durchaus akzeptierten Unterrichtsfaches. Damit sollen drei Krisen auf einen Schlag bewältigt werden: Eine angebliche Anerkennungskrise des Sportunterrichts, die allgemeine Misere des Sportlehrerberufs und die akademische Profillosigkeit der Sportpädagogik/Sportdidaktik.

Nahezu zeitgleich hat sich auf der internationalen Bühne, gewissermaßen „across the globe“  von Neuseeland bis Canada schon längst eine Hinwendung zu einer neuen, mehrdimensionalen Körperlichen Grundbildung (Physical Literacy) vollzogen, in welcher das körperliche Aktivsein (Physical Activity), die Entwicklung motorischer Fähigkeiten und die motorische Kompetenzentwicklung im Zentrum stehen. Die bestehende Ausrichtung des Sportunterrichts als praktisches Bewegungsfach wird dadurch generell gestützt und gefördert; ebenso, die über Jahrzehnte gewachsene, fachspezifische, inhaltlich-didaktische und methodisch-organisatorische Konzeption wirkungsvollen Sportunterrichts, wo Können und Verstehen miteinander förderlich in Verbindung gebracht werden. Die effektive Realisierung einer entwicklungsförderlichen Körperlichen Grundbildung unter den üblichen alltäglichen unterrichtlichen Bedingungen erfordert ein ausgeprägtes, fachspezifisches berufliches Können der Sportlehrkräfte. Körperliche Grundbildung im Fachunterricht „Sport“ ist mit Gewissheit kein betreutes Sporttreiben oder lediglich eine erweiterte Hofpause.

Die globale Verbreitung der Physical Literacy-Konzeption, maßgeblich konzeptionell fundiert durch M.Whitehead, geronnen in Dokumenten der UNESCO und eingeordnet in internationale und nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung, erfolgte aus guten evidenzbasierten Gründen. Dazu zählen einmal die besorgniserregenden Befunde zur körperlich-motorischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, zur stagnierenden teils regressiven motorischen Leistungsfähigkeit der Heranwachsenden, zur Entwicklung des Körpergewichts (Übergewichtigkeit, Adipositas, Untergewichtigkeit), zum allgemeinen Gesundheitsstatus und zum konkret verfügbaren, individuellen Bewegungskönnen in verschiedenen Bewegungsfeldern. Die Ergebnisse zahlreicher, methodisch gut abgesicherter empirischer Analysen auf nationaler und internationaler Ebene belegen das überzeugend und sind Grundlage für nachvollziehbare, nationale und internationale Bewegungsempfehlungen. Die Karlsruher KIGGS/ MoMo-Studien- und die Potsdamer Emotikon-Studien belegen sowohl realistische Problemlagen zum Niveau der motorischen (körperlichen) Leistungsfähigkeit als auch (Momo-Studie) erste vorsichtige Anzeichen für die Überwindung bisheriger, vorwiegend regressiver Trends in der Entwicklung der motorischen Leistungsfähigkeit bei Kindern. Die Verweise auf eine Trendumkehr zeigen sich hier insbesondere bei Kindern im Grundschulalter und bestätigen die Annahme, dass kein lebensweltlicher Bereich durch Bewegungsförderung so gut erreicht werden kann wie der Sportunterricht in der Grundschule.

Zum anderen liegen zwischenzeitlich zahlreiche Interventionsstudien vor, die darauf verweisen, dass innerhalb und außerhalb des schulischen Sportunterrichts praktisch-methodische Maßnahmen durchaus möglich sind, um positive Veränderungen auszulösen und die so wichtigen Selbstwirksamkeitserfahrungen seitens der Schülerinnen und Schüler zu vermitteln. Nur im Bildungsort „Schule“ mit seinem obligaten Sportunterricht auf allen Klassenstufen und in allen Schulformen werden tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen erreicht. Nur der schulische Sportunterricht kann das Minimum an körperlicher (motorischer) Bildung tatsächlich für alle ermöglichen und garantieren. Das setzt voraus, dass der Sportunterricht als ein qualitativ hochwertiges Bewegungsfach unter inhaltlicher und methodisch-organisatorischer Perspektive gestaltet wird. Das setzt ein ausgeprägtes berufliches Können der unterrichtenden SportlehrerInnen voraus.

Reale Problemlagen der körperlich-motorischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen in einer tendenziell sitzenden, technikfokussierten Umwelt aber auch die belegbaren Effekte pädagogischer Interventionen zur motorischen Entwicklungsförderung werden jedoch von nicht wenigen universitären Sportpädagogen, die sich auf einen skurrilen, geradezu provokanten deutschen Sonderweg begeben haben, ignoriert und die praktisch-methodischen Herausforderungen und ebenso die Möglichkeiten des Schulsports übersehen. Realitätsverweigerung und Phänomene ideologiebasierter Selbstimmunisierung sind erkennbar. An den öffentlichen Schulen hätte angeblich künftig nur noch ein Unterricht „über Sport“ einen bildungstheoretisch legitimen Platz. Erziehung zum Sport und didaktisch reflektiertes Lehren und Lernen von Sport in Form aufbereiteter Schulsportarten wird als unemanzipierte Anpassungsleistung, als unpädagogische affirmative Sportsozialisation diffamiert und mit dem üblichen „Kampfbegriff“ einer schlichten apädagogischen und didaktisch nicht reflektierten Sportartorientierung belegt.

Erziehung zum Sport und durch Sport gilt erfreulicherweise dennoch als legitim, jedoch nur außerhalb von Schule. Ohne Not wird mit einer über 150jährigen Fachkultur gebrochen, die sich,- bei  allen zeitgeschichtlichen Schwankungen (Modell Schnepfenthal; Modell Adolf Spiess; Modell Natürliches Turnen; Modell Politische Leibeserziehung), Legitimationen und Funktionalisierungen-, als ein dominantes, praktisches Bewegungsfach zeigte, sich durch körperliche (leibliche, turnerische, gymnastische) Aktivität auszeichnet und zwischenzeitlich eine fachspezifische, didaktisch-methodische und organisationale Struktur erhalten hat. Aber genau damit soll nun Schluss sein. Diese primitive Methodenkunde hat ja nichts mit ordentlicher Fachdidaktik zu tun. Die Ausrichtung als praktisches Bewegungsfach verhindert ja ohnehin die Anerkennung als ein gleichwertiges Fach im Kanon der anderen, bildungstheoretisch begründeten Schulfächer, sie erzeugt weiterhin die Misere des Sportlehrerberufs und erschwert noch dazu die Akzeptanz der deutschen Sportpädagogik/Sportdidaktik.

Die Kompensation „geistiger Überbürdung“ als vermeintlicher Urknall der Fehlentwicklung des Sportunterrichts
Die Ursachen der Deprofessionalisierung des Sportlehrerberufs und die Krise der Sportpädagogik/Sportdidaktik werden in der langfristigen Fehlentwicklung des Unterrichtsfaches und seiner Fachkultur gesehen. Die lediglich kompensatorische Antwort auf eine angebliche geistige Überbürdung der Kinder und Jugendlichen in den höheren Lehranstalten (Gymnasien) zur Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts markiert nach Auffassung von Schierz & Miethling (2017) den fatalen Ursprung der nachfolgenden Fehlentwicklung des Sportunterrichts bis in die Gegenwart. Von Anfang an hätte es keine bildungstheoretische (pädagogische) Begründung gegeben, sondern lediglich eine medizinische und trainingstechnische: „Die historisch- rekonstruktiven und gegenwartsbezogenen Deutungsmusteranalysen fokussierten die im deutschen Überbürdungsdiskurs des ausgehenden und beginnenden 20.Jahrhunderts  verankerte Orientierung des Schulfachs an einer medizinischen (und militärischen) Konzeption, die im Kontext der Kritik an der behaupteten gesundheitsschädigenden und belastbarkeitsschwächenenden geistigen Überbürdung der SchülerInnen die Institution Schule unter einen generellen Pathologieverdacht stellte. In der Perspektive (…) generierte der Überbürdungsdiskurs historisch überdauernde fachkulturelle Deutungsmuster, die den Glauben an den Sonderstatus des Schulfachs als eine geistige Überbürdung kompensierenden Schulfach bis in die Gegenwart tradierten…“

Die von deutschen Nervenärzten in einer Phase „gelebter Hysterie“  und gesteigerter „Gemühtsreizbarkeit“ im „nervösen Zeitalter“ erfundene und von Schriftstellern der sogenannten Schulliteratur verklärte und maßlos überhöhte Symptomatik der „geistigen Überbürdung“  von (männlichen) Jugendlichen an höheren Lehranstalten (Gymnasien) ist angeblich an der gesamten Misere schuld und hat zur unsäglichen Sonderstellung und zur  gegenwärtigen Anerkennungskrise des Sportunterrichts im Fächerkanon der öffentlichen Schulen geführt. Das sogenannte „Leiden der Knaben“ und literarisch verarbeitete Schülersuizide wurden auf die intellektuelle Überbeanspruchung an den Gymnasien und auf eine allgemeine „nervöse Entartung“ an den höheren Schulen zurückgeführt.

Als Rudolf Virchow et al. 1883 in einem Gutachten der geistigen Überbürdung der Schüler in den höheren Lehranstalten auf den Grund gehen sollte, verwies er auf die mangelhafte Datenlage und verblieb auf der Ebene allgemeiner Empfehlungen zur Verbesserung der Schulhygiene.

Die intensive, künstlerisch- literarische Bearbeitung des Themas „geistige Überbürdung“ entsprach nicht der tatsächlichen Lebenslage des Großteils der Kinder und Jugendlichen jener Zeit. Die weit überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen litt eher an geistiger Unterforderung in den Schulen, an (einseitiger) körperlicher Überforderung in der Arbeitswelt, an unzureichender Ernährung und schlechten hygienischen Bedingungen. Die Kinder waren mehrheitlich und bereits sehr früh in die Arbeitswelt der Erwachsenen in der Landwirtschaft, im Handwerk und in der aufkommenden Industrie integriert und galten in bestimmten Bereichen durch ihre geringe Körpergröße sogar als besonders geeignet (Bergbau; Bedienung von Textilmaschinen) für körperliche Arbeit. Die Analysen zur deutschen Sozialgeschichte belegen diese erschreckenden Zustände jener Zeit eindrucksvoll. Die geistige Überbürdung ist eine Erfindung von Literaten, die durch neue sportpädagogische Literaten und Erfinder aufgegriffen und fortgeschrieben wird.

Die hohe Kindersterblichkeit, die geringe Lebenserwartung, der beklagenswerte Gesundheitszustand der Jugendlichen und die geringe körperliche Leistungsfähigkeit der Schulabsolventen jener Zeit waren wesentliche Begründungen für die Aufnahme des damaligen Turnens in den Fächerkanon der öffentlichen Schulen. Der brauchbare Bürger und der gehorsame Untertan sollten gesund und leistungsfähig sein, um ihren Aufgaben im Militärdienst und in der Arbeitswelt gerecht zu werden. Bei den Schülerinnen wurde eher an Gebärfähigkeit und Mutterschaft gedacht. Die Einführung des Turnunterrichts trug zur besseren Übereinstimmung der damaligen Schulkonzeption mit der damaligen Gesellschaftskonzeption bei. In seiner Zeit war der Turnunterricht durchaus gesellschaftspolitisch, kulturell und erzieherisch orientiert.

Die innerschulische Kompensation der geistigen Überbürdung von Gymnasialschülern spielte dabei jedoch eine nachrangige Rolle. Darüber machten sich die Militärärzte in den Musterungskommissionen des preußischen Heeres keine Gedanken. In die späteren Diskurse zur Umfangslegitimation (tägliche Sportstunde) und zur Fachlegitimation des Sportunterrichts im20.Jahrhundert gewannen dann anthropologische, autotelische und zunehmend auch intrasportive Legitimationen eine erhöhte Aufmerksamkeit. Diese Entwicklung spiegelt sich eindrucksvoll in den Instrumentalisierungsdebatten der jüngeren deutschen Sportpädagogik in den 1990er Jahren wider.

Die angeblich falsche „medizinische“ Bewährungslogik
Von Anfang an und bis in die jüngere Vergangenheit, hätte eine medizinische und keine pädagogische Bewährungslogik der Fachkonzeption im Vordergrund gestanden. Das erweckt den Eindruck, als ob die frühen erzieherischen Positionen von Rousseau, Pestalozzi, Guts-Muths und Jahn ebenso wenig eine Rolle gespielt haben, wie die späteren Theoretiker der Leibes-beziehungsweise Körpererziehung in West-und Ostdeutschland von Meinel bis Grupe. Denn: „Erst mit der Umstellung von einer medizinischen auf eine pädagogisch-didaktische Bewährungslogik eines kultur-und gesellschaftstheoretisch orientierten Schulfachs in den 1970er Jahren entstanden in den Fachkonzeptionen von Kurz (1977) und Ehni (1977) didaktische Orientierungen, die explizit das Geschehen in Sportstunden nicht trainings-und übungszentriert, sondern erkenntnis-und urteilsbezogen sowie kommunikativ vermittelnd entwarfen.“ (Schierz & Miethling,2017, S.53).

Die frontale Gegenüberstellung einer medizinischen und einer pädagogischen Bewährungslogik ist grundsätzlich zurückzuweisen. Es kann keine „gute“ (humane) schulpädagogische Begründung geben, wo nicht medizinische, gesundheitswissenschaftliche und humanontogenetische Positionen angemessen integriert sind. Das Verhältnis des Pädagogischen zum Medizinischen ist kein additives, auch kein alternatives, sondern stets ein integratives. Es fand auch keine schlichte Umstellung von einer medizinischen auf eine pädagogisch-didaktische Bewährungslogik statt, weder durch die benannten Personen, noch zum angegebenen Zeitpunkt und auch nicht begrenzt auf den politischen Raum. Diese Behauptungen halten einer theoriegeschichtlichen Analyse im deutschsprachigen Gebiet nicht stand. Es ist auch keinesfalls angezeigt, dass die pädagogisch-didaktische Bewährungslogik des Sportunterrichts das praktische Üben und Trainieren zurückweist und das Erkennen und Beurteilen bevorzugt. Können und Verstehen sind kein Gegensatz.

So stellen Schierz & Miethling notwendigerweise Vermutungen darüber an, warum die angeblichen Umstellungsbemühungen von Kurz und Ehni die medizinisch-trainingswissenschaftlichen Deutungsmuster des Sportlehrerberufs nicht nachhaltig brechen konnten. Die anhaltende Wirkung der medizinisch-trainingswissenschaftlichen Bewährungslogik hinsichtlich der gesundheits- und fitnessbezogenen Aufgaben des Schulsport sowie die nachgewiesenen Effekte von körperlicher Aktivität auf kognitive Leistungen in den Konzepten der „Bewegten Schule“ hätten angeblich den nachhaltigen Durchbruch der pädagogisch-didaktischen Bewährungslogik verzögert. Es sei wiederum eine deprofessionalisierende Reproduktion des trainingsförmig-ingenieurhaften Sportlehrerhandelns erfolgt.

Diesen schreibtischbasierten ideologischen Postulaten zum verhinderten Durchbruch des angeblich wahrhaft Pädagogischen ist deutlich zu widersprechen. Diese Theoretisierereien haben mit der Schulsportwirklichkeit wenig zu tun. Aber anscheinend soll auch hier im Geiste Hegels gelten: Umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn die Theorie nicht zur Praxis passt.

Der finale Durchbruch der pädagogisch-didaktischen Bewährungslogik soll nun aber mit einer ausgedachten, neuen Fachkultur erreicht werden, in der ein „Unterricht über Sport“ stattfindet und eine Ausrichtung des Faches auf „Sportliteralität“ erfolgt. Das Bewegungsfach soll zum Reflexions-, Kognitions-und Beobachtungsfach werden. Erst dann könne der Sportunterricht den anderen allgemeinbildenden Unterrichtsfächern als gleichwertiges Fach zugeordnet und seine unterstellte Anerkennungskrise überwunden werden. Als Folge davon ließe sich dann auch zugleich die Misere des Sportlehrerberufs beenden und die wissenschaftliche Akzeptanz der Sportpädagogik/Sportdidaktik als universitäre Disziplin verbessern.

Physical Literacy statt Sportliteralität
Von der universitären deutschen Sportpädagogik nahezu unbemerkt, haben sich auf der internationalen Bühne (UNESCO) und im Rahmen der länderübergreifenden empirischen Bildungsforschung (OECD) zahlreiche domänenspezifische Literacy- Konzepte ( z.B. Mathematical Literacy; Scientific Literacy, Health Literacy) durchgesetzt. Bereits das Nicht-zur-Kenntnis- Nehmen dieser Entwicklungen selbst ist ein irritierender Fakt, da die deutsche Sportpädagogik in den internationalen Verbänden vertreten ist und ein bemerkenswerter Kongress-Tourismus betrieben wird. Die inhaltliche und semantische Bedeutung der neueren, sozioökologischen Literacy-Konzepte lässt sich nicht mit der traditionellen Bezeichnung von Literalität, in der Bedeutung von Alphabetisierung sowie Lese-und Schreibkompetenz, abdecken).

So unterscheidet sich die kognitionsbasierte und reflexionszentrierte Sportliteralität (oder Sportoralität) im Verständnis von Schierz & Miethling (2017) gravierend vom inhaltlichen Anspruch der mehrdimensionalen Physical Literacy im Sinne der Konzeptualisierung von Whitehead (1990, 2001,2013). Körperliche Aktivität und motorische Kompetenzen haben in Verknüpfung mit Motivation, Vertrauen, Teilhabe, Wissen und Verstehen darin eine zentrale und integrative Bedeutung. Das mehrdimensionale Verständnis von Physical Literacy hat seine inhaltliche Mitte (Körperliche Aktivität und motorische Kompetenzen) und zugleich lässt sich Physical Literacy nicht auf ein pures physiologischen Fit- Sein durch Anpassungsleistungen reduzieren. Reflektieren, Verstehen und aufgeklärte Bewusstseinsbildung zum Wert körperlicher Bildung sind darin eingeschlossen. Das Lehren des Verstehens wird mit der Könnensentwicklung verknüpft.

Das Konzept der Physical Literacy greift in einem durchaus auch metaphorischen Sinne die allgemeine Literacy-Konzeptualisierung auf. Das wird deutlich, wenn von der Überwindung eines motorischen (körperlichen) Analphabetentums gesprochen oder eine körperliche Alphabetisierung gefordert wird. Diese Metaphorik suspendiert nicht die zentrale Bedeutung des praktischen, körperlichen Aktivseins. Die Sentenz aus dem antiken Schriftgut – er konnte weder lesen noch schwimmen- verweist seit langem auf diesen Zusammenhang.

Gleichzeitig kann man durch einen Perspektivenwechsel feststellen, dass diese Entwicklungen im internationalen Bereich nahezu unbeeinflusst von der verschwurbelten, geisteswissenschaftlichen deutschen Bildungstheorie blieben. Die internationalen Literacy-Konzepte folgen einer geradezu klassisch-pragmatischen Grundbildungsidee (Tenorth); d.h. dem Versuch zu ermitteln, was alle jungen Menschen im Sinne eines Bildungsminimums wissen und können sollten. Grundbildung ist im positiven Sinn funktional, instrumentell und nützlich.

Der deutsche Ansatz eines „reflective turn“ nimmt diese internationalen Konzepte entweder nicht wahr oder missversteht und missinterpretiert den international literacy-Ansatz, indem der Begriff unzutreffend und einengend als Literalität, im Sinne traditioneller Lese-und Schreibkompetenz übersetzt wird. Die neueren Literacy-Konzepte sind stets auf die sozioökologische Praxis in ausgewählten Lebensbereichen bezogen. Es geht um ein praktisches Handeln-und Verhalten-Können, es wird nicht beim Beobachten, Reflektieren, Erkennen, Verstehen und Bewerten stehen geblieben. Das substantielle Verstehen dient der Qualitätsentwicklung des praktischen Handelns und Verhaltens.

Im Kontext der von der OECD verfolgten literacy-Ansätze entstand auch das Konzept der „Physical Literacy“. Da literacy hier für Grundbildung steht, lässt sich Physical Literacy als Physische. Motorische oder Körperliche Grundbildung verstehen. Ein Begriff, der sowohl im deutschen Turnen als auch im Schulsport verwurzelt ist. Die internationale Literacy-Konzeptualisierung wurde durch die empirische Bildungsforschung beschleunigt. Sie geht von einem evidenzbasierten, pragmatischen Bildungsverständnis aus, das im Unterschied zur traditionellen, geisteswissenschaftlichen (deutschen) Bildungstheorie auf die konkrete Erziehungs- und Lebenswirklichkeit bezogen ist.

Im Spektrum der vielfältigen Literacy-Konzepte hat sich in den letzten Jahren, verstärkt seit 2013, die Konzeption der Physical Literacy (PL) in der Fachliteratur und in einschlägigen Diskursen etabliert. Dieses Konzept hat Eingang in Erklärungen und Dokumente der UNESCO gefunden und wird auch von der „International Physical Literacy Association“ (2014) vertreten.  Die internationale Assoziation “Physical Literacy” verabschiedete im Mai 2014 die bis heute konsensfähige Definition: „Physical Literacy is the motivation, confidence, physical comptence, knowledge, and understanding to value and take responsibility for engagement in physical activities for life. “ (Definition Physical Literacy; http://physicalliteracy.ca/2019)

Als Komponenten der Physical Literacy werden herausgestellt:

  1. Motivation und Selbstvertrauen
  2. Körperliche Kompetenz
  3. Wissen und Verstehen
  4. Aktives mitmachen

In allen vorliegenden Beiträgen wird auf die komplexe, mehrdimensionale und weite Sicht des Verständnisses von Physical Literacy (PL) hingewiesen. Das moderne PL-Konzept ist bio-psycho-sozial ausgerichtet und integriert körperliches Aktiv-Sein, Bewegung, Spiel und Sport mit Reflexionen, dem Verstehen und der kognitiven Durchdringung über dieses sportliche Aktiv-Sein in der Lebensspanne. Diese Körperliche Grundbildung wird nicht auf ein „blindes“ körperliches Üben und Trainieren reduziert, sondern es gilt, sein eigenes körperliches Aktivsein zu reflektieren, zu verstehen und in Beziehung zur eigenen Lebenspraxis zu setzen. In den PL-Konzepten wird versucht, systematisch und effektiv Zuversicht und Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit und Selbstregulation aufzubauen. Das Ermöglichen von Könnenserfahrungen (Selbstwirksamkeitserfahrungen) und das praktische Erleben der eigenen körperlichen Selbstvervollkommnung und der Selbstüberbietung bezüglich der individuellen körperlichen Leistungsfähigkeit sind hierbei wesentliche Elemente der modernen Körperlichen Grundbildung.

Die Grundbildungsidee darf nicht auf die Grundschule, beziehungsweise auf die Primarstufe reduziert werden. Grundbildung findet bereits davor, z.B. in den Kita-Einrichtungen statt und wird im Sekundarbereich fortgeführt. Die Grundbildung ist qualitativ und quantitativ steigerungsfähig bis hin zur beruflichen und nichtberuflichen Spezialbildung. Grundbildung ist weder ein Ersatz noch eine Alternative für Allgemeinbildung, an der es ein Leben lang zu arbeiten gilt. Die Entgegensetzung der angelsächsisch geprägten (pragmatischen, funktionalen) Grundbildung zur humboldtianisch geprägten, deutschen Allgemeinbildungsidee (autonom, kritisch, mündig, solidarisch) verdeckt die produktive wechselseitige Beeinflussung beider Bildungsansprüche. Grundbildung ist eine unverzichtbare Voraussetzung für Allgemeinbildung und natürlich auch für die berufliche (und nichtberufliche) Spezialbildung.

Der exkursive Verweis auf die internationale Entwicklung der „Physical Literacy“– Konzepte ist geboten, um zu erkennen, dass eine Veränderung der Fachkultur des Sportunterrichts, hin zum Unterricht „über“ Sport, weg vom Bewegungsfach „Sport“ und eine hyperreflexive Kehrtwende, nicht nur einen radikalen Bruch mit der bisherigen, stets verbesserungsbedürftigen aber generell bewahrenswerten Entwicklung des Sportunterrichts in Deutschland bedeuten würde, sondern diese Veränderung würde dazu führen, dass die ihr Profil suchende deutsche Sportpädagogik ihre internationale Anschlussfähigkeit endgültig verlöre. Damit würde dann wieder einmal ein deutscher Sonderweg im Schulsport beschritten; diesmal nicht als deutsches Turnen, als deutsche Leibeserziehung, sondern als deutsche „Sportliteralität“.

Die Neue Körperliche Grundbildung ist fähigkeits-und könnensorientiert
Die individuell bestmögliche Förderung motorischer Fähigkeiten und die Entwicklung des individuellen Bewegungskönnens in ausgewählten Bewegungsfeldern stehen im Zentrum einer systematischen Körperlichen Grundbildung in den öffentlichen Schulen. Die Motivation und Befähigung zum selbständigen Üben, die kognitive Durchdringung und das Verstehen des Übens sowie die Ermöglichung zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Bewegungskultur ordnen sich in dieses zentrale, fachlich-unterrichtliche Geschehen ein und unter. Dieser pädagogisch-didaktische Ansatz schließt medizinisch-gesundheitliche Überlegungen ein und ist auf das Vermitteln, auf das Ermöglichen von praktischen Selbstwirksamkeitserfahrungen ausgerichtet.

Liegt der pädagogische Fokus auf der ressourcenbezogenen, individuell bestmöglichen Förderung motorischer Fähigkeiten, lösen sich die Bedenken gegenüber der Förderung motorischer und kognitiver Fähigkeiten auf. Dem vermeintlichen oder tatsächlich wirksamen „neoliberalen Fähigkeitsimperativs“ und dessen exkludierender Effekte entgeht man nicht durch eine Verweigerung oder Vermeidung von motorischer Fähigkeitsförderung in der Schule. Guter Sportunterricht und auch guter inklusiver Sportunterricht erzeugt gerade dann, wenn er individuell bestmöglich pädagogisch gestaltet wird, Unterschiede im Fähigkeitserwerb, er hat immer auch positive exkludierende Effekte.

In der schulgebundenen Körperlichen Grundbildung bieten Fähigkeitsorientierung und Kompetenzorientierung keinen Gegensatz, sie bedingen einander. In beiden Fällen geht es um den Erwerb, um die Aneignung von etwas. Das vielfach bemühte Differenzschema- Kompetenzen sind lernfähig und Fähigkeiten sind nicht lernfähig– ist sachlich unzutreffend. So ist die Entgegensetzung des „Fähigkeitskonzeptes“ (konditionelle und koordinative Fähigkeiten) zum sogenannten „Mobak-Konzept“ unterrichtsmethodisch nicht hilfreich. Wesentlich ist jedoch die Beachtung der logischen Differenz von Kompetenz und Performanz.

Das individuelle Bewegungskönnen der Schüler (egal in welchem Bewegungsfeld) bringt, wenn es nicht, wie allzu oft, fälschlicherweise mit dem Beherrschen von isolierten Bewegungsfertigkeiten gleichgesetzt wird, stets die beobachtbare, „äußere“, performative Seite der individuellen motorischen Kompetenz zum Ausdruck. Die tieferliegende, eigentliche motorische Kompetenz ist bestenfalls erschließbar. So erfolgt auch in aller Regel die Beschreibung der Kompetenzerwartungen in den kompetenzorientierten Sportlehrplänen mit Formulierungen wie, „die SchülerInnen können das und das“. Die eigentlichen (tieferliegenden) motorischen Kompetenzen sollten nicht als starre, habitualisierte Eigenschaft verstanden werden, sondern als ein individuelles, internes prozessuales Geschehen, wo ein „Ressourcenmix“ (Nieber & Hirtz) produziert wird, um konkrete Bewegungsaufgaben (Könnensanforderungen) zu lösen. In dieser Ressourcenverknüpfung fließen die individuell verfügbaren Fähigkeiten in einer einzigartigen situativen Kombinatorik ein. Gelingt die Lösung der Bewegungsaufgabe nicht, kann dann durchaus eine differenzierte Fähigkeitsentwicklung methodisch angezeigt sein. Für die Körperliche Grundbildung ist die Beachtung der methodischen Differenzierung zwischen temporär akzentuierter Fähigkeitsorientierung und integrativer Könnensorientierung (Kompentenzorientierung) bedeutsam. So hat die gezielte Entwicklung von Kraftfähigkeit und Ausdauerfähigkeit auch im Sportunterricht ihre Berechtigung.

Der Umgang mit dem Begriff „Bewegungsfertigkeiten“ führt im Rahmen der Kompetenzdebatten zu fortwährenden Missverständlichkeiten, wenn nicht zwei Bedeutungszuweisungen unterschieden werden: Einmal das Verständnis von Fertigkeiten als automatisierte Komponente der Handlungsregulation. Dann gehören Fertigkeiten als eng umgrenzte koordinative Disposition in den „Ressourcenmix“. Zum anderen das umgangssprachliche Verständnis von Bewegungsfertigkeiten als komplexe Bewegungshandlung (der Schrittweitsprung; das Brustschwimmen; der Felgaufschwung.), die sich mehr oder weniger an einem technischen Leitbild orientiert. Dann gehören Bewegungsfertigkeiten zur Anforderungs-und Aufgabenseite, sie sind dann Gegenstand des Lernens, Bestandteil des Übungsgutes und lassen sich als erlernte Bewegung wiederum als Mittel des Übens und Trainierens einsetzen.

Mag sein, dass dieser methodische Kleinkram einer Körperlichen Grundbildung für Sportpädagogen zu anspruchslos und bildungstheoretisch unbedeutend ist, für ein gesundes Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen und die Garantie eines Minimums an körperlicher Bildung für alle, ist es wesentlich. Die Vernachlässigung der Grundbildungsidee und die Geringschätzung des methodischen Kleinkrams haben mehr zur Deprofessionalisierung der Sportlehrerschaft und zur Deprofilierung der Sportdidaktik beigetragen als die literarischen Spinnereien zur geistigen Überbürdung.

Fazit
Die Probleme des Sports als Schul- und Unterrichtsfach sowie der Sportpädagogik und Sportdidaktik als akademischer Disziplin und schließlich die Akzeptanz des Sportlehrerberufs bedürfen einer differenzierten Analyse und Bewertung. Die Beschreibung durch ein generelles, dreifaches Krisenszenario ist unangemessen und dessen Zurückführung auf den Diskurs zur geistigen Überbürdung lässt sich historisch rekonstruktiv nicht bestätigen. Die Ableitung der heutigen, angeblich deformierten Fachkultur des Sportunterrichts aus einer geistigen Überbürdungskrise Ende des 19.Jahrhunderts, ist sachlich nichtzutreffend. Unzutreffend sind auch Verschwörungstheorien der Art, dass Schulsport und Sportunterricht Rädchen im Getriebe einer affirmativen und neoliberalen Erziehungspolitik der Bundesrepublik seien. Motorische Entwicklungsförderung, die Verbesserung des Bewegungskönnens und der individuellen Fitness sind pädagogisch-humane Grundanliegen und gehören zum Kernbestand des Erziehungs-und Bildungsauftrages von Schule einschließlich des Schulsports.

Die Gesamtsituation des Sportunterrichts in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland ist bei allen erkennbaren Defiziten, neuen Herausforderungen, und akuten Entwicklungsproblemen programmatisch, materiell-technisch und personell gut abgesichert. Das Klagen findet auf einem hohen Niveau statt. Das Unterrichtsfach Sport findet durchaus gesellschaftliche Akzeptanz und ist seitens der SchülerInnen mehrheitlich beliebt. Die Sportlehrkräfte zeichnen sich überwiegend durch einen stabilen, positiven Orientierungskern ihres beruflichen Handelns aus. Sie sind mehrheitlich gut ausgebildet und in ihrer Gesamtheit auch motiviert und engagiert.

Eine paradigmatische Wende und radikale Neuausrichtung der Fachkultur des Sportunterrichts als ein Unterricht über Sport, der auf theoretisches Erkennen und Bewerten finalisiert ist, ist aus mehreren Gründen nicht angezeigt. Dafür fehlen empirische Befunde und überzeugende konzeptionelle Alternativen. Der Anspruch an eine bildende Körper- und Sporterziehung im Kontext eines bewegungsintensiven Faches für Bewegung, Spiel und Sport legitimiert den Sportunterricht im Fächerkanon sowohl innerschulisch als auch außerschulisch, sowohl intrasportiv als auch extrasportiv. Reflexionen, kognitive Durchdringung und kritische Bewertungen zur sportiven Bewegungskultur und zur eigenen körperlichen Aktivität gehören sowohl zu diesem Unterricht selbst, aber auch zu den Aufgaben der Gesamterziehung in und durch andere Unterrichtsfächer in der Schule. Das Verständnis des Sportunterrichts als moderne Körperliche Grundbildung knüpft an bewahrenswerten deutschen Traditionen an und ist international anschlussfähig an die Entwicklung zeitgemäßer, evidenzbasierter „Physical- Literacy“-Konzepte. Individuelle Handlungserfahrungen im Sport, zu denen auch Erfahrungen von körperlicher Anstrengung, von Bewegungskönnen, von Siegen und Niederlagen im Wettbewerb, von Leistungsanforderungen und individuellen Leistungssteigerung gehören, sind für einen pädagogisch werthaltigen Sportunterricht unverzichtbar. Sie tragen wesentlich dazu bei, den Bildungs-und Erziehungsauftrag der Schule zu erfüllen. Medizinische, gesundheitswissenschaftliche und trainingswissenschaftliche Aspekte sind in diesen pädagogischen Auftrag integriert.

Einige Entwicklungen in der gegenwärtigen universitären Sportpädagogik und Sportdidaktik lassen Zweifel aufkommen, ob diese akademische Disziplin noch in der Lage ist, ihrer integrativen Aufgabe bezüglich der systemischen Beratungs-und Betreuungsfunktion für den Schulsport und den Sportunterricht nachzukommen. Merkmale einer Ent-Fachlichung und einer Ent-Methodisierung der Sportpädagogik/Sportdidaktik sind unübersehbar. Damit geht eine spürbare Deprofilierung, eine Praxisferne und mangelnde Berufsbezogenheit der akademischen Sportpädagogik und Sportdidaktik einher. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, sollte die Zusammenarbeit der Sportpädagogik/ Sportdidaktik mit der Sportmedizin, mit der Bewegungs-und Trainingswissenschaft sowie der Sportpsychologie im Rahmen einer multidisziplinären Schulsportforschung und einer berufsbezogenen, universitären Sportlehrerbildung wesentlich verstärkt und nicht diffamiert werden. Die neue körperliche Grundbildung, wie sie international entwickelt wird, bietet dazu Anlass und Herausforderungen.

Literatur auf Anfrage beim Autor: alsu.hummel@gmail.com


Albrecht Hummel (Jahrgang 1949) ist emeritierter Professor für Sportwissenschaft an der TU Chemnitz.