Deutschland lernt (wieder) Schwimmen

Ein Gastbeitrag von Prof. em. Dr. Albrecht Hummel

Einleitung

Die einem antiken Poeten zugeschriebene Formulierung, „er konnte weder lesen noch schwimmen“ war zu jener Zeit die metaphorische Umschreibung für einen in jeglicher Hinsicht ungebildeten Menschen oder einen emanzipierten Bildungsverweigerer. Große Wertschätzung des Schwimmen-Könnens findet sich noch im berühmten mittelalterlichen „Ritterspiegel“ des Johannes Rothe (ca. 1410), wo es darum geht, dass der angehende Ritter schwimmen und tauchen „und sich vom Bauch auf den Rücken wenden und krümmen kann“. In den berühmten „Sieben freien Künsten“, den „septem artes liberalis“ findet das Schwimmen dann schon keine Erwähnung mehr, wie auch in vielen späteren neuhumanistischen Kanonisierungen von Bildung.

GutsMuths, J.C. (1798). Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst zum Selbstunterrichte.

Die generelle Körper- und Leibvergessenheit in der geisteswissenschaftlich geprägten deutschen Bildungstheorie begünstigte eine anhaltende ‚Schwimmvergessenheit‘. Das Praktische und Brauchbare war diesen Theoretikern ohnehin suspekt. Das Utilitäre wurde zeitweilig als das Gefährdende oder das Verunreinigende einer ‚reinen‘ allgemeinen Menschenbildung angesehen, beides sollte wohlweislich nicht miteinander vermischt werden (Humboldt,1809/1964): Eine große Ausnahme war der Philanthrop J.C.F. GutsMuths (1759-1839), mit seinem Ansinnen „brauchbare Bürger“ zu erziehen, die im realen Leben zu rechtkamen. Von ihm stammt auch eines der ersten, systematischen Lehrbücher zum Schwimmen, das „Kleine Lehrbuch der Schwimmkunst im Selbstunterrichte“ aus dem Jahre 1798.

Sein Credo lautete: „Das Schwimmen muss ein Hauptstück der Erziehung werden.“ Mit drastischen Worten stellte er in seiner Zeit fest: „Bisher ist das Ertrinken Mode gewesen, weil das Schwimmen nicht Mode ist.“ Gewiss ist das Ertrinken gegenwärtig keine Modeerscheinung aber die ansteigenden Zahlen der Badeunfälle mit Todesfolge oder bleibenden Schädigungen sind erschreckend und der Schwimmunterricht in den Schulen einiger Regionen gerät in Gefahr, tatsächlich ‚außer Mode‘ zu geraten, wenn nicht massiv dagegen vorgegangen wird. Der Weckruf ist zwischenzeitlich in der Bildungs-und Sportpolitik auf der Bundes- und Landesebene spürbar angekommen.

Die Eindeutigkeit der Aussagen und empirischen Befunde stimmen nachdenklich, besorgniserregend ist die vermutete Dunkelziffer von Nichtschwimmern unter den Schulabsolventen, auch unter denjenigen, die über die sogenannte Hochschulreife verfügen. Der Anteil von ‚funktionalen‘ Nichtschwimmern unter der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland, die irgendwann einmal ihr „Seepferdchen“ gemacht haben, ist gegenwärtig vermutlich ähnlich hoch wie der erschreckend hohe Anteil sogenannter funktionaler Analphabeten (hier geht man von mehr als sechs Millionen aus) und dies trotz gesetzlicher Schulpflicht und formal absolvierter Pflichtschulzeit (vgl. Grotlüschen et al. 2018).

Umso erfreulicher sind die klaren Worte in den Empfehlungen der KMK und des DOSB (2017) zum Schwimmunterricht und nahezu gleichlautend die Forderungen in der aktuellen, fortgeschriebenen Fassung des Memorandums zum Schulsport (2019):

Besonderes Augenmerk verdient die aufgrund schließender Bäder und z.T. fehlender Fachkräfte besorgniserregende Situation des Schwimmunterrichts, vor allem in der Grundschule. Auch der Schwimmunterricht ist fester Bestandteil des Schulsports und muss in der Verantwortung ausgebildeter Sportlehrkräfte bleiben. Ergänzende Programme und Initiativen zum Schwimmenlernen sollten durch Länder und Kommunen unterstützt werden. Es gilt die Forderung, dass jedes Kind am Ende der Grundschulzeit sicher schwimmen können muss.“

Mag auch die Formulierung vom sogenannten Bädersterben in Deutschland etwas dramatisch überhöht klingen, die theoretisch verfügbare Wasserfläche soll ja angeblich gleichgeblieben sein. Plausibel nachvollziehbar ist jedoch die Klage von Schwimmlehrkräften, dass die Zahl geeigneter Schwimmbäder in Schulnähe für das Anfängerschwimmen rückläufig ist und dass daraus resultierend, der Transportaufwand problematisch angewachsen ist. Neu sind die eifernden ökologischen Bedenkenträger, die in der Errichtung neuer Schwimmbäder von vornherein ein „ökologisches Desaster“ hinsichtlich der Energiebilanz und des CO2-Fußabdruckes unterstellen, wie aktuell im Land Brandenburg, und das menschliche Desaster der Nichtschwimmerstatistik und den Energieverbrauch durch erhöhten Transportaufwand ausblenden.

In seiner Einführung zum Themenheft Schwimmen der Zeitschrift Sportunterricht schrieb Günter Stibbe (2017) mit leicht euphorischer Überhöhung „Gewiss zählt das Schwimmen im 21. Jahrhundert-nicht zuletzt wegen seiner lebensrettenden und freizeitsportlichen Bedeutung zu einer grundlegenden, selbstverständlichen Kulturtechnik in unserer Gesellschaft. Für Jungen und Mädchen gehört Schwimmen zu den ausgesprochen beliebten Sportarten. Dieses sind Gründe, warum der Inhaltsbereich Schwimmen mit Bezeichnungen wie „Bewegen im Wasser“, Bewegung im Wasser-Schwimmen“ oder „Schwimmen, Tauchen, Wasserspringen“, in allen länderspezifischen Lehrplänen für den Sportunterricht festgeschrieben ist.“

Aus dem Faktenblatt des Robert Koch Instituts zur KiGGS-Studie (Welle 1) lässt sich entnehmen: Schwimmen ist bei Jungen und Mädchen eine gleichermaßen beliebte Sportart. Mädchen erlernen das Schwimmen zumeist etwas früher. Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Sozialstatus können seltener schwimmen als Gleichaltrige mit hohem Sozialstatus.

Die Selbstverständlichkeit der Akzeptanz einer Kulturtechnik Schwimmen und deren Bedeutung als Bildungsgut wird vermutlich keiner ernsthaft widersprechen. Aber bereits die sprachliche Vielfalt und die mangelnde begriffliche Präzision der verbalen Verankerungen in den Bildungsplänen lässt Irritationen aufkommen und über die tatsächliche praktische Realisierung der verbalisierten Kompetenzerwartungen kann man gegenwärtig nur Vermutungen anstellen.

Auf die beeindruckende Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Definitionen zur Schwimmfähigkeit gehen Stemper und Kels (2016) ein. Bezeichnungen wie „Schwimmfertigkeit“, „Wassersicherheit“, „Basisqualifikation für den Bewegungsraum Wasser“ oder „Schwimmen-Können“ lassen eine generelle Unbestimmtheit und Beliebigkeit erkennen. Stemper und Kerls sind konstruktiv bemüht, daraus plausible Derfinitionskerne herauszukristallisieren.

In einem aktuell gültigen Lehrplan eines Landes findet man beispielsweise die semantisch schwer nachvollziehbare Formulierung: „am Ende des 4. Schuljahrganges (können die SuS) mindestens fünf Minuten sicher in einer beliebigen Schwimmlage vorwärts oder rückwärts in tiefem Wasser schwimmen“. Fünf Minuten rückwärts in einer beliebigen Lage zu schwimmen, scheint mir sehr anspruchsvoll, sehr verspielt und wenig funktional zu sein. Aber die dortigen Sportlehrkräfte werden vermutlich wissen was damit gemeint ist oder sie sind zwischenzeitlich so lehrplanresistent, dass sie es gar nicht merken. So stellt Stibbe bei seiner Einführung wohl zu Recht fest: Es besteht offensichtlich kein Konsens darüber, was unter einer elementaren Schwimmfähigkeit verstanden werden soll.

Die Wissenslücken im System sind groß, die Sprachregelungen sind verwirrend und die mangelhafte Evidenzbasierung der nur partiell begründeten Vermutungen ist bereits ein Teil der größeren Problemlage zum Schwimmunterricht in Deutschland. Die kommunizierte Datenlage zur sogenannten „Schwimmstatistik“ bzw. „Nichtschwimmerstatistik“, basiert zumeist auf Umfragen und Selbstauskünften. Es ist aufschlussreich, dass die belastbarsten Zahlen zur „Bäderstatistik“, also zu den tatsächlich verfügbaren Schwimmbädern, gegenwärtig am genauesten über die Gesundheitsämter in den Ländern generiert werden können.

Einen Überblick zu den vorliegenden vagen empirischen Befunden in den Erhebungen zur Schwimmfähigkeit in der deutschen Bevölkerung bieten ebenfalls Stemper und Kels. Sowohl die Unbestimmtheit der inhaltlichen Anforderungen als auch die Limitierungen in den Erhebungsmethoden (Umfragen; Selbstauskünfte; Interessen und soziale Erwünschtheit) erklären die generelle inkonsistente Befundlage. Ein gewisser Konsens besteht darin, dass zu Beginn der 90er Jahre ca. 90% der Schülerinnen und Schüler nach Beendigung der Grundschule Schwimmen konnten. Gegenwärtig geht man davon aus, dass dies bei großen regionalen Unterschieden, nicht mehr gegeben ist. Die Angaben zur Nicht-Schwimmer Quote schwanken zwischen 30% bis 50%. Stagnationen und signifikante Rückläufigkeit werden dafür plausibel belegt.

Der generelle Mangel an standardisierten, regelmäßigen Evaluationen zur Qualität des Schulsports (Strukturqualität, Prozessqualität, Ergebnisqualität) zeigt sich geradezu exemplarisch im Bereich des Schulschwimmens (Memorandum Schulsport 2019). Die Gründe dafür sind vielfältig und die Lage in den einzelnen Ländern ist auch hier sehr unterschiedlich. Gleichzeitig sind die gesetzlichen Bestimmungen und pädagogischen Anforderungen an den Schwimmunterricht aus gutem Grund in den letzten Jahrzehnten ebenfalls gestiegen. Die Durchführung von sogenannten naturnahen „Schwimmlagern“ an Seen und Flüssen bei niedrigen Wassertemperaturen und bescheidenen hygienischen und sanitären Bedingungen gehören, bei aller romantischen Verklärung, erfreulicherweise der Vergangenheit an.

Akuter Handlungsbedarf ist somit in mehrfacher Hinsicht angezeigt, die gestiegene Zahl der Badeunfälle, einschließlich solcher mit tödlichem Ausgang oder mit bleibenden gesundheitlichen Schädigungen, sind dafür der wichtigste Grund. Handlungsbedarf zeichnet sich aber auch unter einer materiell-technischen Perspektive (Mangel an geeigneten Schwimmbädern für das Anfängerschwimmen), unter programmatischer Perspektive (Fehlen einheitlicher Konzeptionen zum Schwimmunterricht) und hinsichtlich der Verfügbarkeit über ausreichend qualifiziertes Personal ab (Mangel an gut ausgebildeten Schwimmlehrkräften).

Dass sich die KMK, der BFS (mit seinen Mitgliedsorganisationen), die DGUV, und die dvs dieser komplexen Herausforderung angenommen haben, kann man nur begrüßen. In den Empfehlungen von KMK und DOSB (2017) zur Entwicklung des Schulsports in Deutschland und auf der Grundlage von Beschlüssen weiterer Organisationen wird Schwimmen als motorische Basiskompetenz gekennzeichnet und das Sichere Schwimmen Können als grundlegendes Ziel des Schwimmunterrichts in den Schulen herausgestellt. Bereits das Positionspapier des Deutschen Sportlehrerverbandes (DSLV)zum Schwimmen im Schulsport vom 14.11.2015 in Leipzig stützte dieses Vorgehen ebenso, wie das Memorandum zum Schulsport aus dem Jahre 2009.„Jedes Kind muss am Ende der Grundschulzeit sicher schwimmen können“ wird darin gefordert und der Erhalt des Schwimmunterrichts als Bestandteil des Schulsports ausdrücklich betont. Dieses „Sicher-Schwimmen-Können“ wurde in wenigen Jahren zum Markenzeichen und zur Leitidee für einen neuen Aufbruch im Schulschwimmen und zum konsensfähigen Ziel des Schwimmunterrichts für Anfänger. Das Verständnis, was Sicher Schwimmen Können inhaltlich konkret heißt, hat sich dabei profiliert: Es sind mindestens folgende Anforderungen an das zu erreichende Niveau des Sicheren Schwimmen Könnens der Schülerinnen und Schüler zu stellen:

.Sprung ins tiefe Wasser, anschließend 15 Minuten Schwimmen und dabei mindestens 200m in einer beliebigen Schwimmart zurücklegen

oder

.Kopfsprung ins tiefe Wasser, anschließend 100 m Schwimmen in einer Schwimmart mit Zeitbegrenzung (maximal 3:30 min; ab Klassenstufe 9: – 2:30 min/Jungen und 2:45 min/Mädchen) und 100m Schwimmen in einer zweiten Schwimmart ohne Zeitbegrenzung. (DGUV 2019, S.12)

Durch diese Anforderungen und unter Einbeziehung der nachgewiesenen Komplexübung zu den Grundfertigkeiten des Schwimmens (hier Tauchen) ergibt sich eine Entsprechung zu den Anforderungen des neuen Deutschen Schwimmpasses für die Stufe „Bronze“ (Prüfungsbedingungen BFS, gültig ab 01.01.2020). Darin kann ein bedeutender Schritt in der konsensualen Vereinheitlichung des Verständnisses vom Sicheren Schwimmen Können in der Bundesrepublik Deutschland gesehen werden.

„Sicher Schwimmen Können“: Bestandteil von schulischer Grundbildung

Die Akzeptanz der Position, dass das Sichere-Schwimmen-Können zur grundlegenden Bildung (oder Ausbildung) eines Menschen gehört, fällt nicht zwingend mit der Akzeptanz zusammen, dass der Schwimmunterricht zur verpflichtenden schulischen Grundbildung gehört und als ein unverzichtbarer Bestandteil regulären, lehrplanbasierten Sportunterrichts an den öffentlichen Schulen gesehen wird. Dass der Schwimmunterricht dabei in besonderen organisationalen Formen (z.B. in Schulschwimm-Zentren) vollzogen wird und werden kann, ändert nichts an der grundsätzlichen (fachaufsichtlichen, dienstaufsichtlichen, versicherungsrechtlichen) Zuständigkeit von Schule für den Schwimmunterricht. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit bezüglich der Verantwortung und Zuständigkeit von Schule hat in den letzten Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen erhebliche Risse bekommen. Hier gilt es die Grenzen und Entgrenzungen genauer zu bestimmen.

Für ein Flächenland mit einigen Tausend Grundschulen und mehreren Hunderttausend Grundschülern ist das Eingehen dieser schulpolitischen Verpflichtung eine außerordentliche Herausforderung. Hier gilt es angemessene organisationale Lösungen zu finden. Es entstehen erhebliche Differenzen zwischen der programmatischen Verankerung in den Lehrplänen und der Lehrplanrealisierung. Es entstehen aber auch bedenkliche Umgehungs- und Vermeidungsstrategien in einzelnen Schulen und bei den Schulträgern. Es werden insbesondere materiell-technische Probleme (geeignete Schwimmbäder), logistische Schwierigkeiten (Transportfragen) und personelle Begründungen (qualifizierte Lehrkräfte) für die jeweiligen Ausnahmeregelungen herangezogen. Überlegungen und Praktiken zur Auslagerung einer staatlichen Grundbildungs-Aufgabe in den außerschulischen Bereich sind erkennbar. Die enge Zusammenarbeit mit den Eltern ist stets geboten und erwünscht, aber die Schwimmausbildung kann nicht den Eltern übertragen werden.

Schulen, insbesondere die Grundschulen mit ihren vier bzw. sechs Klassenstufen, werden in aller Regel mit der Realisierung von Grundbildungs-Funktionen assoziiert. Grundschulen sollen Grundlagen für weiterführende Bildungsprozesse schaffen und deshalb muss Grundbildung auf dieser Schulstufe steigerungsfähig angelegt sein. In den Schulgesetzen der 16 Bundesländer ist dieser Grundbildungsgedanke mit gewissen sprachlichen Variierungen (Grundlegende Bildung; grundlegende allgemeine Bildung; verfestigte Grundbildung) bei der Beschreibung des Bildungs- und Erziehungsauftrages, insbesondere mit Blick auf die Schulform „Grundschule“ fest verankert. In Österreich spricht man diesbezüglich von „Basaler Bildung“. Das, was jedoch inhaltlich konkret zur jeweiligen schulischen Grundbildung gehören soll und was nicht, erfolgt in epochen- und landesspezifischen Aushandlungsprozessen und findet seinen jeweiligen Niederschlag in normativen programmatischen Setzungen in den diversen Lehrplänen (Bildungsplänen, Rahmenlehrpläne) der Länder. Das Beherrschen der sogenannten basalen Kulturtechniken (z.B. Lesen, Schreiben, Rechnen) einschließlich Motorischer Basiskompetenzen (z.B. Schwimmen) werden gemeinhin einer (steigerungsfähigen) grundlegenden, Körper-und Bewegungsbildung zugerechnet.

Der bildungspolitische Konsens zur inhaltlichen Struktur der Grundbildung bezogen auf die Schulform Grundschule ist in der Bundesrepublik als relativ hoch einzuschätzen. Auf einer anderen Ebene liegen jedoch die Differenzen zwischen der Lehrplanprogrammatik und der schulischen Unterrichtsrealität. Zwischen der Deklaration und der Realisation bestehen zum Teil erhebliche Unterschiede. Die Befunde der aktuellen PISA-Studie (2019) weisen erneut deutlich auf den erheblichen Mangel an verfügbaren Kulturtechniken bei den Kindern und Jugendlichen in den nicht-gymnasialen Schulformen hin.

Das Verständnis von Grundbildung soll vorerst sehr pragmatisch auf die Beantwortung der Frage gerichtet sein, was sollten alle Kinder und Jugendliche in modernen Gesellschaften wissen und können. Das hat mit der Ermöglichung von Teilhabe, Teilnahme und aktiver Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu tun. Damit ist ein definiertes Bildungsminimum für alle angesprochen, dass durchaus positiv gedacht, mit Attributen wie grundlegend, notwendig, funktional, unentbehrlich, instrumentell und qualifikatorisch belegt werden kann. Dieses im Detail schwer zu bestimmende, konsensuale Bildungsminimum für alle, gilt es in modernen Gesellschaften zu garantieren. Eine besondere Verantwortung dafür übernimmt das staatliche Pflichtschulsystem, insbesondere die Grundschule. Letztlich wurde die Organisationsform Schule dafür einmal erfunden. Das ist der gesellschaftliche Auftrag dieser gesellschaftlichen Einrichtung.

Die Fokussierung der schulischen Grundbildung auf das sogenannte überprüfbare Bildungsminimum für alle, hat jedoch so seine Tücken und Fallstricke. Eine definierte verpflichtende Grundbildung kann sehr konkret sein und erhebliche finanzielle, personelle und politische Folgen nach sich ziehen. Was geschieht beispielsweise dann, wenn dieses Minimum nicht erreicht wird. Es gibt dann zum Teil beachtlichen Minderheiten von sogenannten Minderleistern und letztlich grundlegend ungebildeten Menschen, zumindest bezüglich des Verfügens über basale Kulturtechniken. Die aktuellen Befunde der PISA-Studie (2019) geben darüber Auskunft. Kultusbehörden bevorzugen daher eher die Sprache von „Regelstandards“ (statt Minimalstandards), das erlaubt einen flexiblen Umgang mit den Anforderungen und ermöglicht manchmal bessere Ausreden beim Erklären der Ausnahmen von der Regel.

Die Kritik an einer inhaltlich konkreten, verpflichtenden Grundbildung für alle, kommt aber auch aus einer anderen, häufig nicht vermuteten Richtung. Bemerkenswert ist diesbezüglich die öffentlich diskutierte Sorge, durch die klare Bestimmung von Zielen der Grundbildung erfolge eine generelle „Beschämung“ oder eine „Stigmatisierung“ jener Personen, die nicht über diese Grundbildung verfügen und die definierten Ziele nicht erreichen, aus welchen Gründen auch immer. Anstatt nach konstruktiven Lösungen zu suchen findet dann eine groteske Umkehrung der Argumentation statt, um die Entladung des exkludierenden „Beschämungspotenzials“ des Nicht-Könnens von etwas zu vermeiden, wird schlicht und einfach auf dringend erforderliche Grundbildungsangebote generell verzichtet. Damit sich Nicht-Schwimmer nicht schämen müssen wird auf das Schwimmen verzichtet.

Es wird scheinbar menschenfreundlich auf das angeblich exkludierende Potential anspruchsvoller, verpflichtender Grundbildung verwiesen. Diese Diskurse sind zwischenzeitlich auch in der Sportpädagogik angekommen (Giese & Buchner, 2019) und werden mit einer Kritik am angeblichen „neoliberalen Fähigkeitsimperativ“ verbunden. Bewegungskönnen, Fitnessförderung und Entwicklung motorischer Fähigkeiten dienen demnach lediglich der marktkonformen Beschäftigungsfähigkeit, der Ertüchtigung für die kapitalistische Arbeitswelt und der Beschämung von Personen, die nicht über diese Voraussetzungen verfügen. Die nachvollziehbare, „brauchbare“ Ausbildung zum „Sicheren Schwimmer“ in der Grundbildung verweist auf die gesamte Schräglage dieser unsachlichen ideologiebasierten Diskussion.

In einem guten Schwimmunterricht geht es sowohl um die Ertüchtigung als auch um die Ermächtigung, es geht um die Sicherheit und die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen und deren aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Das ist ein zutiefst humanistisches Anliegen. Aus Angst vor der möglichen „Scham“ von Nichtschwimmern kann man doch nicht auf den Schwimmunterricht verzichten der Kinder zu sicheren Schwimmern ausbildet.

Es ist vermutlich schwierig, in unserer pluralen Gesellschaft einen generellen Imperativ des „Sicheren Schwimmen Könnens“ zu postulieren. So wie Magnus Enzensberger (1985) seinerzeit vom „Lob des Analphabeten“ als legitimen Bildungsverweigerer in der „bösen“ Gesellschaft schrieb, könnte man dann geradezu auf das Lob des emanzipierten Nichtschwimmers in der Literatur warten.

Enzensberger im Original: „Nicht, weil ihnen danach zumute war, haben die Völker lesen und schreiben gelernt, sondern weil sie dazu gezwungen wurden. Ihre Emanzipation war Entmündigung“ (1985). Lässt sich dieser Satz auch auf das Schwimmen übertragen? Können wir tatsächlich unsere Kinder „zwingen“ sichere Schwimmer zu werden? Kann es eine freie, souveräne Entscheidung sein, Nichtschwimmer zu bleiben? Wieviel „Freiheit beim Zwange“ in der staatlichen Pflichtschule kann es geben? Dieses pädagogische Paradoxon beschäftigt bereits seit I. Kant (1724-1804) Generationen von Pädagogen. Die klassische Frage lautete: Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?

Die daraus abgeleitete generelle Erziehungsregel lautet: Die Einschränkung der Freiheit durch Zwang (durch Schulpflicht) ist in dem Maße gerechtfertigt, wie es sich im Interesse zukünftiger Freiheit als erforderlich erweist. Es geht um Fürsorge und Vorsorge. Sicher Schwimmen Können ist nachweisbar im Interesse zukünftiger Freiheit. Schwimmen Können macht durchaus frei, ist ein individueller Freiheitsgewinn. Die alte Bezeichnung vom „Freischwimmer“ hatte seinen tieferen Sinn. Insofern ist ein Imperativ für schulische Grundbildungsangebote zur Ausbildung unserer Kinder und Jugendliche zum „Sicheren Schwimmer“ ethisch durchaus geboten, sie ist politisch durchsetzbar und pädagogisch verantwortbar. Argumente der Fürsorge, des Gesundheitsschutzes und der Partizipation am gesellschaftlichen Leben sprechen eindeutig dafür.

Mit dem Begriff „Sicher Schwimmen Können“ verbindet sich ein Qualitätsanspruch an einen strukturierten (Aus-)Bildungsprozess, eine Leitidee und ein empirisch überprüfbares Leitziel modernen Schwimmunterrichts. Es handelt sich nicht um eine inhaltsleere metaphorische Phrase. „Sicher Schwimmen Können“ ist ein gedanklich antizipiertes, bewusst angestrebtes Resultat und ein beobachtbares, überprüfbares Resultat eines schulischen Lehr-Lern-Prozesses. Es handelt sich um eine inhaltlich konkrete Kompetenzerwartung, sie zeichnet sich durch eine Integration von motorischem Können und kognitivem Verstehen aus.

Exkurs: Grundbildung- Allgemeinbildung-Spezialbildung

Ein Großteil der in den letzten Jahrzehnten geführten bildungstheoretischen Debatten in Deutschland hat das Bestimmen, Koordinieren und Ausbalancieren dieser Kategorien zum Gegenstand (Benner 2006; Tenorth 2004). Das betrifft insbesondere das Verhältnis von schulischer Grundbildung zur Allgemeinbildung sowie zu Steigerungsformen der Grundbildung im Sinne beruflicher und nichtberuflicher Spezieller Bildung.

Strukturschema zum Verhältnis Grundbildung, Spezialbildung und Allgemeinbildung in der bildungsbiografischen Lebensspanne

Das von Tenorth (2004) und Benner (2006) hinterlegte Verständnis der Bereiche Grundbildung, Spezialbildung und Allgemeinbildung schützt die Schule sowohl vor Überforderungen aber sie schützt auch vor pädagogisch anspruchslosen Funktionalisierungen. Wesentlich daran ist:

  • Bildung wird nicht mit Schulbildung gleichgesetzt,
  • Schulbildung der Pflichtschule ist auf moderne Grundbildung konzentriert,
  • Grundbildung ist steigerungsfähig (beruflich und nichtberuflich),
  • Grundbildung und Spezialbildung stehen in Wechselbeziehung zur Allgemeinbildung,
  • Allgemeinbildung (allgemeine Menschenbildung) findet in der gesamten Lebensspanne statt,
  • Allgemeinbildung ist keine abgeschlossene „Phase“ oder „Stufe“ im individuellen Bildungsgang.

Qualifikatorische Grundbildung ist somit kein Ersatz für Allgemeinbildung und nicht mit dieser identisch. Sie bedingen einander in zweifacher Hinsicht: Erstens, die Grundbildung schafft Voraussetzungen für Allgemeinbildung. Insofern steht die Grundbildung am zeitlichen Anfang des Schulganges und des individuellen Bildungsganges. Selbst in Deutschland kann jemand, der nichts Brauchbares weiß und nichts Nützliches kann kaum als gebildet gelten. Zweitens, die funktionale Grundbildung ermöglicht durch ein Lernen (Üben, Trainieren) im „reflexiven Modus“ Allgemeinbildungsimpulse, bis hin zur personalen Selbstveränderung durch Selbstwirksamkeits-erfahrungen. Die Allgemeinbildung ist jedoch keine institutionsgebundene, zeitlich begrenzte Phase, sie erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne, innerhalb und außerhalb formaler Organisationen. Sie fließt sowohl in die Grundbildung wie auch in die berufliche und nichtberufliche Spezialbildung ein. Die bedeutsame Orientierung von Blankertz (1982), die „Wahrheit der Allgemeinbildung ist somit die spezielle oder berufliche Bildung“ trifft hier zu.

Insofern ist „guter“ Schwimmunterricht sowohl ein nützlich qualifizierender als auch ein bildender Schwimmunterricht, oder im neueren Bildungsjargon: Es geht sowohl um die Förderung von Ertüchtigung, als auch um und die Förderung von Ermächtigung der lernenden Person. Um eine klärende Vermittlung des Verhältnisses von Grundbildung und allgemeiner Menschenbildung (Allgemeinbildung) ist Benner (2006) durch die Hervorhebung von drei Thesen konstruktiv bemüht:

  1. Zwischen schulischer Grundbildung und allgemeiner Menschenbildung ist so zu unterscheiden, dass erstere auf Grundlegendes, Notwendiges und Unentbehrliches konzentriert, letztere hingegen auch auf Bildungsprozesse außerhalb und jenseits der Schule ausgelegt wird.
  2. Es gibt durchaus die Gefahr einer Beschädigung allgemeiner Menschenbildung durch Schulbildung.
  3. Die dritte These besagt, dass umgekehrt auch grundlegende Schulbildung durch Konzepte allgemeiner Menschenbildung beschädigt werden kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn letztere so auf schulische Lehr-Lern-Prozesse appliziert werden, dass es zu einer Überdehnung der Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen schulischer Bildung kommt.

Es kommt auf die Qualität der grundlegenden Körper-und Bewegungsbildung in diesem Spannungsfeld an. Die Assoziation von grundlegender Körper- und Bewegungsbildung in der Pflichtschulzeit mit pädagogischer Anspruchslosigkeit, mit angeblich reduzierten Ansprüchen, ist generell unangemessen und wird den außerordentlich anspruchsvollen Herausforderung der Realisierung einer gelingenden Grundbildung für alle Kinder und Jugendlichen in diesem Bereich nicht gerecht. Das Lehren und Lernen von Sicher Schwimmen Können im schulischen Schwimmunterricht ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Es handelt sich um eine außerordentlich anspruchsvolle pädagogische, didaktisch-methodische und auch unterrichtsorganisatorische Herausforderung, dieses Ziel im Schwimmunterricht zu realisieren.

Die sprachlich verkürzte Kennzeichnung des Grundbildungsbeitrages im Fach Sport mit dem Adjektiv körperlich wird von einigen (deutschen) Sportpädagogen kritisch gesehen. Sie befürchten eine Engführung auf das „rein“ Körperliche oder eine Wiederbelebung einseitiger funktionaler Ausrichtungen oder pädagogisch überholter Positionen der früheren, politisch instrumentalisierten, Leibes-oder Körpererziehung. Die Verwendung der Bezeichnung „Körperliche Grundbildung“ lässt sich dennoch aus verschiedenen Gründen rechtfertigen und es wird damit auf das Wesentliche verwiesen:

  1. Die akzentuierte Beanspruchung von Körperlichkeit, Eigenmotorik und Bewegungsintensität sind Wesensmerkmale eines modernen Sportunterrichts, der als Bewegungsfach verstanden wird und in dem körperliche Aktivität als dominantes Mittel und Medium von Körper- und Bewegungsbildung verstanden wird.
  2. Die Bezeichnung „Körperliche Grundbildung“ verdeutlicht und ermöglicht die internationale Anschlussfähigkeit, z.B. an das Verständnis von M. Whitehead (2013) und die IPLA-Definition zum Begriff Physical Literacy. In der deutschen Bildungswissenschaft wird „Literacy“ seit längerem als Synonym für Grundbildung bezeichnet und verstanden (Benner; Tenorth).
  3. Die Anschlussfähigkeit an bewahrenswerte deutsche Traditionen zur Leibes-bzw. Körpererziehung ist dadurch gegeben. Hier ist insbesondere auf die Elementargymnastik bei Pestalozzi (1746-1827), auf die Systematik grundlegender Bewegungsformen bei Guts Muths (1759-1839) und die frühen bildungstheoretischen Überlegungen von Villaume (1746-1825) zur Körperbildung zu verweisen.
  4. Das moderne Verständnis des Körperlichen unter einer komplexen biopsychosozialen Perspektive wird in der neuen körperlichen Grundbildung hinterlegt. Das „rein“ Körperliche gibt es nicht, ebenso wenig das „rein“ Geistige. Diese Trennung ist ein Resultat überholten, dualistischen, cartesischen Denkens, das zu kategorialen Trennungen führt. Erkenntnisse der Neurobiologie und Kognitionswissenschaften belegen diese Einsicht (Metzinger, 2014; Ragert & Carius, 2017; Spork, 2017; Bloch & Zimmer, 2012).

Neue körperliche Grundbildung und Sicher Schwimmen Können

Bezogen auf die drei Thesen Benners (2006) wird der Anspruch erhoben, dass die Ausbildung des Sicheren Schwimmen Könnens im Sinne seiner ersten These, als „grundlegend, notwendig und unentbehrlich“ betrachtet wird und somit nachdrücklich in die schulische Grundbildung eizuordnen ist. Der außerordentliche lebenspraktische und lebenserhaltende Wert des Schwimmens ist offenkundig und unbestritten. Sicheres Schwimmen Können ist notwendig um die Not (vor dem Ertrinken) zu wenden. Inhaltlich und methodisch-organisatorisch schlecht durchdachter Schwimmunterricht kann aber auch die allgemeine Menschenbildung gefährden, so wie jeder methodisch schlecht gemachte Unterricht dies kann, einschließlich des Völkerballspielens im Sportunterricht.

Bloßstellung, Beschämung und Verängstigung sind hier als Indikatoren für schlechten Schwimmunterricht zu nennen. Guter Schwimmunterricht kann aber nicht nur die speziellen „Sachen“ (das Fachliche) des Schwimmens qualifikatorisch klären, er kann auch die Kinder durch Könnenserlebnisse und Selbstwirksamkeitserfahrungen ausgesprochen stärken. Vermutlich können sich ein Großteil der Erwachsenen noch an ihre ersten schwimmerischen Könnenserfahrungen erinnern und insbesondere daran, was diese Erlebnisse hinsichtlich von Stolz und Selbstwertgefühl ausgelöst haben. Der Schwimmunterricht hat ein großes Potential, einen Beitrag zur allgemeinen Menschenbildung (zur Allgemeinbildung) zu leisten. Die Fokussierung auf das Können und Verstehen des Sicheren Schwimmens nimmt dabei eine wichtige Position ein.

Wesentliche Innovationsimpulse erhielt die traditionsreiche Leitidee der deutschen Körper-und Bewegungsbildung durch die neueren „Physical-Literacy-Konzepte“ (Whitehead, 2010; 2013; Faigenbaum & Myer, 2012; IPLA, 2017) und deren Verknüpfung mit modernen Vorstellungen zur „Health Literacy“. Die Definition der International Physical Literacy Association (IPLA) lautet: „Physical Literacy can be described as motivation, confidence, physical competence, knowledge and understanding to value take responsibility for engagement in physical activities for life”. (IPLA, 2017)

In diesem Verständnis gehören-Haltung, Motivation, Verstehen und ein individuelles Engagement für körperliche Aktivität über die gesamte Lebensspanne hinweg eindeutig dazu. Die Erziehung und Befähigung zu regelmäßiger körperlicher Aktivität sind in dieses Konzept integriert. Guter Schwimmunterricht in den Schulen kann dazu einen Beitrag leisten und ist dafür ein Beleg.

Das „Neue“ in der neuen körperlichen Grundbildung im Vergleich zu früheren Positionen zeigt sich schlagwortartig verkürzt in folgenden Positionen:

  1. In der pädagogischen Positionalität der Akteure und deren kommunikatives Verhältnis zu einander im Rahmen einer „Ermöglichungsdidaktik“. Körper-und Bewegungsbildung lässt sich nicht erzeugen, sie lässt sich jedoch ermöglichen.
  2. In der Evidenzbasierung der pädagogischen Handlungsempfehlungen zur Bewegungsförderung im Kindes- und Jugendalter in den Schulen.
  3. Im überzeugenden empirischen Nachweis möglicher Interventionseffekte durch Körper- und Bewegungsbildung im Schulsport und Sportunterricht. Gelingender Schwimmunterricht ist nachweisbar möglich.
  4. In der engen, gestuften und synchronisierten Verbindung von Können und Verstehen. Der Weg verläuft vom einfachen Üben und Können zum immer besseren Verstehen des eigenen Könnens.
  5. In der Qualitätsstufung des Lernens im Sportunterricht und der Ermöglichung des Transfers, des Umschlagens von Lernen in Bildung durch körperlich-motorische Grundbildung. Das Lernen, Üben und Trainieren erfolgen zunehmend in einem „reflexiven Modus“.
  6. In der Konzentration und Orientierung auf basale Kompetenzen. Motorische Basiskompetenzen sind Grundlage und Kern der allgemeinen, reflexiven Handlungsfähigkeit im Sport.
  7. In der Grundlegung durch anthropologische Annahme von der bio-psycho-sozialen Einheit des Menschen und die konsequente Überwindung der cartesianischen Trennung von Körperlichem und Geistigem. Körper-und Bewegungsbildung sind in mehrfacher Hinsicht an eine bio-psycho-soziale Fundierung und Erklärung gebunden.

(In Verbindung mit diesen aufgeführten Punkten lassen sich wissenschaftliche Diskurse belegen, die jeweils einen gesonderten Beitrag erfordern. Der Verweis auf ausgewählte Quellen ist lediglich als Einstieg in diese Thematik zu verstehen.)

Die Perspektive auf eine neue körperliche Grundbildung setzt auf die Bewahrung des Bewahrungswerten in der gewordenen Fachkultur des Schulsports und erlaubt zugleich den diskursiven Anschluss an die internationale Entwicklung. Die Bewahrung als exklusives Bewegungsfach an den Schulen, die Ausrichtung auf ein überschaubares Spektrum an Bewegungsfeldern, die mehrdimensionale Entwicklung der individuell bestmöglichen motorischen Leistungsfähigkeit, die pädagogische Wertschätzung von regelgebundenem Wetteifer und angestrebter Selbstverbesserung, von Selbstwirksamkeitserfahrungen und Könnenserlebnissen sowie die Förderung basaler motorischer Kompetenzen gehören zum Kernbestand einer bewährten und deshalb bewahrenswerten körperlichen Grundbildung und Erziehung im Schulsport. Die individuell bestmögliche Förderung motorischer Fähigkeiten (konditionelle, koordinative) stellt eine sportpädagogische Verpflichtung und Herausforderung dar, der nur hochqualifizierte, akademisch gebildete Fachkräfte gewachsen sind. Die praktische Realisierung dieser unterrichtlichen Anliegen erfordern ein hohes Maß an durchdachtem, praktisch-methodischem Können seitens der Sportlehrer und Sportlehrerinnen.

Das, was zum inhaltlichen Bestand (zur sachlichen Substanz) einer neuen körperlichen Grundbildung zählt oder nicht, ist nicht auf Dauer eineindeutig normativ festgelegt. Hierzu finden konsensuale Aushandelungsprozesse statt, deren Resultate sich in Rahmenlehrplänen, schulinternen Curricula und diversen Handlungsempfehlungen niederschlagen. Für den Sportunterricht in Deutschland hat sich-bei allen Länderspezifika in den Bezeichnungen- ein relativ stabiler Konsens zu definierten (sieben) Bewegungsfeldern (Lernbereichen, Stoffgebieten) durchgesetzt (vgl. Rahmenlehrpläne Sport; Handlungsempfehlungen von KMK & DOSB; Memoranden zum Schulsport, 2009; 2019). Der reflektierte Bezug zu historisch gewachsenen Sportarten, zur gesellschaftlich gelebten sportiven Bewegungskultur, ist darin (noch) erkennbar. Das Bewegen im Wasser und der Bezug zum Schwimmen und den historisch gewachsenen Schwimmarten gehören bislang eindeutig dazu. Dafür finden sich Belege in den Sportlehrplänen aller 16 Bundesländern Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der Aufnahme dieses Bewegungsfeldes in den Kanon der schulsportlichen Bewegungsfelder ist außerordentlich groß und steht dabei weniger zur Debatte als manch anderes Bewegungsfeld.

Können und Verstehen im Schwimmunterricht

Gelingender und nachhaltig wirksamer Schwimmunterricht ist ein bildender Schwimmunterricht, der sich insbesondere durch die Verknüpfung von Können und Verstehen auszeichnet. Ein Lernen (Üben, Trainieren) im sogenannten „reflexiven Modus“ ist dafür unabdingbar. Wir machen das an drei inhaltlichen Punkten des Verstehens fest: Die Schülerinnen und Schüler verstehen (1.) warum sie Schwimmen lernen, sie verstehen (2.) was sie im Schwimmunterricht lernen und sie verstehen (3.) wie sie schwimmen lernen.

Das Verstehen kommt dabei in Graden, im Sinne von graduell gestuft, und dieses Verstehen kommt in aller Regel im zeitlichen Nachgang zum Können. Ein abgehobener theoretischer Wissensvorlauf bewirkt nur wenig. Nur durch schlaues Reden hat noch kein Kind Schwimmen gelernt. Die Qualität der Könnensentwicklung ist jedoch eng mit zunehmendem Verstehen, mit steigender kognitiver Durchdringung des eigenen Könnens verbunden. Dies geht über formalen Wissenserwerb hinaus.

Vor diesem Hintergrund zeichnen sich in der inhaltlich-methodischen Konzipierung des Schwimmunterrichts in den Vermittlungskonzepten bereits seit einigen Jahren einige interessante Entwicklungen ab (z.B.Hildebrandt-Stramann, 2017). Das betriff insbesondere die individualisierte Stufung von Lernprozessen, die kognitive Begleitung und Durchdringung der Könnensentwicklung, die hohe Wertschätzung des Wasserbewegungsgefühls und die probierende Überschreitung des bereits Gekonnten. Der nur scheinbar riskante, jedoch methodisch durchdachte und abgesicherte frühe Aufenthalt von Nichtschwimmern im Tiefwasser gehört ebenfalls zu diesem Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung. Dabei geht es nicht um eine schematische Mehrperspektivität, sondern um die Nutzung verschiedener emotionaler und motivationaler Zugänge im Rahmen der Fokussierung auf das Sichere Schwimmen Können.

In der inhaltlichen und methodischen Synchronisierung der Stufung von Könnensentwicklung und Verstehensentwicklung bei den Kindern und Jugendlichen zeigt sich pädagogisches Gespür und das berufliche Können der Schwimmlehrkräfte. Das von einer Arbeitsgruppe in den letzten zwei Jahren erarbeitete Vermittlungskonzept modernen Schwimmunterrichts ermöglicht die Synthese von Können und Verstehen im Schwimmunterricht.

Folgende innovativen Merkmale zeichnen diese Konzeption der Arbeitsgruppe (KMK, DGUV, BFS, dvs) aus:

  1. Gelingender Schwimmunterricht ist im besten Sinne des Wortes ein kompetenzorientierter Sportunterricht. Er ist auf praktisch nachweisbare Handlungskompetenz in einem konkreten Anwendungsfeld mit definierten Anforderungen bezogen. Die erworbene Kompetenz zeigt sich im realisierten Können. Das Sichere Schwimmen Können ist die beobachtbare (äußere, performative) Seite dieser komplexen Handlungskompetenz. Können und Verstehen sind miteinander verbunden. Das definierte Ziel erlaubt die Beobachtung, Kontrolle und Steuerung der individuellen Zielrealisierung sowohl als Prozess und als Resultat.
  2. Gelingender Schwimmunterricht zeichnet sich als Ausbildungsprozess durch eine typische Verlaufsstruktur aus. Ein Verlauf, der mittels von (vier) Niveaustufen der Könnensentwicklung beschrieben wird (Wassergewöhnung; Grundfertigkeiten; Basisstufe; Sicheres Schwimmen Können). Die inhaltlich-methodische und überprüfbare Konkretisierung dieser Niveaustufung der Schwimmausbildung ist vermutlich das offenkundigste Merkmal dieser neuen Ausbildungskonzeption.
  3. Gelingender Schwimmunterricht zeichnet sich durch eine hohe, inhaltlich-methodische Wertschätzung der Ausbildungsphasen „Wassergewöhnung“ und „Grundfertigkeiten“ aus. In diese Phasen sind erhöhte Aufmerksamkeit, besonderes individuelles Eingehen und entsprechende Zeit zu investieren. Dieser zeitliche Einsatz zahlt sich am Ende quasi doppelt und dreifach aus. Hier gilt es sprichwörtlich Zeit zu verlieren um später Zeit zu gewinnen. Die inhaltliche Bestimmung der sieben Grundfertigkeiten des Schwimmens ist ein konzeptioneller Fortschritt mit nachhaltiger praktischer Bedeutung.
  4. Die Entwicklung, Nutzung und das erfolgreiche Absolvieren der auf den Grundfertigkeiten aufgebauten „Komplexübung“ als standardisierte Verbindung und festgelegte Abfolge der sieben Grundfertigkeiten des Schwimmens (Atmen, Tauchen, Springen, Drehen, Rollen, Gleiten, Fortbewegen), kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auf dem Weg zum Sicheren Schwimmen Können ist durch den Nachweis des praktische Vollziehen-Könnens dieser Komplexübung ein wesentlicher Abschnitt der gesamten Wegstrecke im Ausbildungsgang zurückgelegt. Diese Komplexübung kann zu einem alltagstauglichen Kontrollverfahren für Bewertungen und möglicherweise zu einem wissenschaftlichen Testinstrument entwickelt werden.
  5. Gelingender Schwimmunterricht zeichnet sich durch Wertschätzung und genaues Verfolgen der individuellen Entwicklung im Ausbildungsgeschehen aus. Die Lernprogression im Anfängerschwimmen erfolgt differenziert und nicht linear. Die Überprüfbarkeit der Anforderungen in den einzelnen Niveaustufen erlaubt differenzierte Rückmeldungen an die Lernenden, vielfältige Bewertungen und Differenzierungsmaßnahmen und wenn erforderlich auch objektive Benotungen (Komplexübung; Sicher Schwimmen Können).
  6. Gelingender Schwimmunterricht ist unvereinbar mit einer dogmatisierten Methodik. Methoden sind stets angemessen oder unangemessen, geeignet oder ungeeignet sie sind nicht wahr oder falsch. Dies sollte beispielsweise bei den leidenschaftlichen Diskursen zur Wahl der Erstschwimmart bedacht werden. Im Rahmen der vorliegenden Konzeption mit seiner hohen methodischen Wertschätzung der Phasen „Wassergewöhnung“ und „Grundfertigkeiten“ zeichneten sich jedoch gute pragmatische Gründe und Erfahrungswerte für eine „weiche“ Empfehlung der Erstschwimmart „Brustschwimmen“ ab. Andere Vorgehensweisen sind diesbezüglich legitim.
  7. Gelingender Schwimmunterricht gemäß dieser neuen Konzeption ist an ein hohes berufliches Kompetenzniveau der Schwimmlehrkräfte gebunden. Das schließt ein explizites bewegungsfeldspezifisches, ausgeprägtes methodisch-organisatorisches Können und eine nachgewiesene Rettungsfähigkeit ausdrücklich ein. Ein Fortbildungsbedarf der Schwimmlehrkräfte in den Bundesländern ist angezeigt und dringend erforderlich.

Durch die konzertierte Aktion der beteiligten Organisationen und Strukturen, durch die diskursive und konstruktive Zusammenarbeit aller Akteure konnte eine neue und zeitgemäße Ausbildungskonzeption für das Anfängerschwimmen erarbeitet werden. Die Chance ist durchaus gegeben, dass Deutschland (wieder) ein Land der Sicheren-Schwimmer wird.

Literatur beim Autor (E-Mail: alsu.hummel@gmail.com)

Vergleiche Vortrag zur Konferenz „Schulschwimmen“ am 04.Dezember 2019 in Dresden http://www.dguv.de/fb-bildungseinrichtungen/schulen/bewegung/schulsport/schwimmen/index.jsp


Albrecht Hummel (Jahrgang 1949) ist emeritierter Professor für Sportwissenschaft an der TU Chemnitz.