Wie über die Vergabe internationaler Sportevents entschieden wird

Demokratische Vergaben und reale Machtverhältnisse

Die Entscheidungen über die Vergabe von internationalen Sportereignissen basieren auf demokratisch vereinbarten Regeln. Ganz gleich, ob Olympische Spiele zu vergeben sind, eine Weltmeisterschaft im Fußball zur Entscheidung ansteht oder über eine zukünftige Leichtathletik-Weltmeisterschaft zu befinden ist, die Entscheidung über die Ausrichtung dieser Ereignisse findet gemäß der jeweiligen Konstitution der internationalen Sportorganisationen über eine geheime Abstimmung statt. Es ist dabei geregelt, ob für den Sieg einer Bewerberstadt die einfache Mehrheit ausreicht, ob eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, was bei Stimmengleichheit zu entscheiden hat, ob es das Machtwort des Präsidenten ist oder ob das Los entscheiden soll. In allen internationalen Sportorganisationen ist man auch bemüht, demokratischen Prinzipien zu folgen, wenn es um die Ausschreibung von internationalen Sportereignissen geht. Genaue Bewerbungsfristen sind definiert, Kriterienkataloge zur Bewertung von Bewerbungen werden allen Bewerbern zugänglich gemacht. Evaluierungskommissionen werden eingesetzt und das Verfahren der Präsentation der Bewerberstädte ist am Gleichheitsprinzip orientiert. Wie der sportliche Wettkampf so soll auch der Bewerber-Wettkampf ein fairer Wettbewerb sein. Fair Play ist nicht nur das Prinzip, das die Sportler zu beachten haben. Es soll auch für die Entscheidung der Funktionäre, für die Bewerberstädte und für die Bewerberorganisationen gelten.

Doch so wie sich im Spitzensport die Praxis von der Theorie ganz wesentlich unterscheidet, so gilt dies auch für den „Bewerbungssport“. So wie im sportlichen Wettkampf auf der Vorderbühne ein anderes Handeln zu erkennen ist als auf der Hinterbühne, so sind auch für den Bewerbungssport Vorder- und Hinterbühne zu unterscheiden. So wie es im Hochleistungssport den Dopingbetrug gibt, so gibt es auch den Betrug im Bewerbungswettkampf. Auch Korruption und Manipulation ist in beiden Sorten von Wettkämpfen anzutreffen.

Was für den Bewerbungswettkampf jedoch kennzeichnend ist, das ist das besondere Phänomen der Macht. Mächtige, die über Macht in den Sportorganisationen verfügen, entscheiden über die Vergabe sportlicher Großereignisse. Jene, die ohne Macht sind, haben das Nachsehen. Macht und Ohnmacht können in der Welt des Hochleistungssports auf vielfältige Weise entstehen und sie können sich auch auf überraschende Weise verändern. Manche verfügen über Macht durch Geburt. Macht kann man sich aneignen. Macht kann einem zugesprochen werden. Macht kann geraubt und erobert werden. Macht kann auch durch demokratische Wahlen erworben werden. Sie kann legitim und illegitim sein. Macht kann einer einzelnen Person zukommen. Aber auch die internationalen Sportorganisationen können als Organisationen in ihrer Gesamtheit Macht besitzen und ausüben. Besonders interessant ist dabei, wie innerhalb dieser Organisationen einzelne Personen und Gruppen über Macht verfügen und andere von der Macht ausgeschlossen sind. Weiß man über diese Zusammenhänge Bescheid, kennt man die Machtverhältnisse in den Sportorganisationen, so sind auch die Kräfteverhältnisse klar, die bei der Vergabe von internationalen Sportereignissen zu beachten sind.

Für die meisten internationalen Fachverbände resultieren die derzeit existierenden Kraftverhältnisse aus dem auf den ersten Blick als äußerst demokratisch zu bezeichnenden Prinzip des „One-Vote/One-Country“-System. Internationale Fachverbände sind Mitgliedsorganisationen und sie sind bemüht, sämtliche Nationalstaaten der Welt in ihre Mitgliederstruktur zu integrieren. Das Bemühen geht bereits so weit, dass man mehr Mitglieder aufweisen möchte, als es überhaupt Nationalstaaten gibt. Die IAAF hat heute 214, die FIFA 211 und die Vereinten Nationen haben 193 Mitglieder. „One-Vote/One-Country“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Machtverhältnisse und die Kräfteverhältnisse in den internationalen Sportverbänden von der Stimmabgabe dieser mehr als 200 Mitglieder abhängen. Jedes Mitglied hat dabei eine Stimme und verfügt über genau denselben Einfluss wie jedes andere Mitglied. Die Frage des Einflusses ist somit unabhängig von der Größe eines Landes oder der jeweiligen Sportorganisation. Sie ist auch unabhängig von der Anzahl der aktiven Athleten in einer Sportart in dem jeweiligen Land. Sie ist auch völlig unabhängig von historischen Gegebenheiten, Traditionen und aktuellen ökonomischen Gegebenheiten.

Mittels dieser angeblichen demokratischen Verteilungsstruktur der Macht entscheidet sich die Frage, wer in den Gremien der internationalen Fachverbände Sitz und Stimme hat. Mittels dieses Modus wird somit auch über die Frage entschieden, wie sich die jeweiligen Entscheidungsgremien der internationalen Sportfachverbände zusammensetzen, die über die Vergabe von sportlichen Großereignissen entscheiden. Dieser Sachverhalt gilt für alle internationalen Sportverbände gleichermaßen.

Das IOC stellt dabei allerdings einen Sonderfall dar. Doch auch was die Mitglieder des IOC betrifft, kann davon ausgegangen werden, dass indirekt das „One-Vote/One-Country“-Prinzip einen Einfluss hat. Das „One-Vote/One-Country“-Prinzip hat zumindest bewirkt, dass sich auf diese Weise die Gremien des internationalen Sports immer mehr für die außereuropäischen Kontinente öffnen konnten. Seit Einführung der „One-Vote/One-Country“-Regel ist die Zahl der Entscheidungsträger aus Afrika, Asien und Südamerika in allen wichtigen Gremien des Weltsports sehr schnell gewachsen. In gewissem Sinne kann man von einer Ent-Europäisierung der Entscheidungsgremien des internationalen Sports sprechen. Dieser Sachverhalt ist für die Vergabe von internationalen Sportereignissen von grundlegender Bedeutung.

Beobachtungen bei Vergabeentscheidungen

In meiner Eigenschaft als IAAF-Funktionär war ich in den vergangenen Jahrzehnten an vielen Entscheidungen zur Vergabe von internationalen Leichtathletikveranstaltungen in direkter oder indirekter Weise beteiligt. Mit meinen Möglichkeiten zu einer distanzierten theoriegeleiteten Reflexion über den zu deutenden Sachverhalt auf der einen Seite und mit meinen Möglichkeiten zur teilnehmenden Beobachtung auf der anderen Seite konnte ich feststellen, dass bei allen Entscheidungen über die Vergabe von leichathletischen Großereignissen die Position des amtierenden Präsidenten von grundlegender Bedeutung war. Zu erkennen war dabei auch, dass diese Entscheidungen zu Gunsten des jeweiligen Siegers von den Präsidenten und dem jeweiligen Mitarbeiterstab sorgfältig vorbereitet wurden, wobei sich die Art der Sorgfalt von Präsident zu Präsident erheblich unterscheiden kann. Dabei können allerdings auch die Konstellationen vor den jeweiligen Entscheidungen höchst unterschiedlich sein.

So wurde eine Weltmeisterschaft vergeben, ohne dass es eine eindeutige Prä-Justiz durch den amtierenden Präsidenten gab. Die Entscheidung zu Gunsten des späteren Ausrichters der Weltmeisterschaft war dabei in vieler Hinsicht kriterienlos. Sie unterlag den Emotionen der beteiligten Councilmitglieder und sie hatte in hohem Maße einen irrationalen Charakter.

Bei einer späteren Entscheidung, bei der vier bedeutsame Städte miteinander konkurrierten, war es hingegen so, dass jedes einzelne Councilmitglied vor der Entscheidung kontaktiert wurde, um dessen Stimme zu Gunsten des gewünschten Ausrichters zu gewinnen. Dabei kann es dann durchaus zu überraschenden Abstimmungsverhältnissen kommen. In solchen Fällen scheint für die Stimmabgabe entscheidend zu sein, welche sogenannten „Incentives“ von den Bewerbern zusätzlich angeboten werden. Der Begriff „Incentives“ erweist sich in der Welt des Sports als äußerst schillernd und weist vielfältige Erscheinungsformen auf. Vom Kugelschreiber über den Plüschteddybären, das T-Shirt, die Flasche Wodka, den schönen Bildband, bis hin zur Vermittlung eines Sponsorenvertrages in Millionenhöhe kann die Palette der „Incentives“ reichen. In der Leichtathletik werden dabei meist solche „Incentives“ offeriert, von denen die abstimmenden Councilmitglieder auf direkte oder indirekte Weise auch persönlich profitieren. Es werden aber auch „Incentives“ angeboten, die einen direkten Bezug zu den Weltmeisterschaften aufweisen und ein Beitrag zu Gunsten einer positiven Entwicklung der Sportart leisten sollen. So werden u.a. kostenlose Trainingscamps für teilnehmende unterentwickelte Nationen offeriert. Es werden auch zusätzliche Übernachtungen für die Betreuer finanziert oder es werden über die Ausschreibungspflichten hinaus weitere Ausrichtungskosten übernommen, die normalerweise die IAAF selbst zu tragen hätte. Als besonders „politisch korrekt“ gilt es dabei, wenn sich Bewerberstädte für entwicklungspolitische Hilfsmaßnahmen engagieren. Beiträge zu Gunsten der angeblich Armen sind immer willkommen und erwünscht. Bewerber, die dabei besonders Afrika im Blick haben, machen gewiss keinen Fehler.

Für die Vergabe von sportlichen Großereignissen spielt aber auch die Qualität einer Bewerberstadt, deren kulturelle Attraktivität und nicht zuletzt auch die Unterbringung in einem anspruchsvollen Fünf-Sterne-Hotel eine nicht unwesentliche Rolle. Kann die Bewerberstadt als touristisch attraktiv eingeschätzt werden und entspricht das Hotel, das offeriert wird, den höchsten Ansprüchen, so können diese Faktoren in offenen Entscheidungssituationen bei der Stimmabgabe Einfluss haben. Für manchen Funktionär spielt es eine wichtige Rolle, dass die nächste Weltmeisterschaft in einer Stadt stattfindet, in der er noch nicht gewesen ist, die sich aber als attraktiv erweisen wird. Seine mitreisende Gattin oder der mitreisende Partner wird dies zu würdigen wissen. Auch wenn es unter ökonomischen Gesichtspunkt sinnvoll sein könnte, Leichtathletik-Weltmeisterschaften in einem bestimmten Turnus nur in solchen Städten durchzuführen, in denen Leichtathletik attraktiv ist und eine entsprechende Klientel an Interessierten anzutreffen ist, so sind dennoch die Mitglieder des IAAF-Council eher geneigt, eine Wiederholung einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft am selben Ort als eine Ausnahme zu betrachten. Dies gilt auch dann, wenn die Ausrichtung an diesem Ort äußerst erfolgreich gewesen ist. Die privaten Interessen der Entscheidungsträger sind dabei in der Regel stark genug, um ökonomisch rationalen Entscheidungen den Vortritt zu überlassen.

Entscheidungsregeln

Versuche ich meine Erkenntnisse, die ich aus theoretischer Reflexion und teilnehmender Beobachtung bei den Entscheidungen zur Vergabe von Weltmeisterschaften erschließen konnte, zu systematisieren, so können einige Regeln erkannt werden, die ganz offensichtlich das Kräfteverhältnis bei der Vergabe von internationalen Sportereignissen prägen.

Zwölf Regeln scheinen es dabei zu sein, die nicht zuletzt unter Demokratiegesichtspunkten als besonders kritisch zu würdigen sind:

  • Dem Präsidenten der internationalen Fachverbände kommt bei den Entscheidungen zur Vergabe von internationalen Sportereignissen eine herausragende Rolle zu.
  • Wenn zwei oder mehrere Bewerberstädte zur Entscheidung anstehen, so ist die Grundlage der Entscheidung sowohl sachlicher als auch unsachlicher Natur.
  • Kommen unsachliche Kriterien bei der Entscheidung zum Tragen, so sind diese entweder politisch geprägt oder emotionaler Natur.
  • Emotionale Aspekte spielen bei der Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen eine zentrale Rolle.
  • Die Vergabeentscheidungen können auch von so genannten „Incentives“ beeinflusst werden, wenn diese von den Bewerbern den Bewerbungsleistungen hinzugefügt werden bzw. von den internationalen Verbänden verlangt bzw. erwartet werden.
  • Sind „Incentives“ im Spiel, so besteht die Gefahr, dass Bewerber gegeneinander ausgespielt werden.
  • Kommen die Bewerber für ein sportliches Großereignis aus verschiedenen Kontinenten, so kommt das politische Spiel der Macht zum Tragen. Das Kriterium „One-Vote/One-Country“ spielt dabei auf indirekte Weise eine entscheidende Rolle.
  • Die persönliche Beeinflussung durch Bewerber, denen die Councilmitlgieder unterliegen können, kann eine entscheidende Bedeutung für die zu erfolgende Abstimmung haben.
  • Die Entscheidung über die Vergabe einer sportlichen Großveranstaltung wird von den Vertragspartnern der Verbände beeinflusst. Die Interessen der Fernsehpartner sind dabei von besonderer Bedeutung. Die Präferenz der Sponsoringpartner zu Gunsten einer Bewerberstadt wird durch deren ökonomische Interessen in den jeweiligen Märkten beeinflusst.
  • Garantie und Übernahme einer qualitativ anspruchsvollen Fernsehproduktion der sportlichen Großveranstaltung und die Garantie eines internationalen Signals ist eine grundlegende Bedingung für die Akzeptanz einer Bewerbung.
  • Den Entscheidungen der internationalen Verbände über die Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen werden in der Regel Evaluierungen durch Kommissionen vorgeschaltet. Die Mitglieder der Kommissionen werden von den jeweiligen Executive Boards nominiert. Der Abstimmungsprozess wird von der Qualität und Ausrichtung des Berichts dieser Kommission mehr oder weniger beeinflusst.
  • Die von den Bewerbern vorgelegten Budgets zur Durchführung der sportlichen Großveranstaltungen haben nur einen nachgeordneten Einfluss in Bezug auf die Vergabe einer Veranstaltung. Bewerbungsbudgets sind selten valide und reliabel. Es stellt sich vielmehr heraus, dass Bewerbungsbudgets mit dem tatsächlichen Haushalt einer Veranstaltung so gut wie nie übereinstimmen.

Darüber hinaus sind in Bezug auf die Entscheidungsprozesse über sportliche Großveranstaltungen einige Tendenzen zu beobachten, bei denen das IOC und die FIFA eine besondere Vorbildrolle einnehmen. Die Frage, ob die Entscheidung über eine Großveranstaltung der Vollversammlung, beziehungsweise dem Kongress oder dem Exekutice Board eines internationalen Verbandes zukommt ist offen. Immer mehr Verbände haben sich zu Gunsten ihrer Exekutive entschieden.

Von Interesse ist auch die Frage, ob jene die über eine Vergabe entscheiden, im Vorfeld ihre Entscheidung auf Einladung der Bewerberstädte die konkurrierenden Städte besuchen dürfen oder gar sollen, oder ob dies durch ein Verbot auszuschließen ist, wie dies zum Beispiel beim IOC der Fall ist.

Immer öfter versuchen Bewerberstädte auch die Entscheidung der Entscheidungsgremien mittels bezahlter Berater zu beeinflussen. Dabei verdingen sich meist die gleichen Lobbyisten und wechseln die Lager je nach belieben. Ihr Einfluss scheint eher gering zu sein, zumal sie sich gegenseitig neutralisieren.

Von besonderer Bedeutung ist schließlich der Sachverhalt, dass es immer häufiger üblich wird, dass Verbände über die Vergabe von zwei Großveranstaltungen gleichzeitig entscheiden und/oder ihre Vergabe an einen geografischen Zyklus binden. Auch hier ist die FIFA Modellgeber. Das IOC ist mittlerweile diesem Vorbild gefolgt. Ärgerlich und problematisch ist dabei jedoch, wenn Verbände ihre zukünftigen Großereignisse spontan unter den sich bewerbenden Städte aufteilen, ohne dabei möglichen zukünftigen Bewerberstädten eine Bewerbungschance einzuräumen. Auf diese Weise wird den Anforderungen eines offiziellen Bewerbungsprozesses nicht mehr entsprochen.

Ausblick

Die von mir hier vorgelegte Regelskizze kann nur vorläufigen Charakter haben. Sie kann sich ändern und sie bedarf vor allem der kritischen Diskussion. Nur wenige Verbände befinden sich in einer vergleichbaren Situation wie der Internationale Leichtathletik-Verband. Heute verfügen die meisten Sportverbände nur noch sehr selten über Auswahlmöglichkeiten wie dies für die Leichtathletik glücklicherweise noch der Fall ist. Angesichts der Dominanz des Fußballsports, der Olympischen Bewegung und der wenigen Profisportarten, deren Ereignisse globale Bedeutung haben, ist es mittlerweile für die meisten Sportverbände notwendig geworden, nur noch einen Allein-Bewerber von der Notwendigkeit einer Ausrichtung ihrer Weltmeisterschaft zu überzeugen. Die Verhandlungsposition der internationalen Verbände in solchen Situationen ist dabei ausgesprochen schwach und man ist meist auf die Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen. Das Kräftespiel in Bezug auf die Großvereine ist somit ständig im Fluss. Es verändert sich ausgesprochen schnell. Es gibt in diesem Spiel immer häufiger viele Verlierer und nur noch wenige Gewinner. Eines ist dabei gewiss: Wird das „Bewerbungs-Spiel“ gespielt, so spielt die Frage des Geldes eine zentrale Rolle. Gerade am Beispiel der sportlichen Großveranstaltungen kann in beispielloser Weise gezeigt werden, wie eng die Symbiose zwischen Sport und Geld geworden ist und wie letztendlich die Währung des Sportsystems die Währung der Wirtschaft ist.

letzte Überarbeitung: 26.03.2018

Erstveröffentlich: Digel, H. (2011). Fair Play – Verantwortung im Sport. Essen, Hellblau.