Wenn Ethik als Alibi missbraucht wird

Mit den Begriffen „Ethic Code“, „Corporate Governance Codex“ und „Compliance“ werden Themen benannt, die in jüngster Zeit auf der Tagesordnung fast jeder internationalen Sportorganisation zu finden sind. Nach mehreren Korruptionsskandalen, an denen vor allem Mitglieder des IOC und der FIFA, aber auch weitere Präsidenten und Mitglieder verschiedener internationaler olympischer Sportverbände beteiligt gewesen sind, mussten die Verantwortlichen in den Organisationen des Sports nicht zuletzt aufgrund eines massenmedialen Drucks und einer kritischen Öffentlichkeit zumindest den Anschein erwecken, dass sie bereit sind aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, mit denen zukünftige Verfehlungen vermieden werden können. Anstelle einer Politik des passiven Tolerierens, des Vertagens von Problemen und der Vertuschung von Sachverhalten soll nun proaktives Handeln, Aufklärung, Transparenz und Glaubwürdigkeit treten. Die wohlfeilen Ziele sind bisher in keiner internationalen Sportorganisation erreicht und es stellt sich die Frage, ob die geplanten und teilweise bereits eingesetzten ethischen Maßnahmen zur Selbstreinigung überhaupt sinn- und wirkungsvoll sein können.

Eigentlich geht es dabei um ein ganz einfaches Problem. Das englische Wort „compliance“ bedeutet nichts mehr und nichts weniger als Regeltreue und verweist auf die Notwendigkeit der Einhaltung von Gesetzen und Regeln in Unternehmen. Die Grundsätze und Maßnahmen eines Unternehmens zur Einhaltung bestimmter Regeln und damit zur Vermeidung von Regelverstößen werden als „Compliance Management“ bezeichnet. Zu einer Compliance-Kultur gehören besondere Richtlinien und Verhaltenskodizes, die nach innen und außen festgehalten werden und an denen sich die Mitglieder einer Organisation zu orientieren haben. Hierzu gehören konkrete Regeln zur Vermeidung von Korruption und nicht erlaubten Absprachen, das Einhalten von Vorgaben bezüglich Datenschutz und Gleichbehandlung und die Beachtung von Vorschriften zu Produktsicherheit und zum Arbeitsschutz. Ein besonders geeignetes Instrument ist dabei auch die Einrichtung von sogenannten Hotlines und die Unterstützung eines Whistleblowing-Systems. Über dieses System können Regelverstöße auch anonym gemeldet werden. Mittlerweile gibt es für Wirtschaftsunternehmen zertifizierte Compliance-Management-Systeme (CMS). Hierbei werden die Elemente beschrieben, die ein funktionsfähiges und wirksames Compliance-Management auszeichnen müssen.

Betrachtet man die diesbezügliche Situation in den Sportorganisationen, so ist sehr schnell zu erkennen, dass diese von den Standards eines verantwortungsvollen Compliance-Management-System weit entfernt sind. In den Sportorganisationen ist es mittlerweile vielmehr üblich, dass sie sich selbst einen Ethik-Kodex erarbeiten und zu dessen Überwachung eine Ethik-Kommission berufen. Das IOC hat dabei das Modell vorgegeben, die FIFA ist diesem Modell gefolgt und alle übrigen internationalen Sportverbände sind derzeit dabei, in ähnlicher Weise zu verfahren. Das Problem der Ethik in den Sportorganisationen scheint dabei lediglich ein juristisches Problem und die berufenen Mitglieder der bislang existierenden Ethik-Kommissionen sind nahezu ausschließlich Juristen. Philosophen, Theologen, Soziologen oder Politologen scheinen dabei nicht erwünscht zu sein. Die Ethik-Richtlinien wurden und werden dabei in der Regel von befreundeten Juristen erarbeitet, die eine enge Nähe zum Führungsgremium der jeweiligen Sportorganisation aufweisen. Die Ethik-Kommissionen arbeiten eher sporadisch, dabei wird sich noch zu erweisen haben, ob sich ihre Arbeit durch irgendwelche Erfolge auszeichnen kann. Für die Mitglieder der Kommission ist deren Berufung eine lohnende Sache, dies gilt meist sowohl in ideeller und materieller Hinsicht.

Schon heute sind jedoch bereits Zweifel angebracht, ob die neuen Ethik-Kommissionen ihren vorgegebenen Zweck erfüllen können und sich die Konstruktion der neuentstandenen ethischen Komplexe in den Sportorganisationen auf die Probleme beziehen, deren Lösungen dringend angebracht wären.

Fragt man welche Sachverhalte in den internationalen Sportorganisationen in den vergangenen Jahrzehnten unter ethischen und moralischen Aspekten fragwürdig gewesen sind bzw. auch heute noch fragwürdig sind, so muss in erster Linie über Geldtransfers gesprochen werden, die in den Verbänden in äußerst vielfältiger Weise möglich sind.

Als erstes ist z.B. zu fragen, wie die Arbeit des Präsidenten eines internationalen Sportverbandes honoriert werden soll. Erhält er ein Gehalt? Wird dieses Gehalt gegenüber den Mitgliedern der Organisation offengelegt? Werden seine Leistungen über eine Aufwandsentschädigung beglichen, die aber möglicherweise die Höhe eines Gehaltes erreicht oder diese gar übertrifft? Welche Kosten werden dem Präsidenten wie und auf welche Weise erstattet? Wer kontrolliert die Kostenerstattung? Wie detailliert wird über die Ausgaben des Verbandes in den Haushaltsberichten Rechenschaft abgelegt? Welchen Grad der Unabhängigkeit weist die Haushaltskontrolle auf?

Ein zweites finanzielles Transferproblem ist bei der Vermarktung der Rechte der Sportverbände zu beobachten. Es ist längst üblich geworden, dass sich die Verbände bei der Vermarktung ihrer Rechte einer Agentur bedienen. Die Bezahlung von Kommissionen ist dabei in diesem Geschäft eine Selbstverständlichkeit. Die Gefahr, dass dabei Anteile der Kommission zurückfliesen an jene, die die Rechte den Agenturen überlassen, ist naheliegend. Es stellt sich aber auch die Frage, ob Funktionäre, wenn sie bei der Vermittlung von Vermarktungsverträgen federführend beteiligt waren, möglicherweise sogar alleine die entsprechenden Verhandlungserfolge aufzuweisen haben, an dieser Vermittlung anteilmäßig beteiligt werden oder ob ihre Arbeit völlig ehrenamtlich sein muss. Sind Funktionäre über mehrere Amtszeiten hinaus in führenden Positionen des Weltsports so haben sie in Bezug auf bestimmte Märkte und die Vermarktung von Sponsoren und Medienrechten Kompetenzen und Erfahrungswissen aufzuweisen. Als Beratungspartner für internationale Agenturen sind sie somit attraktiv. Ist dies erlaubt oder sollte dies verboten sein? Eine Vermischung zwischen beruflichen und privaten Interessen und den Interessen eines ehrenamtlichen Funktionärs sind auf internationaler Ebene so gut wie gar nicht auszuschließen und so bedarf es in dieser Frage einer klaren Regelung.

Als drittes Problem wurde in der Vergangenheit die Manipulation von Wahlen beklagt. Präsidentschaftswahlen und Council-Wahlen zeichnen sich dadurch aus, dass bei diesen Wahlen attraktive Ämter vergeben werden, die für die Sieger einen hohen sozialen Nutzen aufweisen und teilweise auch unter ökonomischen Gesichtspunkten sehr bedeutsam sein können. Angesichts dieser Qualität der Wahlen ist der Versuch des Stimmenkaufs naheliegend, Kandidaten sichern sich ihre Wahl durch „Geschenke“ ab, die teilweise so konstruiert sind, dass ein Teil des Geschenkes vor und die zweite Hälfte gebunden an den Wahlsieg nach der Wahl ausbezahlt wird. Dieser Interessenstausch zwischen Gewählten und Wählern findet in geheimer Privatheit statt und kann in der Regel nicht von außen beobachtet werden. Es ist deshalb nicht überraschend, dass darüber lediglich Vermutungen in den Organisationen des Sports existieren. Beweise für solche Interaktionen gibt es in der Regel nicht.

Ähnlich schwierig zeigen sich uns die Verhältnisse bei den Entscheidungen über die Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen. Auch hier ist angesichts der Attraktivität des Entscheidungshandelns längst üblich geworden, dass Bewerber sich um die Stimmen jener bemühen, die über die Vergabe abzustimmen haben. Großzügige Geschenke, finanzielle Zuwendungen, teilweise nicht direkt sondern indirekt über Angehörige oder Dritte können dabei die Stimmabgaben beeinflussen.

In vielen internationalen Sportverbänden sind ferner noch Begünstigungen zu beobachten, die eher einen indirekten Charakter aufweisen, die dennoch, wenn sie unter politischen Gesichtspunkten konsequent eingesetzt werden, hohe Wirkungen erzielen können. In den meisten olympischen Sportverbänden entscheidet beispielsweise der Präsident über die Zusammensetzung von Kommissionen und Arbeitsgruppen und über begehrte Delegiertenpositionen, die von Mitgliedern des jeweiligen Councils bei Großveranstaltungen auszuüben sind. Abhängig von den Tagegeldvergütungen kann die Position eines Technischen-, Medizinischen- oder Media-Delegierten sehr vorteilhaft sein. Die Berufenen werden es dem Präsident mit Loyalität und Zustimmung danken.

Betrachtet man all diese Beispiele aus einer zusammenfassenden Perspektive, so wird sehr schnell deutlich, dass allein mit einem Ethik-Kodex und einer Ethik-Kommission, den ethisch fragwürdigen Problemen und Strukturen der olympischen Sportorganisationen nicht entsprochen werden kann. Ja es wird sichtbar, dass mit diesen Instrumenten lediglich eine Alibifunktion erfüllt wird, die angesichts der öffentlichen Diskussion über angebliche oder tatsächliche Verfehlungen in den internationalen Sportorganisationen erwünscht ist. Ethik-Kodex und Ethik-Kommission werden somit selbst zum ethischen Problem, sie tragen nicht zur Lösung bei sondern sie verlängern die ethisch-moralischen Probleme, wie sie in den Sportorganisationen schon seit längerem bestehen.

Die Beispiele machen aber auch deutlich, dass das eigentliche Problem in der hierarchischen Führung der internationalen Sportorganisation zu suchen ist. Auf der Grundlage der Verbands-Konstitution, die die Mitglieder zur verantworten haben, wurde den Präsidenten in den internationalen Sportorganisationen in vielen Fällen eine Macht zugesprochen, die unter demokratischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen ist. Vor allem unterliegt diese Macht so gut wie keiner Kontrolle und eine kritisch korrigierende Beobachtung von außen durch Dritte ist so gut wie nicht vorgesehen und möglich. Viele internationale Sportorganisationen unterliegen so gut wie keinem nationalen Recht, agieren in einem rechtsfreien Raum und die zwingend notwendige Transparenz aller Sachverhalte kann deshalb nicht durchgesetzt werden. Die Selbstreinigungskraft des Sports wird aus naheliegenden Gründen nicht ausreichen, um diese Situation zu verändern. Notwendig ist vielmehr ein umfassender Druck von außen. Das Politiksystem ist dabei ebenso gefordert wie die Massenmedien und die wirtschaftlichen Partner und erwünscht ist eine kritische Öffentlichkeit, die es den Sportorganisationen zukünftig schwer macht, dass ihre verdeckten Verhältnisse weitergelebt werden.

Verfasst: 14.03.2014