Täter sind keine Opfer

Das Wort „Opfer“ weist sich durch eine schillernde Bedeutungsvielfalt aus. Von der Herkunft des Wortes lässt sich die Vielfalt auf einen religiösen Hintergrund zurückführen und so kann es eigentlich kaum überraschen, dass in der modernen Ersatzreligion, dem Hochleistungssport, der Gebrauch des Wortes mittlerweile inflationäre Züge annimmt. Wenn dabei vom Opfer die Rede ist, meint man in der Regel die Athletinnen und Athleten. Opfer sind dabei meistens Unschuldige, Opfer werden erbracht, Athleten werden geopfert, Opfer sind ohnmächtig, sind dem Spiel der Mächtigen ausgeliefert. Im Dopingdiskurs der vergangenen Jahre ist nahezu ausnahmslos von Opfern die Rede und auch hierbei sind es meist die Sportler, denen man diese Etikette anhängt. Manchmal sehen sich auch Sponsoren als Opfer. Seltener definieren sich die Funktionäre in dieser Rolle. Vielleicht fühlen sich auch ein Fernsehsender oder gar einzelne Journalisten als Opfer des Betruges und eigentlich könnten sich auch die Zuschauer in dieser Rolle wiederfinden, denn sie haben Geld und Zeit geopfert, um den Ereignissen des Sports zu huldigen und müssen nun erkennen, dass sie dabei betrogen wurden. Die Annahme, dass es in unserer Ersatzreligion „Spitzensport“ Opfer gibt und dies vor allem beim Doping der Fall ist, hängt mit der Vorstellung zusammen, dass es beim Dopingbetrug Schuldige und Unschuldige, Wissende und Unwissende, Verführer und Verführte, Profiteure und solche gibt, die die Zeche zu bezahlen haben. Diese Annahme ist jedoch an die Voraussetzung gebunden, dass man die wirklichen Strukturen des Dopingbetruges nicht offenlegt, eine weit verbreitete Heuchelei als Legitimationsstrategie des Spitzensports akzeptiert und man selbst dazu bereit ist, das eigentliche Problem weiter zu verdrängen. Betrachten wir den Dopingbetrug und seine relevanten Merkmale etwas genauer, so müssen wir erkennen, dass es keine Opfer gibt, denen man berechtigt jene Merkmale zubilligen könnte, die an den Begriff des Opfers gebunden sind. Der Dopingbetrug im Hochleistungssport konnte vielmehr gerade deshalb eine beispielslose Karriere machen, weil im Grunde genommen alle wussten, was sie tun und weil vor allem alle wussten, dass man mit diesem Betrug jenes Ziel bestens erreichen kann, um das es vorrangig im Sport geht. Eine Ausnahme liegt dabei nur dann vor, wenn Kinder und Jugendliche ohne ihr eigenes Wissen und ohne das Wissen ihrer Eltern von Dritten gedopt wurden, wie es u.a. in der DDR der Fall war. Hier muss mit voller Berechtigung von Dopingopfern gesprochen werden.

Der Dopingbetrug hat eine spektakuläre Entwicklung sportlicher Leistungen im internationalen Hochleistungssport möglich gemacht und nur Dank dieser spektakulären Leistungen wurde der Hochleistungssport anschlussfähig für die Wirtschaft und die Massenmedien. Nur Dank des Dopingbetruges konnte die Kommerzialisierung des Hochleistungssports vorangetrieben werden, konnten die Einnahmen aus Fernsehen und aus Sponsorenverträgen, die Einnahmen der Athleten über Antritts- und Startgelder jährlich überdurchschnittlich gesteigert und zu jenem Milliardenbusiness entwickelt werden, durch das sich heute der Hochleistungssport auszeichnet. Vermutlich nur mit Doping konnten in der Leichtathletik einige spektakuläre Weltrekorde erreicht werden. Sie alle wurden weltweit gefeiert. Nur mit Doping konnte ein politisches System wie das der DDR international aufgewertet werden und seine Anerkennung erreichen. Nur mit Doping konnte das öffentlich-rechtliche Fernsehen seine Einschaltquoten bei Sportübertragungen der Tour de France steigern und die erwünschten Helden präsentieren. Nur Dank Doping konnte der Wettkampfkalender ausgeweitet werden, damit noch mehr Sport im Fernsehen gezeigt und noch mehr Profit mit Sport von allen Interessierten erzielt werden. Wer ist also das Opfer bei diesem Spiel? Alle haben in der Vergangenheit profitiert, die Athleten, die Trainer, die Betreuer, die Funktionäre, die Politiker, die Journalisten, die Zuschauer, die Wirtschaft und das Fernsehen. Einige Profiteuere werden nun gewiss einwenden, dass sie aber von den Hintergründen dieses Betruges nichts gewusst haben. Und in der Tat hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der Dopingbetrug in einer grauen Zone ereignet, in die nur wenige Einblick hatten. Wer wen wie oft gespritzt hat, welche Substanz zu welchem Zeitpunkt in welcher Menge verabreicht wurde; solche und ähnliche Fragen können gewiss einige Profiteure nicht beantworten und in der Tat ist ihr Wissen über das Phänomen des Dopingbetruges sehr begrenzt. Unwissenheit können sie jedoch für sich nicht in Anspruch nehmen. Sprechen wir z. B. von der Tour de France, muss daran erinnert werden, dass in Insiderkreisen des Sports schon seit Jahrzehnten genau das diskutiert wurde, was durch den Lance Armstrong Skandal offensichtlich wurde. Die Annahme, dass man die sportlichen Leistungen, die bei einer Tour zu erbringen sind, nur mittels medikamentöser Unterstützung erreichen kann, ist eine uralte Annahme. Der Sachverhalt, dass den Athleten Kortison gespritzt wird oder dass sie sich selber Kortison spritzen, um die Belastungen auszuhalten, die sie bei einer Touretappe durchzustehen haben, ist schon viele Jahrzehnte bekannt. Die Experten von Telekom ebenso wie die Experten von ARD und ZDF – alles Unternehmen, die dem Steuerzahler verpflichtet sein sollten – haben die Tour de France über viele Jahre begleitet und in Expertenkreisen war es allen Beteiligten klar, dass hier ein Prozess der Regelveränderung stattgefunden hat, der längst die gesamte Sportart erfasste. Die Verantwortlichen von ARD, die sich für einen Sponsoringvertrag zu Gunsten der Tour de France entschieden haben, haben ohne Ausnahme über dieses Hintergrundswissen verfügt und haben sich dennoch für den Vertrag zu Gunsten der Tour de France entschieden. Auch die Verantwortlichen aus den großen Wirtschaftsunternehmen, die die Tour de France über Sponsoringpartnerschaften unterstützten, haben über dieses Hintergrundswissen verfügt. Nicht anders verhält es sich in Bezug auf jene Sportfunktionäre, die die entsprechenden Athleten in ihre Olympiamannschaften berufen hatten, nachdem der Profiradsport bei den Olympischen Spielen hoffähig geworden war.

Das Beispiel des Radsports ist dabei nur ein treffendes Beispiel unter vielen. Gleiches gilt für viele olympische Sportarten, allen voran für die Leichtathletik, das Schwimmen, das Gewichtheben und den Triathlon. Was für die Tour de France gilt, kann auf fast alle internationalen Sportgroßveranstaltungen übertragen werden. Tun wir dies, so wird es sichtbar, welch umfassender Profit mit dem Dopingbetrug gemacht wurde. Von Opfern kann dabei keineswegs die Rede sein. Wir müssen vielmehr erkennen, dass all jene vorschnellen Rezepte, die in schon seit längerer Zeit zur Lösung des Problems des Dopingbetrugs angeboten werden, notwendigerweise scheitern müssen. Wer auf Profit aus ist, der wird auch zukünftig daran interessiert sein, dass sein Profit gesichert wird und er wird sich mit aller Macht gegen jene stellen, die den Profit gefährden. Die alles entscheidende Frage ist deshalb vermutlich darin zu sehen, welche Rolle wir, die Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft, in Bezug auf den Hochleistungssport in der Zukunft spielen wollen. So wie sich die Bürgerinnen und Bürger in ihrer großen Mehrheit in der Vergangenheit und auch in diesen tagen in Bezug auf den Dopingbetrug im Hochleistungssport verhalten haben bzw. verhalten, ist eher Pessimismus angebracht. In einer Gesellschaft, in der die Bürger vorrangig als Quote betrachtet werden, das hat die Vergangenheit gezeigt, ist ein manipulierter Sport höchst attraktiv. Die Quote trägt dazu bei, dass der Profit mit dem manipulierten Sport umfassend ist und alle sich als Gewinner fühlen können. Mit dem Bürger als Quote werden jene ethisch-moralischen Mehrheitsverhältnisse widergespiegelt, wie sie heute unsere Gesellschaft prägen. Erst wenn diese sich ändern, zeichnet sich am Horizont eine Lösung des Betruges ab. Dass dies der Quotenbürger aus sich selbst heraus wohl kaum leisten kann, ist offensichtlich. Nur im Verbund mit jenen, die den Quotenbürger erfunden haben, mit den Medien selbst und mit jenen Funktionären in Politik, Wirtschaft und Sport, die dafür Verantwortung tragen, kann der Weg gefunden werden, der eine Lösung im Blick hat.