Stadion ausverkauft – über echte und unechte Zuschauer

Echt oder unecht? Diese Frage stellt sich immer häufiger, wenn man bei einem Essen in einem Restaurant die Blumen als Tischdekoration betrachtet. Die Imitate werden immer perfekter, die Blumensträuße immer artenreicher und farbenfreudiger. Nur noch selten handelt es sich dabei um natürliche Blumen. Die Entscheidung gegen die Echtheit hat meist ökonomische Gründe.

Die Frage, ob etwas echt oder unecht ist, stellt sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Überraschen muss jedoch, dass sich diese Frage mittlerweile auch in der Welt des Sports stellt, die sich ja mit ihren Wettkämpfen einem besonderen Echtheitsideal verpflichtet fühlen muss. Die Frage, ob die Leistung eines Athleten echt oder unecht ist, stellt sich heute in nahezu allen olympischen Sportarten. Immer häufiger unterliegen Spitzenleistungen dem Zweifel der Zuschauer, die Mühe haben, zwischen echten und unechten Leistungen zu unterscheiden. Dass man nun aber auch noch die Frage zu stellen hat, ob bei einem Sportwettkampf echte oder unechte Zuschauer anwesend sind, muss für so manchen Verantwortlichen in der Welt des Sports irritierend sein.

Dabei ist es offensichtlich, dass sich die olympischen Sportarten in Bezug auf ihre Zuschauer erheblich unterscheiden. Für die Einordnung einer Sportart im Hinblick auf ihre Attraktivität für Zuschauer kann es nur einen einzigen gültigen Gradmesser geben. Es ist die Zahl der verkauften Eintrittskarten und damit der Anteil, den die Einnahmen bei der Durchführung eines Wettkampfes erreichen. Der Fußballsport ist dabei in einmaliger Weise attraktiv für Zuschauer. Bereits im Vorverkauf sind die angebotenen Dauerkarten für manche Bundesligaspiele ausverkauft. Bei einer Fußball-Weltmeisterschaft kann man mit dem Vorverkauf bereits vier Jahre vor dem Ereignis beginnen. In jedem Fußballstadion gibt es Kartenhäuschen, bei denen Zuschauer Eintrittskarten direkt erwerben können. Die Eintrittskarte ist teilweise ein derart begehrtes Gut, dass es bei wichtigen Ereignissen auch einen Schwarzmarkt gibt. Betrachtet man die Zuschauerkulisse eines Fußball-Länderspiels, so kann davon ausgegangen werden, dass 90% der anwesenden Zuschauer sich selbst mit ihren eigenen Mitteln eine Eintrittskarte erworben haben. Auch in Sportarten wie Handball, Basketball und Eishockey sind Zuschauer bereit, für jedes Bundesligaspiel einen Preis von ca. 20 Euro pro Sitzplatz zu bezahlen. Doch bereits bei diesen Sportarten erkennen wir, dass das Zuschauerinteresse erheblich kulturbedingt ist. Handballspiele finden in China nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und auch in Südamerika wären nur wenige Zuschauer bereit, sich für ein erstklassiges Handballspiel eine Eintrittskarte zu kaufen. Auch in Deutschland gibt es eine ganze Reihe von Sportarten, die sich in einer derart misslichen Lage befinden. Auf regionalem und nationalem Niveau haben Wettkämpfe im Schwimmen, Turnen, Hockey, Badminton, Trampolin, Schießen, Boxen und Ringen meist nur wenige oder gar keine Zuschauer aufzuweisen und selbst manches internationale Ereignis findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die gleichen Sportarten können jedoch in anderen Regionen der Welt äußerst attraktiv sein und Woche für Woche tausende von Zuschauern an sich binden.

Olympische Spiele 2008. Peking, China.

Im weltweiten Vergleich zeichnet sich die Mehrheit der Sportarten durch freien Eintritt aus. Es wird dabei meist sogar darauf verzichtet, überhaupt Eintrittskarten am Markt zu offerieren. Häufig werden Eintrittskarten auch an Schüler und Jugendliche verschenkt, um auf diese Weise eine Zuschaueratmosphäre zugunsten der Athleten zu ermöglichen. Spätestens seit den Olympischen Spielen 2008 in Peking wissen wir, dass zigtausende von Zuschauern bei Sportveranstaltungen anwesend sein können und sich dabei durch Eintrittskarten ausweisen, die sie jedoch nicht selbst bezahlt haben. Ein Interesse der Zuschauer am Sport kann dabei nicht vorausgesetzt werden, in der Regel ist es gar nicht vorhanden. Dennoch verbringen diese Zuschauer mehrere Stunden im Stadion, applaudieren unter Anleitung des Stadionsprechers, schwingen Fahnen und sind euphorisch, wenn ein Athlet ihres Landes einen überraschenden sportlichen Erfolg erreicht. Bei den Olympischen Spielen in Peking wurde mit solchen Zuschauern das Olympiastadion gefüllt. Auch andere olympische Sportstätten zeichneten sich durch solch eine Kulisse aus. Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Peking 2015 hat diese besondere Zuschauerkonstellation im sogenannten „Birdnest“ seine Wiederholung erlebt. Das Organisationskomitee mit der Vize-Premierministerin des Landes an der Spitze, der Präsident des Olympischen Komitees, der gleichzeitig auch Sportminister ist, der Bürgermeister von Peking und weitere hohe politische Repräsentanten garantierten der IAAF, dass das Stadion morgens und abends neun Tage lang nahezu ausverkauft sein wird. Es wurde ein Online-Ticketverkauf inszeniert. Für ausländische Gäste wurde ein Internetportal eröffnet. Es gab offizielle Werbeplakate und Werbebanner, Fernseh- und Hörfunkspots wurden geschaltet – einen freien Ticketmarkt hat es dennoch nicht gegeben. Noch wenige Wochen vor der Weltmeisterschaft waren nur ganz wenige Tickets verkauft. Die IAAF betrachtete die Entwicklung der Verkaufszahlen der Eintrittskarten mit großer Sorge. Bei den Vormittagsveranstaltungen musste man ein leeres Stadion befürchten und auch die Abendveranstaltungen hätten, gemäß den berichteten Verkaufszahlen, verheerende Fernsehbilder zur Folge gehabt. Die Verantwortlichen der IAAF mussten sich deshalb die Frage stellen: wie kann es den chinesischen Partnern gelingen, dieses viel zu große Olympiastadion neun Tage lang zu füllen? Eine erhöhte Skepsis war vor allem auch deswegen angebracht, weil der Gastgeber der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau zwei Jahre zuvor ähnliche Versprechungen machte. Doch die Stadtverwaltung von Moskau war nicht mehr in der Lage über die russischen Bürger in vergleichbarer Weise zu verfügen, wie dies in der ehemaligen Sowjetunion der Fall war, und deshalb musste man bereits bei der Eröffnungsfeier zur Kenntnis nehmen, dass das Stadion gerade einmal zu einem Drittel gefüllt war und die Wettkämpfe auch an den weiteren Wettkampftagen nur ganz selten vor einer ausreichenden Zuschauerkulisse stattfanden.

Eröffnungsfeier Olympische Spiele 2008. Peking, China

Ganz anders in Peking. Die spektakuläre Eröffnungsfeier fand in einem ausverkauften Stadion statt und bei den Abendveranstaltungen waren täglich 90-100% der Sitze belegt. Bei den Vormittagsveranstaltungen waren zwischen 80-90% der Eintrittskarten „verkauft“. Die Käufer waren dabei sogenannte „Public Institutions“. Wo immer der chinesische Staat einen direkten Zugriff auf seine Bürger hat, war und ist es ihm möglich, sie zu Zuschauern von wichtigen Ereignissen zu machen, in denen sich die chinesische Gesellschaft gegenüber der Welt präsentiert. Zur Reduktion der Luftverschmutzung wurden im Umland von Peking mehrere Fabriken geschlossen, was dazu führte, dass die Weltmeisterschaften bei schönem Wetter stattfinden konnten. Strahlend blauer Himmel überraschte die ausländischen Gäste bei dieser Weltmeisterschaft in vergleichbarer Weise wie bei den Olympischen Spielen. Die Belegschaften der stillgelegten Fabriken wurden mit Eintrittskarten versorgt, sie wurden mit Bussen in das Stadion gefahren, sie erhielten Lunchpakete und ein Tag im Stadion als Zuschauer erschien für manchen von ihnen wie ein bezahlter Urlaubstag. Ein sehr hohes Kartenkontingent wurde vom Erziehungsministerium erworben. Das Militär hat sich an der Verkaufsaktion ebenfalls mit einem entsprechend hohen Kartenkontingent beteiligt. Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei die Parteiorganisationen in den verschiedenen Bezirken Pekings. Der Stadionbesuch wurde ein Teil der überall in Peking anzutreffenden Senioren-Betreuungsmaßnahmen. Bereits Stunden vor jeder Wettkampf-Session am Morgen und am Abend trafen die vielen organisierten Zuschauer unter Leitung ihrer Gruppenführer mit Bussen im Olympiapark ein. Meist in einheitlicher Kleidung, mit einheitlicher Mütze und Fähnchen, defilierten sie in das Stadion und füllten nach und nach die Ränge. Selfies und Gruppenfotos begleiteten diese Aufmärsche. Im Olympiapark konnte man deshalb Tag für Tag ein fröhliches Treiben beobachten. Für die IAAF war diese Weltmeisterschaft ihr größter Erfolg. Die Live-Übertragungen in mehr als 200 Länder der Welt zeigten täglich Bilder von einem ausverkauften Stadion. Eine imposante Zuschauerkulisse bildete den Hintergrund der sportlichen Höchstleistungen. In der Zuschauerstatistik der Weltmeisterschaften konnte Peking den bisherigen Spitzenreiter Paris übertreffen.

Das gegenseitige Schulterklopfen konnte am Ende kaum größer sein – wohlwissend, dass es auch ganz groteske Szenen gegeben hat. Kartenhäuschen konnten bei dieser Veranstaltung nicht angetroffen werden. Wenn sich ausländische Zuschauer spontan entschieden hatten, an den interessanten Wettkämpfen als Zuschauer teilzunehmen, so war für sie kein Ticket am freien Markt zu erwerben, da es keinen Ticketverkauf gab und jene Minderheit, die sich am freien Markt ein Ticket erworben hatte, stellte sich die Frage, warum die große Mehrheit freien Eintritt hatte.

IAAF WM 2011 in Daegu, Südkorea

Der indirekt bezahlte Zuschauer, wie er bei der Weltmeisterschaft in Peking neun Tage lang zu beobachten war, ist für das chinesische Sportsystem äußerst typisch, er ist jedoch keine chinesische Erfindung. Diese Art von Zuschauer konnte man bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Daegu beobachten, in der ehemaligen Sowjetunion gab es sehr häufig Veranstaltungen, bei denen diese Zuschauer anwesend waren und in der Geschichte der Olympischen Spiele hat es immer wieder Gastgebernationen gegeben, die sich auf diese Weise als erfolgreiche Sportnationen präsentieren wollten. Solche Nationen haben jedoch ein gemeinsames Merkmal – es leben dort keine offenen Gesellschaften, das Demokratieideal wird hier nicht in jener Weise gepflegt wie man es z.B. aus einer europäischen Sicht erwartet. Diese Gastgeberstaaten zeichnen sich hingegen durch eine außergewöhnliche Autorität aus, die Freiheitsrechte der Bürger sind eher eingeschränkt und von einem offenen Unterhaltungsmarkt kann nur bedingt gesprochen werden.

China nimmt heute dennoch in gewisser Weise eine Sonderrolle ein. Je offener eine Gesellschaft ist, desto seltener gelingt es, Zuschauer für Sportveranstaltungen zu verpflichten. Je freier die Erziehung von Schülern und Studenten, desto weniger sind diese bereit, sich vom Staat für dessen Interessen einspannen zu lassen. Bei immer mehr Sportveranstaltungen scheitern die Bemühungen volle Stadien durch bestellte Zuschauer zu präsentieren. Für die weitere Entwicklung des Sports ist dies eine äußerst positive Tendenz. Dem „Fake-Sport“ muss mit echtem Sport begegnet werden und eine Sportart ist noch lange nicht ohne Wert, wenn sie keine Zuschauer an sich binden kann. Priorität für die Förderung einer Sportart sollte nicht das Zuschauer-, sondern das Athleteninteresse sein. Passives Interesse ist verständlich und wünschenswert, die aktive Teilnahme ist jedoch die notwendige Bedingung, damit es zu einem derartigen Interesse überhaupt kommen kann. Deshalb ist die Förderung des aktiven Sports das besondere und vorrangige Anliegen sowohl der Verbände als auch der Staaten. Ein freier Zuschauermarkt, in dem man Eintrittspreise für gute Unterhaltung bezahlt, regelt sich hingegen von selbst.

Die überwiegend asiatisch und osteuropäisch geprägte Form des bezahlten Zuschauers führt zu einer äußerst fremden Zuschauerkultur des Sports. Befremdend ist auch die daraus resultierende neue Kultur der Ausrichtung sportlicher Wettkämpfe, die ungerechtfertigte Verwendung von Geld, das letztlich der Steuerzahler zur Verfügung stellt und die nicht selten auch indirekt zu beobachtende zweckentfremdete Nutzung der eingeworbenen Sponsorenmittel.

Eine ganz besondere Form des bezahlten Zuschauers lässt sich schließlich auch bei den Organisatoren der internationalen Sportwettkämpfe und deren sogenannten Sportfamilien beobachten. Neben der FIFA- und IOC-Family gibt es die IAAF-, die FINA- und die FIBA-Family. Jeder internationale Sportverband weist seine eigene „Family“-Struktur auf. Die indirekte Bezahlung erfolgt dabei in der Regel durch sogenannte „Allowances“ für die Mitglieder des Councils, für die Verbandsdelegierten und für deren „accompanying persons“, denen ergänzend noch kostenfreie Exkursionen angeboten werden. Die WM-Teilnahme dieser Personen gleicht somit einem bezahlten Urlaub. Da bei fast allen Weltmeisterschaften in den Sportarenen nahezu ganztägig Hospitality Lounges warme und kalte Speisen offerieren, ist es dem Gast möglich, während einer Weltmeisterschaft ohne eigene Kosten auszukommen und die „Allowances“ als verdienten Lohn nach Hause zu tragen. Im Vergleich zur chinesischen Variante des bezahlten Zuschauers ist die Zahl der Family-Zuschauer wohl gering. Von Sportart zu Sportart gibt es dabei erhebliche Unterschiede. Die Kosten, die für diese Zuschauer entstehen, sind jedoch meist nicht gering. Sie müssen in der Regel von den örtlichen Organisationskomitees aufgebracht werden, was meist so viel heißt, dass einmal mehr die Zeche vom Steuerzahler zu bezahlen ist.

letzte Überarbeitung: 29.11.2017