„No kind of demonstration of political, religious or racial propaganda is permitted in any Olympic sites, venues or other areas. “
Regel 50,2 der Olympischen Charta scheint auf den ersten Blick klar und verständlich zu sein. Der nach wie vor bestehende Rassismus gegenüber Schwarzen in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch der Rassismus von Weißen gegenüber fast allen fremden Ethnien ist seit vielen Jahrzehnten kaum zu übersehen. In vielen Ländern dieser Welt gibt es einen zunehmenden Antisemitismus oder eine Islamfeindlichkeit oder auch beides. All diese Verhältnisse und Tendenzen haben in jüngster Zeit vermehrt zu Protesten geführt. Zu erwähnen sind auch die „Fridays for Futur“-Bewegung, die zunehmende Zahl der Klimawandeldemonstrationen und die Demonstrationen zugunsten einer allgemeinen Gendergerechtigkeit.
All dies sind Hinweise, dass es in jüngster Zeit in fast allen Gesellschaften dieser Welt zu einer erhöhten Aufmerksamkeit und Wachsamkeit für die Einhaltung der Menschenrechte gekommen ist. Man kann dies auch als eine auffällige Tendenz zu einer positiven Politisierung der Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaften bezeichnen.
Bei all diesen politischen Artikulationen, die sich in jüngster Zeit ereignet haben, waren immer auch Athleten und Athletinnen beteiligt. Bewusst wurde dabei die Rolle des Sportlers als ein Instrument der politischen Demonstration genutzt. Sportstätten und Sportanlagen wurden als geeigneter Raum für solche Demonstrationen betrachtet. Hinter die „Black Lives Matter“-Bewegung in den Vereinigten Staaten haben sich mittlerweile ganze Organisationen des Sports gestellt und die Demonstrationen zugunsten dieser Bewegung begrüßt und unterstützt.
Manche unterstützende Geste ist dabei jedoch bloßer Opportunismus und einigen Funktionären des Sports ist Scheinheiligkeit vorzuwerfen. Wenn hoffentlich die nächsten Olympischen Spiele 2021 in Tokio stattfinden werden, so sollten diese Funktionäre an ihren jüngsten Bekundungen gemessen werden.
DOSB Präsident Hörmann hat das schwierige Problem, das die jüngsten Anti-Rassismus-Proteste hervorgerufen haben, durchaus erkannt. Er weist darauf hin, dass immer wieder wichtig und auch notwendig ist, „die Sinnhaftigkeit bestehender Regelwerke des autonomen Sports selbstkritisch zu hinterfragen. In der aktuellen Diskussion muss man sehr präzise trennen zwischen politischen Statements und der Unterstützung von grundsätzlichen Zielen wie die Einhaltung der Menschenrechte, die sogar in Verbandssatzungen oder auch der Olympischen Charta konkret benannt sind. Wenn Sportler*innen für die dort aufgeführten Werte offen und deutlich eintreten, ist das aus unserer Sicht positiv und somit völlig anders zu bewerten, als wenn die Bühne des Sports zur Aussendung politischer Botschaften jedweder Art genutzt und teilweise auch missbraucht wird. In beiden Fällen braucht es auch weiterhin klare Regeln wann und wo Äußerungen Sinn machen und allseits zu akzeptieren sind. Von diesen klaren Spielregeln profitieren in erster Linie dann die Athlet*innen selbst, weil für alle klar wird, was wo und in welcher Form möglich ist.“
Gelöst wird mit dieser Stellungnahme das von Hörmann beobachtete Problem jedoch nicht. Im Gegenteil, seine Ausführungen sind in Bezug auf das, was mit dem Begriff „politisch“ gemeint sein könnte ebenso unklar, wie die Olympische Charta. Ganz offensichtlich wird dabei angenommen, dass es politische Äußerungen geben kann, die entweder positiv oder negativ zu beurteilen sind. Die einen sind zu begrüßen, die anderen müssen verurteilt und verboten werden. Maßstab für die Beurteilung soll dabei die Olympische Charta sein.
Doch wer soll über die Frage, was „Gut“ und was „Böse“ ist entscheiden? Und wann soll entschieden werden? Vor den Spielen, um das „Böse“ von den Spielen fern zu halten? Bedarf es für politische Demonstrationen eines Anmeldeverfahrens? Wie unabhängig sollen die Entscheidungen über „gute“ bzw. „böse“ politische Demonstrationen sein? Geben die in der Olympischen Charta des Olympismus auch wirklich einen verbindlichen Maßstab vor an dem sich die Beurteilung zu halten hat? Unterliegt die Menschenrechtskonvention der UNO nicht längst einer möglicherweise bedauernswerten Relativierung? All diese Fragen bleiben in der Stellungnahme des DOSB-Präsidenten wie auch in vielen weiteren Stellungnahmen von Funktionären nationaler und internationaler Sportverbände offen. Vermutlich aus gutem Grund, denn diese Fragen werden sich meines Erachtens als nicht beantwortbar erweisen, weil es einem Konsens für die Beantwortung aus systematischen und politischen Gründen nicht geben kann.
Im Hintergrund der Meinung vieler Sportfunktionäre erkennt man den Wunsch und die Idee vom sogenannten „unpolitischen Sport“ wie er bzw. sie bis heute noch immer von Sportfunktionären gepflegt wird, obgleich diese Idee von Politik- und Sportwissenschaftlern längst widerlegt wurde. Das Phänomen des Sports weist nicht weniger politische Merkmale auf wie dies für den Verkehr, die Kultur oder die Massenmedien gilt. Sportpolitik ist längst Teil eines umfassenden Politiksystems geworden, so wie dies auch für die Verkehrspolitik, die Kulturpolitik, die Medienpolitik oder die Religionspolitik gilt. In einem demokratischen Gemeinwesen ist durchaus auch ein Ministerium für Sport wünschenswert auch wenn ein solches für Deutschland derzeit möglicherweise nicht erforderlich ist. Das Phänomen des Sports ist durch und durch politisch in einem weiteren wie auch in einem engeren Sinne. Bei Olympischen Spielen sind die Athletinnen und Athleten Repräsentanten ihrer Nationen, auch wenn dies vom IOC so nicht vorgesehen ist und vielleicht auch von vielen Athletinnen und Athleten nicht erwünscht ist. Das System des Sports befindet sich schon seit langem in einem intensiven Austausch mit allen wichtigen relevanten gesellschaftlichen Teilsystemen unserer Gesellschaft. Dies gilt für die Wirtschaft, für die Massenmedien, für das Bildungs- und Erziehungssystem, für die Kirchen, für die Gewerkschaften und für weitere kulturelle Teilsysteme gleichermaßen. All dies ist notwendig und erwünscht. Ein aktives politisches Engagement der Verantwortlichen des Sportsystems ist angebracht und dringend zu fördern.
Das hier skizzierte Verständnis von Politik und Sport ist grundsätzlich und hat auch bei der Organisation und Durchführung von Olympischen Spielen seine Gültigkeit. Politisch denkende und handelnde Athletinnen und Athleten sind bei diesem Verständnis ebenso erwünscht, wie politisch handelnde und denkende Funktionäre.
Sind Athleten und Funktionäre der Idee des modernen Olympismus verpflichtet und teilen sie meine Auffassung, dass die bedeutendste politische Maxime des modernen Olympismus das Friedensgebot („Olympic Truce“) ist, so sind sämtliche Regeln, die der Sport sich selbst gibt, dieser wichtigen Maxime unterzuordnen. Folgt man der Leitidee des Friedensgebotes der modernen Olympischen Spiele, so ist es notwendig und nachvollziehbar, dass in der räumlich begrenzten Welt dieser Spiele jegliche Werbung in den olympischen Arenen und jegliche verbale und nonverbale Propaganda, für was auch immer, verboten sein müssen. Jeder Versuch erlaubte bzw. unerlaubte Demonstrationen und Propaganda zu unterscheiden, dies zeigen die aktuellen Diskussionen, muss und wird scheitern. In einer globalen und äußerst komplexen Welt kann und sollte über vieles protestiert werden, so z.B. gegen die ethnischen Säuberungen in Myanmar, gegen die Verfolgung von Lesben und Schwulen in Russland, gegen Separatismusbewegungen, gegen die chinesischen Repressionen in Hongkong und gegen die vielen Korruptionsfälle im Sport. Dazu gehört auch der noch immer existierende Rassismus und das fatale Versagen der internationalen Politik in Bezug auf den Klimawandel. Von den Spielen selbst, von den Wettkämpfen, den Sportgeräten, den Sportanlagen und nicht zuletzt von der Sportkleidung der Athletinnen und Athleten während der Wettkämpfe und deren Handlungen bei den Wettkämpfen und Siegerehrungen sind diese Proteste jedoch fernzuhalten.
Jeder Funktionär und jeder Athlet ist eingeladen und das IOC müsste sich dies auch wünschen, ebenso wie die vielen Nationalen Olympischen Komitees, dass vor, während und nach den Olympischen Spielen sie selbst sich zugunsten der Menschenrechte einsetzen und sich an Protesten bei Verstößen dieser Rechte beteiligen. Das Friedensgebot in der Olympischen Charta legt dies durchaus nahe. Es gebietet jedoch auch, dass diese Proteste nicht während der Spiele selbst, d.h. in einem durch Regeln bewusst ausgegrenzten Raum, der ausschließlich den Wettkämpfen (olympische Arenen) und der friedlichen Begegnung der Athleten untereinander (Athletendorf) gewidmet ist, stattfinden dürfen.
Regel 50,2 muss deshalb in ihrer Bedeutung dringend erhalten werden. Gleiches gilt für die Regel 50 in ihrer Gesamtheit. Dringend zu empfehlen wäre jedoch eine Ergänzung zur bestehenden Regel 50. In einer neuen Regel 50,3 sollten sämtliche namentlich zu nennenden Stakeholder der Olympischen Bewegung, allen voran die Sportfunktionäre und die Athletinnen und Athleten selbst aufgefordert werden, sich überall in der Welt für die Einhaltung von Menschenrechten einzusetzen und politische Protestbewegungen zugunsten dieser Rechte zu unterstützen.
Verfasst: 26.06.2020