Olympische Spiele am Scheideweg

Rio de Janeiro im August 2016: Einmal mehr präsentiert sich mit Rio eine der schönsten Städte der Welt. Carioca nennen sich die Einheimischen und sie bieten ihren olympischen Gästen bei meist gutem Wetter drei interessante Wochen. Die Strände an der Copacabana, in Ipanema oder in Barra stehen für Lebensfreude und eine einmalige Sport- und Fitnesskultur. Die Stadt ist umgeben von einer eindrucksvollen Fauna und Flora. Seen, Lagunen und eine bemerkenswerte Formation von Bergen bieten dem Besucher Ausblicke und Einblicke, wie sie nirgendwo in der Welt in vergleichbarer Weise anzutreffen sind. Die brasilianische Küche ist voller Überraschungen und ihre Getränke werden von Jung und Alt genossen. Caipirinha bringt wie kaum ein anderes Getränk den Lebensstil vieler schöner Frauen und Männer zum Ausdruck, die das Gesicht Brasiliens prägen.

Aus Anlass der Olympischen Spiele, die im August 2016 in Rio stattfanden, waren zigtausende von Gästen in der Stadt – Sportler, Trainer, Funktionäre, Journalisten, Politiker, Touristen und Sportbegeisterte. Sie sahen und erlebten auf der einen Seite eine besondere Stadt und waren gleichzeitig mit den Problemen eines Entwicklungslandes konfrontiert, wie man sie ganz selten in solch einer Direktheit antreffen muss, wie dies in Brasilien der Fall ist. Reichtum und Armut stehen im schroffen Gegensatz nebeneinander. Favelas, die jeden Berghang mit mehreren Hunderttausend Menschen bevölkern, reichen bis an die Villen der Reichen heran. Kriminalität ist ein Alltagsthema, Gewalt ist in den Favelas ständig auf der Tagesordnung. Die Folgen einer außergewöhnlichen Arbeitslosigkeit sind an jeder Ecke der Stadt zu beobachten. Brasilien befindet sich ganz offensichtlich in einer Modernisierungssackgasse. Ihre Politiker haben eine verantwortbare Modernisierung mit einer problematischen Steigerung des Massenkonsums verwechselt. Sämtliche Konsummöglichkeiten sind umfassend vorhanden, doch die dafür notwendigen Infrastrukturen wurden nur nachlässig oder gar nicht bereitgestellt. Der tägliche Verkehrskollaps ist angesichts der geografischen Lage von Rio de Janeiro eine unvermeidbare Konsequenz. Umweltverschmutzung und die immer wieder anzutreffenden Stromausfälle sind die typischen Merkmale einer nicht gelungenen Modernisierungspolitik.

Die Gäste aus der Welt des Sports hatten mit solch einem Gastgeberland ganz offensichtlich ihre Schwierigkeiten. Beschämt schauten sie auf die Armut angesichts des eigenen Reichtums. Verärgert waren sie über den täglichen Verkehrskollaps, denn das Transportproblem hatte sich bei diesen Olympischen Spielen sehr schnell als nicht lösbar herausgestellt. Die Bildungsdefizite in Brasilien zeigten sich vor allem über die mangelnde Sprachkenntnis und damit bei den Verständigungsproblemen der Gäste mit ihren Gastgebern. Die Medien aus den erfolgreichen Industrienationen haben im Vorfeld dafür gesorgt, dass manch einer der olympischen Gäste seine Vorurteile nicht überwinden konnte, die er mit in das Land gebracht hat.

Der August im Jahr 2016 in Rio de Janeiro lässt sich gewiss noch durch viele weitere Merkmale kennzeichnen. Bezeichnend ist jedoch, dass in diesem Monat in dieser Stadt die größten Olympischen Sommerspiele aller Zeiten stattgefunden haben. Mehr als 12.000 Athleten haben an diesen Spielen teilgenommen. Mehr Sportarten als je zuvor wurden angeboten, mehr Fernsehgesellschaften als je zuvor haben von diesen Spielen berichtet. Trainer, Kampfrichter, Betreuer und Funktionäre waren ebenfalls in einem Rekordausmaß anwesend. Das IOC, die NOKs, die internationalen Verbände und somit die gesamte sogenannte „Olympic Family“ haben dabei höchste Ansprüche an diese Spiele in Brasilien gerichtet. Moderne Sportstätten von ungeheurem Ausmaß wurden errichtet, deren Nachhaltigkeit nur teilweise gesichert werden kann.

Viele der Interessen der sogenannten „Olympic Family“ sind dabei höchst eigennützig. Von einer Olympiade zur nächsten wachsen die Ansprüche. Werden sie nicht erfüllt, so ist die Unzufriedenheit überall zu beobachten. Selbst Fünf-Sterne-Hotels werden in Frage gestellt. Wenn man nicht eigens ausgewiesene Fahrzeuge erhält, die einen rechtzeitig zu den Sportstätten bringen, wird das Transportwesen als eine Katastrophe empfunden. Nur wenige denken dabei an die betrogenen Zuschauer, die viel Geld für ihre Eintrittskarten bezahlt haben, auf eigene Kosten nach Rio geflogen sind und auch für Übernachtungen und Verpflegung selbst aufkommen müssen. Sie können zurecht verärgert sein, wenn sie ihre Wettkämpfe nicht erreichen, weil sie im Verkehrsstau stecken geblieben sind und sie können zurecht verwundert sein, dass die besten Plätze in den Stadien der „Olympic Family“ vorbehalten sind, die allerdings oft gar nicht besetzt werden. Für den normalen Zuschauer war es in Rio nahezu unmöglich, an einem Tag mehr als zwei Veranstaltungen zu besuchen, obgleich viele Wettkämpfe gleichzeitig stattgefunden haben. Man darf sich nicht wundern, dass immer mehr ausländische Gäste in Rio selbst die Spiele am Bildschirm verfolgten, weil der Besuch der Veranstaltungen zu anstrengend geworden ist, wobei ohnehin die Mutation der Spiele zu inszenierten Fernsehspielen in Rio immer offensichtlicher wurde. Die Abendveranstaltungen der Leichtathletik wurden beispielsweise dadurch entwertet und die Bedürfnisse der Zuschauer vor Ort hinten angestellt.

Für eine Stadt wie Rio de Janeiro mit ihrer besonderen geografischen Lage stellten diese Spiele ohne Zweifel eine schwierige Herausforderung dar, die nur durch Kompromisse zu meistern war. Das Verkehrsproblem hat sich zwangsläufig als unlösbar herausgestellt, die Verbindungen zwischen den einzelnen Wettkampf-Clustern waren notwendigerweise nur bedingt gegeben – die Sportstätten in Deodoro waren vom Beachvolleyballstadion an der Copacabana nahezu eine Tagesreise entfernt. Wer von der Leichtathletik zum Badminton oder in den Olympiapark wechseln wollte musste sich zwangsläufig auf eine oft mehr als zwei Stunden dauernde Anreise einlassen. Angesichts der Eintrittspreise durfte man sich auch nicht darüber wundern, dass viele Wettkämpfe nur spärlich besucht waren. In einem Entwicklungsland, das sich gleichzeitig durch demokratische Strukturen auszeichnet, lassen sich Zuschauer nicht in vergleichbarer Weise bestellen wie es zum Beispiel in Peking der Fall war. Die Sportbegeisterung der Brasilianer hielt sich deshalb in Grenzen. Begeisterung über die eigenen Erfolge konnte man ihnen kaum übel nehmen, wenngleich man des Öfteren beklagen konnte, dass das olympische Fair Play in mancher Arena ein Fremdwort war. Vom olympischen Geist der Spiele war in Rio allerdings ohnehin nicht sehr viel zu spüren. Das Olympiastadion entbehrte der olympischen Flamme, seine Dekoration war wenig olympisch. Auch die große Mehrheit der Cariocas hat sich ganz offensichtlich mit den Olympischen Spielen in Rio nur ganz am Rande identifiziert. Wissenschaft, Kunst, Musik, Literatur und Theater, die man gerne mit Olympischen Spielen verknüpft sehen würde, haben allenfalls ohne besondere Aufmerksamkeit der Gäste stattgefunden. Diese trafen sich jedoch allabendlich zumeist in ihren „national houses“. In Rio konnte man bereits 21 dieser Art von Häusern verzeichnen, was ebenfalls ein Rekord darstellt. Deutsche trafen sich mit Deutschen, Italiener mit Italienern, Österreicher mit Österreichern, Tschechen mit Tschechen. Die olympische Bewegung hat auf diese Weise die interkulturelle Verständigung auf einen Nullpunkt gebracht. Der Zutritt in die „national houses“ war heiß begehrt, ebenso war der Zutritt in die Gästehäuser der großen Ausrüster vielen Mitgliedern der olympischen Familie ein bedeutsames Anliegen. Die „olympische Familie“ selbst ist dabei längst zu einem Altersheim geworden, das sich alle vier Jahre mit Kindern und Enkelkindern auf Reisen begibt. Jeder trägt dabei ein Plakat auf der Brust, das ihn in der Hierarchie des Olympismus positioniert. Mit Kleidung, Ausstattung und den zugewiesenen Privilegien stehen dabei die Mitglieder des IOC an der Spitze. Die Athleten müssen hingegen dankbar sein, wenn sie neben den eigenen Wettkämpfen Zugang zu ein oder zwei weiteren Sportarten erhalten.

In Rio hat sich die olympische Familie noch durch ein weiteres Merkmal ausgezeichnet. Es fand ein Meckerwettbewerb statt, bei dem der eine den anderen überbieten wollte. Wer bereits bei fünf oder mehr Spielen dabei war, der hatte ein Bedürfnis seine Meinung an möglichst viele weiterzugeben, dass diese Spiele wohl die schlechtesten gewesen seien. Die Verpflegung in den Lounges für die olympische Familie war demnach zu einfach und zu spärlich, die Atmosphäre in den Sportstätten unzureichend, die Stunden die man in den Staus verbracht hat ein Ärgernis und das Leichtathletikstadion Olympischer Spiele nicht würdig. Manche Kritik war dabei durchaus berechtigt. Allerdings wäre Lob zugunsten der brasilianischen Gastgeber nicht weniger angebracht gewesen, denn die vielen Volunteers waren hilfsbereit und freundlich, die Fahrer gaben sich größte Mühe in einem Verkehrschaos, das sie gewiss nicht selbst verschuldet hatten. Auch das schöne Wetter hat die Spiele begünstigt und wer Augen und Ohren offen hatte, konnte sich über eine außergewöhnliche Umwelt freuen, durch die diese Spiele begleitet wurden. Für die brasilianischen Gastgeber muss die geäußerte Kritik dennoch ein großes Ärgernis sein, denn diese hatte nahezu immer den falschen Adressaten.

Die meckernden Mitglieder der olympischen Familie verkennen dabei einen darüber hinaus wichtigen Sachverhalt. Die eigentlich betrogenen der Olympischen Spiele von Rio sind ganz andere. Es sind die zahlenden Zuschauer, die nicht die entsprechenden Leistungen erhalten, die sie zu Recht erwarten können. Es ist der Steuerzahler, der dieses spektakuläre Ereignis möglich macht und bei dem sich bis heute noch nie jemand bedankt hat. Und es sind die sauberen Athleten, die durch konkurrierende Betrüger um ihre Würde und Ehre gebracht werden.

Was immer bei den Spielen falsch gelaufen ist hatte nur in ganz seltenen Fällen das Organisationskomitee zu verantworten. Vielmehr stellte sich in Rio einmal mehr und ganz grundlegend die Frage nach der Verantwortung des IOC. Wie ist es möglich, dass eine Evaluierungskommission zu dem Ergebnis gelangt, dass Spiele, die viel zu groß geworden sind, in einer Stadt ausgerichtet werden können, die unter geografischen Gesichtspunkten dafür nicht geeignet ist. Warum wird ein Schwellenland mit Kosten konfrontiert, die zwangsläufig zu einer Verschlechterung der ökonomischen Lage führen müssen. Welchen Sinn machen Spiele in einem Land, in dem die ökonomischen Gegensätze gravierend sind und die Prioritäten einer verantwortlichen staatlichen Politik gewiss anders zu setzen sind, als dass man sich dabei Olympische Spiele leisten könnte. Hätten Fachleute die Spiele evaluiert, wären sie gewiss zu einem anderen Ergebnis gekommen. Eine Bewerbung Rios hätte man nicht empfohlen und Rio wäre auch nicht in die engere Wahl der potenziellen Ausrichterstädte gelangt. Wenn man glaubt, dass ehemalige Olympiasieger, die oft über eine völlig unzureichende Bildung verfügen, weil sie nichts anderes in ihrem Leben gemacht haben, als dass sie auf den Leistungssport ausgerichtet waren, Vorsitzende von Evaluierungskommissionen sein können, so darf es nicht überraschen, wenn solche Ergebnisse die Folge sind. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen bei dem man die fachliche Kompetenz des IOC in Frage stellen muss. Das undemokratische Rekrutierungsverfahren seiner Mitglieder ist gewiss nicht folgenlos. Die mangelhaften Organisationsstrukturen der internationalen Sportverbände und der Olympischen Komitees tun ein Übriges, dass eher immer weitere Probleme in der olympischen Bewegung zu beklagen sind, als dass die bereits erkannten gelöst werden. Die wichtigsten Forderungen, die an das IOC zu richten sind und die sich auf die zukünftigen Olympischen Spiele beziehen sind zwingend und naheliegend. Wollen die Spiele eine verantwortbare Zukunft haben, so müssen sie kleiner und billiger werden: Reduktion der Sportarten, weniger Medaillen in den großen Sportarten, Limitierung der Teilnehmerzahl für Athleten auf 8.000, Reduzierung der Kampfrichter, der Medienakkreditierungen, der Angehörigen in der olympischen Familie und der Gäste aus der Politik sind ein Gebot der Stunde. Das IOC muss sich demokratisieren und dessen Entscheidungsträger müssen sich durch höchste fachliche Kompetenz auszeichnen. Die Selbstbedienungsmentalität, die sich rund um das IOC herausgebildet hat, muss ausgerottet werden. Die Ideen von Pierre de Coubertin sind ernst zu nehmen und die Olympische Charta muss in die Tat umgesetzt werden.

Letzte Überarbeitung: 31.05.2017