Am 05. August werden in Rio de Janeiro die 31. Olympischen Sommerspiele eröffnet. Für Brasilien und Lateinamerika ist dies ein historisches Ereignis. Für Deutschland scheinen diese Spiele auf den ersten Blick betrachtet eher Routine zu sein. In der Presse werden, wie in Deutschland üblich, das IOC und die Ausrichter der Spiele mit Skepsis begleitet, Sicherheitsrisiken werden beklagt und die Vergabe der Spiele an ein Land wie Brasilien wird in Frage gestellt. Einige aber freuen sich auch auf die Spiele, dies gilt vor allem für Athletinnen und Athleten, die nach einem mühsamen Qualifikationsprozess das wohl wichtigste Ziel in der Karriere eines Athleten erreicht haben – die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Bei den Verantwortlichen in Brasilien geht auch die Angst um, ob die Spiele gelingen können angesichts der politischen Unruhen, angesichts der ökonomischen Unsicherheiten und angesichts einer immer noch andauernden Regierungskrise. Doch auch in Deutschland ist eine Angst vor diesen Spielen zu beobachten. Einige Sportverbände konnten sich mit ihren Nationalmannschaften für die Spiele nicht qualifizieren, einige werden nur mit einer sehr kleinen Mannschaft antreten können, weil nur wenige Athleten die Qualifikation geschafft haben und in immer mehr Verbänden wird die internationale Konkurrenz beklagt, der man offensichtlich nicht immer gewachsen ist. Eine besondere Angst geht um, wenn die zukünftige Sportförderung in der Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand gestellt wird. Wird man weniger Zuschüsse durch den Staat erhalten? Wie radikal werden die Mittel gekürzt? Werden ganze Sportarten aus der Förderung ausgeschlossen? Der DOSB ist sich des Erfolges seiner Olympiamannschaft nicht sicher. Ein Erfolgskorridor von 38 bis 68 Medaillen wird ausgelobt, was nur darauf schließen lässt, dass es besser gewesen wäre, auf jede Prognose zu verzichten.
Die Angst, dass die deutsche Olympiamannschaft in Rio de Janeiro weniger erfolgreich sein wird als bei den Olympischen Spielen in London, dass sie an die großen Erfolge bei den Olympischen Spielen Ende des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr anknüpfen kann, dass sich der Abwärtstrend, der schon seit längerer Zeit zu beobachten ist, fortsetzen wird, ist durchaus berechtigt. Erfolge deutscher Olympiamannschaften werden wohl von allen erwartet, sie sind aber immer weniger gesichert. Wissenschaftliche Gutachten, Analysen von Experten und verlässliche Statistiken über die Leistungsentwicklung in den olympischen Sportarten sprechen eine eindeutige Sprache. In der Tendenz erreichen deutsche Athletinnen und Athleten immer weniger Finalplätze. Die Konkurrenz in den einzelnen Sportarten hat weltweit zugenommen. Immer mehr Nationen definieren sich als Sportnationen und stellen enorme Finanzmittel zur Entwicklung und Sicherung sportlicher Erfolge zur Verfügung. Die vorrangige Frage, die sich angesichts dieser Situation für den deutschen Hochleistungssport ergibt, zielt auf die Ziele, die sich die Verantwortlichen des deutschen Hochleistungssports stellen. Stellt man sich gegen den Abwärtstrend und ist es der eigene Anspruch zu den fünf besten Nationen des Weltsports zu zählen oder akzeptiert man die Abwärtsentwicklung und ordnet sich unter den besten 20 Sportnationen der Welt ein? Folgt man der Logik des Hochleistungssports und den Prinzipien die diesen konstitutiv prägen, so kann es auf diese Frage nur eine Antwort geben. Die deutsche Olympiamannschaft hat sich der Konkurrenz zu stellen und sie muss dabei bemüht sein, sie zu überbieten. So wie es für den einzelnen Athleten in jedem Wettkampf um Sieg oder Niederlage geht, so muss es auch für die Olympiamannschaft Deutschlands um die Frage gehen, wie sie ihre Gegnerinnen und Gegner besiegen kann. Anzustreben ist der höchste Rang, wobei sich dieses Ziel selbstredend relativieren kann, angesichts begrenzter Ressourcen, angesichts begrenzter aktueller Relevanz des Sports und angesichts begrenzter materieller Möglichkeiten. Grundsätzlich muss jedoch anerkannt werden, dass dem zu beobachtenden Leistungsrückgang nur durch Leistungssteigerung, durch erhöhte Leistungsmotivation und Leistungsbereitschaft, durch einen besseren Spitzensport zu begegnen ist. Dies gilt vor allem für die Athletinnen und Athleten und für deren Trainerinnern und Trainer. Dies gilt vor allem aber auch für die Sportverbände, die für die Leistungsstärke ihrer Nationalmannschaften verantwortlich zeichnen. Um einem Missverständnis bereits an dieser Stelle vorzubeugen, muss mit aller Entschiedenheit darauf hingewiesen werden, dass die Verantwortung für die Olympiamannschaft bei jedem einzelnen Sportverband zu liegen hat. Der DOSB kann sich wohl sonnen in den Erfolgen der Athletinnen und Athleten die Goldmedaillen gewinnen, der Misserfolg ist jedoch immer von den Sportfachverbänden zu verantworten. Dies mag als ungerecht erscheinen, es entspricht jedoch der harten Realität der Olympischen Spiele. Olympische Spiele sind kein Wettkampfereignis Nationaler Olympischer Komitees, sie sind vielmehr eine Ansammlung von Wettkämpfen, in denen sich Athleten nach den Regeln ihrer jeweiligen internationalen Verbände zu messen haben. Jeder nationale Sportverband ist dabei für seine eigenen Athleten verantwortlich. Diese Verantwortung ist nicht teilbar. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis wird für nationale Leistungssportsysteme ein Dilemma sichtbar, dass sich nahezu als unlösbar erweist. Die nationalen Verbände sind sowohl für ihre Athleten und Trainer und für deren Erfolge bei Olympischen Spielen verantwortlich. Angesichts ihrer schwachen Strukturen, die meist allenfalls semiprofessionell sind, ist die große Mehrheit der nationalen Verbände überfordert, wenn sie dieser Verantwortung gerecht werden möchte. Ihre ehrenamtlichen Führungsstrukturen sind meist nicht mehr zeitgemäß. Hauptamtlichkeit kann mit vergleichbaren Professionen nicht Schritt halten, notwendige Modernisierungsprozesse finden nur zögerlich statt, die Ausbildung des Personals ist meist ein Fremdwort, demokratisch föderale Verbandsstrukturen erschweren außerdem die tägliche Arbeit. Hinzukommt, dass die Verbände gegen demografische Probleme ankämpfen müssen und sich angesichts des negativen Trends die finanziellen Risiken erhöhen. Sponsoren sind immer seltener zu finden, die Förderung durch den Staat ist angesichts der negativen Entwicklung des Sports immer wieder in Frage gestellt. Erfolgreiche Eigeninitiativen sind immer wenig wahrscheinlich. Die Lage in der sich derzeit die Entwicklung des Sports befindet ist deshalb durchaus als kritisch zu bezeichnen. Der DOSB hat dies nach langem Zögern endlich erkannt.
Nicht weniger deutlich war die Diagnose des Bundesministers des Inneren und so ist es das gemeinsame Ziel bis zum Ende des Jahres eine neue Leistungssportkonzeption für Deutschland vorzustellen. Innenminister de Maizière hat dabei deutliche Worte gesprochen. Wie immer sind seine Äußerungen von präzisen Analysen, klaren Erwartungen und realistischen Zukunftsvorstellungen geprägt. Er legt zurecht Wert darauf, dass die Leistungssportförderung am Erfolg zu messen ist und dieser kann im Hochleistungssport nur an den erfolgreichen Leistungen der Athleten abgelesen werden. Medaillen und Leistungen die Athleten in olympischen Finals oder bei Weltmeisterschaften erreichen müssen dabei das Bezugssystem sein. Er definiert zurecht einen Anspruch an dem man sich zu orientieren hat, wenn man Hochleistungssport betreiben möchte und er macht die Rolle des Steuerzahlers deutlich, der Transparenz und Klarheit in diesen Fragen erwartet. Belohnungen und Sanktionen müssen sich in einer sinnvollen Beziehung zueinander befinden. Eine Förderung nach dem Gießkannenprinzip verbietet sich. Der Minister erkennt sehr deutlich gerade auch im Vergleich zu anderen kulturellen Spitzenleistungen, dass es Sinn macht sehr viel stärker die Förderung auf das Individuum und die Mannschaften auszurichten, dass heißt den einzelnen Athleten und weniger die Verbände selbst im Blick zu haben, ohne zu verkennen, dass nach wie vor die Verbände ein Transmissionsriemen darstellen, will man sportliche Höchstleistungen organisatorisch gewährleisten.
Auffällig ist, dass in diesen Tagen niemand in vergleichbarer Klarheit über die Situation des Sports in der Bundesrepublik spricht und auffällig ist auch, dass dem Minister aus dem Sport heraus nur ganz selten applaudiert wird. In den Feuilletons der „Opinionleader“-Organe FAZ, Süddeutsche und Neue Zürcher Zeitung schlägt dem Minister bittere Kritik entgegen, die allerdings kaum als konstruktiv zu bezeichnen ist. Eine Wertedebatte wird gefordert ohne zu vermitteln, über welche Werte dabei zu diskutieren wäre. Eine Utopie eines neuen Hochleistungssports wird vorgetragen, die, wenn sie konkret wird, meist in das Lächerliche abgleitet. Der konstituierende Sieg-Niederlage-Code des Hochleistungssports wird in Frage gestellt, ohne etwas an dessen Stelle zu setzen. Der allumfassende Dopingbetrug im internationalen Hochleistungssport wird zum Alibi für sportliche Leistungen, die sich angeblich nicht am Überbietungsprinzip orientieren. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die immer häufiger zu beobachtende Kritik im internationalen Hochleistungssport in vieler Hinsicht ihre Berechtigung hat und eine Option immer wahrscheinlicher ist, dass der Hochleistungssport aus grundsätzlichen Erwägungen heraus abzulehnen ist, er öffentlich nicht mehr gefördert werden kann und ihm die öffentliche Legitimation entzogen werden sollte. Die Nichtteilnahme bei Olympischen Spielen ist deshalb durchaus als politische Option zu diskutieren und eine offene Auseinandersetzung mit dieser Option wäre meines Erachtens dringend erwünscht.
Will man hingegen zukünftig an Olympischen Spielen teilnehmen und dies ist der Wunsch des Innenministers, dies ist der Wunsch des Deutschen Olympischen Sportbunds, und dies ist auch der Wunsch der Athletinnen und Athleten, der Trainerinnen und Trainer und der olympischen Spitzenverbände, so ist die derzeit stattfindende Pseudokritik eher als naiv zu bezeichnen. Ganz gewiss ist sie nicht hilfreich auf der Suche nach praxisnahen Lösungen. Kaum hilfreicher ist es jedoch, wenn auf die Vorschläge des Ministers in jener Weise reagiert wird, wie dies in den letzten Wochen und Monaten zu beobachten war. Ohne dass die neue Konzeption des Hochleistungssports in ihren Details bekannt wird, gibt es bereits die Gegenwehr der Konferenz der Landessportverbände. Alte Erbhöfe werden verteidigt und die eigene Arbeit wird qualitativ überhöht, ohne dass man sich auch nur ein einziges Mal mit der längst bestehenden Kritik an dieser Arbeit auseinandergesetzt hat. Aus Angst vor finanziellen Einschränkungen kommt auch aus den Sportverbänden lauthals Kritik, ohne dass man konstruktive Vorschläge und eigene Ansätze und Modelle erkennen würde. Interessante Diskussionspapiere, die teilweise von Wissenschaftlern initiiert wurden, werden ohne Diskussion zurückgezogen. In aller Aufgeregtheit werden Fragebogenaktionen durchgeführt, deren wissenschaftlicher und praktischer Wert nicht nur von den Befragten in Frage gestellt werden und wo es für die Beteiligten angebracht wäre, die Frage zu stellen, warum so viel Geld für unnütze Agenturbefragungen ausgegeben wird, angesichts der eigentlichen finanziellen Probleme des Hochleistungssports. Dabei sind die Herausforderungen, die sich dem deutschen Hochleistungssport stellen keineswegs neu – sie hat es in der Vergangenheit ebenso gegeben, wie sie auch in der Zukunft wahrscheinlich sind. Wer im Hochleistungssport erfolgreich sein will hat talentierte Athletinnen und Athleten, die gewissenhaft trainieren zu fördern, mit der bestmöglichen Qualifikation ausgestattete Trainerinnern und Trainer, die die Spitzenathleten mehrjährig und ganztägig betreuen, hauptberuflich zu beschäftigt, und er hat auch die Verbände zu unterstützen, in denen diese Athleten zu Hause sind. Man hat aber auch jene Verbände zu fördern, die nicht so erfolgreich sind. Auf keinen Fall darf man olympische Verbände ganz fallen lassen. Viele Gutachten liegen zu diesem Problem vor und viele sinnvolle Vorschläge wurden bereits eingebracht. Lösungen liegen auf dem Tisch. Schaut man über den Tellerrand, so findet man in anderen Ländern teilweise Gesamtlösungen, meist jedoch Teillösungen für spezifische Probleme. Eine Synopse der vielen deutschen Untersuchungen würde zeigen, dass die Frage der Förderung eindeutig zu beantworten ist, dass es zum Wissensmanagement im Hochleistungssport tragfähige Vorschläge gibt, dass die Frage Föderalismus-Zentralismus beantwortbar ist und dass zu jeder einzelnen Sportart spezifische Sportartenlösungen erforderlich sind, will man zukünftig international konkurrenzfähig sein. Selbst innerhalb der Sportarten bedarf es der notwendigen Differenzierung. Ein sich ständig verbesserndes Fachpersonal ist hierzu notwendig. Eine neue Hauptamtlichkeit innerhalb der Spitzenfachverbände muss herangebildet werden und neue Athleten- und Trainergenerationen sind zu akquirieren.
Ist jemand voller Sorgen wenn er die aktuelle Entwicklung des deutschen Hochleistungssports betrachtet, so sind solche Sorgen angebracht. Bei vielen Experten ist Pessimismus zu beobachten. Dass die Hoffnung auf schnell Lösungen trügerisch ist, ist mehr als naheliegend. Dabei wäre der Weg der gemeinsam zu gehen ist relativ einfach zu beschreiben. Der deutsche Hochleistungssport benötigt einen großen offenen Runden Tisch, auf dem die konkurrierenden Lösungsvorschläge einsehbar sind und diskutiert werden können. Eine offene, transparente Diskussion in den Verbänden selbst ist notwendig und es müssen alle Betroffenen an diesen Diskussionen beteiligt werden. Geheimdiplomatie verbietet sich von selbst. Selbst der beste Vorschlag braucht auch vor dem potenziellen sportlichen Gegner nicht versteckt werden. Gesucht ist vielmehr der Mut zur Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen und haben Mehrheiten entschieden, so sind die Entscheidungen durchzusetzen. Gesucht sind auch Sanktionen gegenüber jenen, die sich den Entscheidungen nicht fügen. Der deutsche Hochleistungssport muss sich in ganz neuer Weise zu einer besonderen Professionalität bekennen. Die Leistungsidee ist die Basis dieser Professionalität und die Leitungsmotivation und der Leistungsanspruch müssen die Arbeit von Sportfunktionären, Athleten und Trainern prägen. Nur so kann in der weiteren Zukunft olympischer Erfolg wahrscheinlich sein.
Verfasst: 09.05.2016
Erstveröffentlichung: Vor den Rio-Spielen ist nach den Spielen: Alarmsignale in der deutschen Spitzenförderung. Olympischen Feuer Heft 2/2016, S. 20-21.