Menschenrechte und sportliche Großveranstaltungen

Die Frage nach der Bedeutung der Menschenrechte im Zusammenhang mit sportlichen Großveranstaltungen hat Priorität, wenn der Zusammenhang zwischen Sport und Politik zu klären ist. Dies liegt zum einen daran, dass sich nicht zuletzt der olympische Sport öffentlich über eine Friedensbotschaft legitimiert, die konstitutiv für ihn ist. Gleichzeitig kann für den Bereich der Politik beobachtet werden, dass in nahezu sämtlichen politischen Systemen die heute existieren Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind. Es gibt nur wenige Staaten in denen Menschenrechte nicht verletzt werden, selbst der demokratische Rechtsstaat in westlichen Industrienationen bietet keinen absoluten Schutz vor Übergriffen. Noch nie war eine so große Zahl von Menschen durch Eingriffe in elementare Lebensrechte bedroht, wie dies heute der Fall ist. Meist wird dabei nicht nur ein einzelnes Menschenrecht verletzt, vielmehr schließen sich die Übergriffe zu einer Kette zusammen. Die Verfolgung Andersdenkender, insbesondere die Verfolgung politischer Oppositionen, die Verfolgung kritischer Journalisten, die Kontrolle von Meinungsäußerungen im Internet, die Bedrohung bestimmter Identitäten, Diskriminierung aus sexuellen Gründen, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, religiöse Intoleranz, Verfolgung ethnischer Minderheiten, Folter, das Verschwindenlassen von Menschen, Völkermord und nicht zuletzt die noch immer exekutierte Todesstrafe in mehr als 60 Ländern weisen auf eine umfassende globale Verletzung der Menschenrechte hin. Amnesty International geht davon aus, dass in mehr als der Hälfte aller Mitgliedsnationen der Vereinten Nationen Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind.

Der Beitrag, den der Sport zur Erfüllung der Menschenrechte beitragen kann ist durchaus beachtlich. In meinen eigenen Beobachtungen des olympischen Sports, bei meinem eigenen Handeln in verschiedenen olympischen Sportarten und bei meinem Studium über die Werte des Sports hat sich ergeben, dass die Liste der Werte die den olympischen Sport prägen können zunächst und vor allem vom Prinzip des Fair Play angeführt wird. Dieses Prinzip ist konstitutiv für das System des modernen Sports, wird es missachtet so gefährdet sich der Sport selbst.

Eng verbunden mit diesem Prinzip ist der Wert der Menschenwürde. Die eigene Unversehrtheit und die Unversehrtheit des Gegners sind notwendige Bedingungen, dass der olympische Sport erzieherische Funktionen haben kann, dass der Olympischen Bewegung eine pädagogische Qualität zukommt, dass der Olympismus als ein Kulturgut betrachtet werden kann.

Alle weiteren Werte sind gewiss nicht weniger bedeutsam, dennoch möchte ich sie in Relation zu den beiden genannten Maximen als nachgeordnet einordnen. Für mich sind folgende Werte dabei beachtenswert: Respekt vor den Anderen, das Beste leisten, Teamarbeit, Freude, harte Arbeit, Selbstdisziplin, Selbstwertschätzung, Offenheit gegenüber Menschen anderer Ethnien und Rassen, Geduld, Mut zu Neuem, Solidarität, Offenheit gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, Wetteifer, Siegeswille.

Das Wertesystem, das somit dem Olympismus zur Verfügung stehen könnte, das ihn unter ethischen Gesichtspunkten entscheidend prägen könnte und unter pädagogischen Gesichtspunkten als überaus bedeutsam erscheinen lässt, ist nahezu umfassend. Doch so wie es den Vereinten Nationen bis heute nur sehr begrenzt gelungen ist, die Menschenrechte weltweit durchzusetzen, so scheint auch der olympische Sport seine Probleme zu haben, die vom ihm selbst postulierten Werte in der Praxis zu schützen, ihre Wirksamkeit zu ermöglichen und in einer globalen Welt des olympischen Sports durchzusetzen.

Trotz dieser besonderen Qualität des Sports werden an den Sport aus dem Bereich der Politik nahezu wie selbstverständlich Forderungen herangetragen, sportliche Großveranstaltungen zu boykottieren, wenn diese in Nationen stattfinden, in denen die Menschenrechte verletzt werden. Damit verbunden ist auch die Forderung sportliche Großveranstaltungen nur  noch an solche Nationen zu vergeben, die die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten. Die Bewerbungsverfahren sollten somit als höchstes Auswahlkriterium eine Evaluation der Menschenrechtssituation in den Bewerberländern aufweisen. Boykottforderungen wurden bereits 1976 bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien erhoben. Vergleichbare Diskussionen wurden aus Anlass der Olympischen Spiele in Montreal 1976, Moskau 1980 und Los Angeles 1984 geführt. Die Frage des Boykotts bzw. der Demonstration zugunsten der Menschenrechte wurde auch bei den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking diskutiert, wiederholte sich 2014 bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi, 2015 bei den Europäischen Spielen in Aserbaidschan und wird vermutlich die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar 2022 ebenso begleiten. In Bezug auf den Boykott sportlicher Großveranstaltungen gibt es schon eine ganze Reihe konkreter Erfahrungen. Meist wurden die mit dem Boykott verbundenen Ziele nicht erreicht, in der Regel wurden Boykotte auf dem Rücken der Athletinnen und Athleten ausgetragen, die durch eine politische Entscheidung der Funktionäre an der Teilnahme der sportlichen Wettkämpfe gehindert wurden. Auf diese Weise wurden sie um ihre Möglichkeiten und in gewisser Weise um ihren Lohn gebracht, sich nach jahrelanger Trainingsarbeit endlich bei der von ihnen als höchstes Ziel angestrebten sportlichen Auseinandersetzung zu bewähren. Boykotte müssen nicht prinzipiell ergebnislos sein, doch die bisher gemachten Erfahrungen mit dem Boykott sportlicher Großveranstaltungen sind eher negativ und es lassen sich kaum tragfähige Argumente finden, die für zukünftige Boykottmaßnahmen sprechen. Noch weniger zukunftsfähig ist die Forderung, die Vergabe zukünftiger sportlicher Großveranstaltungen an die Bedingung der Einhaltung der Menschenrechte zu binden und Athleten die Teilnahme an den Großveranstaltungen zu verweigern, wenn in ihrem Herkunftsland Menschenrechte verletzt werden. Würde dies tatsächlich zur Bedingung gemacht, so wäre die Durchführung sportlicher Großveranstaltungen und Olympischer Spiele nicht mehr möglich. Der globale Charakter der sportlichen Veranstaltungen wäre dadurch in Frage gestellt. Je nach Verletzungskriterium würde sich die Zahl der teilnehmenden Nationen entscheidend verringern. Die Länder in denen Großveranstaltungen ausgerichtet werden könnten, würden sich auf wenige westliche Industrienationen mit westlich-demokratischen Systemen begrenzen. Dabei ist die Frage noch gar nicht beantwortet, wer darüber entscheidet ob in einer Nation in angemessener Weise Menschenrechte berücksichtigt werden. Wie die Statistiken zu den Menschenrechtsverletzungen zeigen, wäre nicht einmal gesichert, dass diese Veranstaltungen in westlichen Demokratien stattfinden könnten. Zumindest wäre die Ausrichtung zukünftiger Olympischer Spiele in der größten westlichen Demokratie – den USA – auf diese Weise in Frage gestellt. Nicht nur aus diesem Grund müssen sich die Verantwortlichen in den Führungsgremien des internationalen Sports entschieden gegen Boykottforderungen wehren und sie müssten verhindern, dass Menschenrechtsverletzungen Vergabekriterium sportlicher Großveranstaltung werden. Es sind vor allem die Möglichkeiten selbst, die der Sport in Bezug auf die Menschenrechte hat, die es den Sportorganisationen dringend nahelegen müssen, gerade im Blick auf die positive Entwicklung von Menschenrechten in einer globalen Welt in regelmäßigen Abständen genau in jenen Nationen ihre Sportwettkämpfe durchzuführen, in denen erhebliche Menschenrechtsverletzungen beklagt werden.

Sportliche Wettkämpfe ermöglichen die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Nationen. Bei Olympischen Spielen, bei Fußball- und Leichtathletikweltmeisterschaften und auch bei Weltmeisterschaften anderer olympischer Verbände nehmen Athleten aus mehr als 200 Nationen teil. Sie wohnen oft für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen in einem Athletendorf, sie essen gemeinsam, sie begegnen sich, sofern es ihre Sprachkompetenz zulässt unterhalten sie sich, sie trainieren gemeinsam und in den Wettkämpfen treten sie in den unterschiedlichsten Disziplinen gegeneinander an. Sportliche Großveranstaltungen sind somit ein großes kommunikatives Ereignis, das sowohl unter qualitativen als auch unter quantitativen Gesichtspunkten als einmalig zu bezeichnen ist. Vergleichbare Möglichkeiten sind weder in der Kunst noch in der Literatur oder der Musik und schon gar nicht im Bereich der Politik anzutreffen. Allein die Tatsache, dass sich mehr als 20.000 Athletinnen und Athleten bei Olympischen Spielen treffen verweist auf einen besonderen kulturellen Wert dieser Veranstaltung. Hinzukommen die Trainer, Betreuer, Kampf- und Schiedsrichter und Funktionäre, die die Athleten betreuen und begleiten. Bei den Olympischen Spielen begegnen sich mehr als 50.000 Menschen aus allen Ländern der Welt, die in direkter Weise an diesen Wettkämpfen beteiligt sind. Hinzukommen noch Millionen von Zuschauern. Vorranging sind es vor allem die Zuschauer aus dem Gastgeberland, doch bei Olympischen Spielen kann ein globaler internationaler Wettkampftourismus beobachtet werden. Auf diese Weise sind ca. 20% der Zuschauer regelmäßig ausländische Zuschauer. Gleiches lässt sich bei den Weltmeisterschaften der olympischen Verbände beobachten. Auch diese Zuschauer begegnen sich gemeinsam, treffen sich mit den nationalen und internationalen Zuschauern. Über mehr als drei Wochen gibt es für diese Menschen die Möglichkeit der internationalen Verständigung, sofern es ihre Sprachkompetenz zulässt. Die Zusammenhänge lassen sich bei den Olympischen Spielen über mehrere Wochen und über viele unterschiedliche Sportarten hinweg beobachten. Allein bei den Olympischen Spielen von London 2012 waren es mehr als vier Millionen Menschen, die sich aus Anlass der Spiele begegnet sind.

Diese menschliche Begegnungsmöglichkeit ist die besondere Leistung, die der internationale Sport einer Welt zu bieten hat, in der es politische Konflikte gibt und in der die Einhaltung der Menschenrechte das Gebot der Stunde sein muss. Diese besondere Möglichkeit ist aber auch die politische Qualität sportlicher Großereignisse. Durch diese Möglichkeit zeichnen sich diese Ereignisse aus. Auf diese Weise kann der Sport grundsätzlich einen Beitrag zugunsten einer besseren Welt leisten, ganz gleich ob das sportliche Ereignis in einer westlichen Demokratie oder auf einem Territorium stattfindet, auf dem die Menschenrechte verletzt werden. Der humanitäre Beitrag des Sports sollte nicht überschätzt werden. Seine Wirkung kann möglicherweise äußerst kurzfristig sein. Dies ist jedoch nicht dem Sport anzulasten. Den Einhalt der Menschenrechte und die Sicherung des Friedens ist die ureigene Aufgabe der Politik. Der Sport muss und darf sich nicht an dieser Aufgabe messen lassen. Wenn er dabei jedoch einen hilfreichen Beitrag leistet so ist es in jeder Hinsicht wünschenswert.

Verfasst: 17.03.2014