Leistungssportreform in Deutschland – ein selbstreflexiver Lernprozess?

Sportliche Erfolge lassen sich meistens nicht durch Wunder erklären. Sie resultieren vielmehr aus einem glücklichen Zusammenspiel vielseitiger Bedingungsfaktoren: Talent, hartes Training, guter Trainer, Wettkampfhärte, mentale Stärke und ein positives Trainingsumfeld sind dabei unter anderem zu erwähnen. Dies gilt auch für den herausragenden olympischen Erfolg des Gastgebers der Olympischen Spiele in London 2012. Die Leistungssportnation Großbritannien hatte 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta ihr Waterloo erlebt. Nicht einmal unter den ersten zwanzig Nationen konnte sich Großbritannien damals platzieren. Für das Mutterland des modernen Sports war dies eine nationale Katastrophe. Die miserablen Leistungen der Athletinnen und Athleten hatten eine radikale Reform der britischen Sportpolitik zur Folge. In einem sogenannten „World Class Performance Programme“ wurden äußerst anspruchsvolle Ziele für Athleten, Trainer und Funktionäre definiert. Das Führungspersonal wurde in mehreren nationalen Steuerungsorganisationen ausgetauscht, Experten wurden aus dem Ausland angeworben, neue organisatorische Strukturen wurden geschaffen, internationales Trainer Know-how wurde eingekauft, Eliteschulen des Sports und zwölf High-Performance-Center  wurden eingerichtet, das nationale Institut für Leistungssport wurde in Sheffield gegründet und die Sportuniversität von Loughborough wurde mit neuen Aufgaben versehen. Der Staat stellte über die Einnahmen der britischen Lotterie neue finanzielle Mittel zur Verfügung und UK-Sports steuerte mit straffen Instrumenten die Leistungsentwicklung in den olympischen Sportarten. London 2012 war die unmittelbare Belohnung für einen systematisch geplanten Weg. Großbritannien hat sich als lernfähig und kreativ zugleich erwiesen, war offen und außenorientiert und war sich nicht zu schade von Gegnern das Beste zu übernehmen.

Wenn nun in Deutschland seit mehreren Jahren Diskussionen über eine notwendige Leistungssportreform geführt werden, um den deutschen Hochleistungssport anschlussfähig zur Weltspitze zu machen, so ist der von Großbritannien eingeschlagene Weg durchaus ein nachahmenswertes Model. Aber auch  der Blick auf andere führende Leistungssportnationen lohnt sich. „Best practice“-Beispiele lassen sich aus einer globalen Perspektive nahezu in der ganzen Welt finden.

Auch in Deutschland ist deshalb nun in einigen Personalstrukturen des Leistungssports dringend ein Führungswechsel angebracht. Lernfähigkeit und kreatives Handeln müssen das vorhandene und das neue Personal auszeichnen. Auch in Deutschland müssen neue Finanzierungsquellen zugunsten des Hochleistungssports erschlossen werden. Langfristige Sponsoringpartnerschaften sind zu finden und der Staat muss sich der Frage stellen, was ihm ein erfolgreiches Leistungssportsystem in Deutschland wert ist. Ein Masterplan für das ungelöste Trainernachwuchsproblem müsste dabei höchste Priorität erhalten. Eine kommunikative Lehr-Lern-Onlineplattform für die Trainer müsste schnellstens eine Selbstverständlichkeit darstellen. Sportartspezifische Lösungen für das notwendige Höchstleistungstraining der Athletinnen und Athleten sind zu finden und die soziale Absicherung der Olympiakandidaten während ihrer Doppelkarriere bedarf dringend einer Reform. Ein „weiter so“ verbietet sich angesichts dieser Herausforderungen von selbst.

PotAS als angeblich neues Steuerungsinstrument mag umstritten sein. Die Operationalisierung einiger Steuerungskriterien erscheint für manchen Kritiker eher als eine bürokratische Übersteuerung, als das sie nachvollziehbaren wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. Der Aufwand von PotAS steht möglicherweise auch nicht in einem sinnvollen Zusammenhang zum erwarteten Nutzen. Ein kriterienorientiertes, transparentes Steuerungssystem für die staatliche Förderung des Spitzensports ist für ein demokratisches Sportsystem jedoch unverzichtbar.

Eine mehrjährige Erprobung hat deshalb das vorgelegte neue Modell zumindest verdient. Im Vergleich zu früherem „Hofherrengehabe“, bei dem ein Vergabesystem mit Nepotismus-Charakter dominierte, ist dieses neue Steuerungsinstrument gewiss gerechter und auch transparenter.

Zu häufig ist auch die bislang vorgetragene Kritik gegenüber der geplanten Leistungssportreform von Eigeninteressen geprägt und mancher Kritiker müsste aufgefordert werden, anstelle einer redundanten Kritik, die meist inhaltslos ist, ein eigenes Konzept vorzulegen. Man müsste dann wohl sehr schnell erkennen, dass nur wenige der Kritiker wirklich eine Ahnung von den zu lösenden Problemen haben und dass ihre angeblich neuen Vorschläge bereits in der Vergangenheit längst ausreichend diskutiert wurden.

Für gelungene Reformen ist es üblich, dass es angesichts der angestrebten veränderten Verhältnisse immer neben Gewinnern auch Verlierer gibt. Genau dies muss in der geplanten Reform gewollt sein. Wer eine angebliche „win-win-Situation“ vorgibt, unterläuft den eigentlichen Sinn der Reform. Zu große Kader sind zu kürzen, wenn sie über einen längeren Zeitraum bei internationalen Wettbewerben keine Erfolge erzielt haben. Erfolglose Trainer müssen durch jüngere Trainer und hoffentlich auch besser ausgebildete Trainer ersetzt werden. Voraussetzung hierzu ist allerdings, dass es ein tragfähiges soziales Netz für all jene gibt, die nicht mehr den gesetzten Leistungserwartungen entsprechen können. Die zukünftigen Förderungskonzepte sollten an den spezifischen internationalen Bedingungen der jeweiligen Sportart orientiert sein. Ist in einigen olympischen Sportarten eine nationale Fokussierung des Trainings wünschenswert, so sind andere Sportarten auf eine regionale Vielfalt angewiesen. Eine ähnliche Differenzierung ist für manche Disziplinen innerhalb einer Sportart ebenfalls notwendig. Unterschiedliche Trainingserfordernisse gegeneinander auszuspielen ist dabei wenig sinnvoll. Entscheidend ist, dass man für die Athleten mit ihren Trainern spezifische und dennoch optimale Trainings- und Wettkampfbedingungen findet.

Gute und gelungene Reformen zeichnen sich besonders dadurch aus, dass es in ihnen besondere Räume zur Selbstreflexion gibt. Gute Reformen sind geprägt von einem ständigen Prozess des Weiterlernens und werden nicht endlich definiert. In gewissem Sinne haben sie auch keinen zeitlich fixierten Anfang und schon gar kein verbindlich definiertes Ende. Die öffentliche Diskussion über die sich derzeit in Deutschland ereignende Leistungssportreform ist jedoch genau vom Gegenteil geprägt. London 2012 war angeblich der Startpunkt der Reform. Mit Abstimmungen im Parlament des Sports und mit den Entscheidungen der Bundesregierung glaubte man, die Reform verbindlich zu terminieren. Und das Ergebnis der Reform soll bei den nächsten sportlichen Großereignissen überprüft werden. Auf diese Weise wird der derzeit ereignenden Leistungssportreform eine Bedeutung zugemessen, der diese Reform in jeder Hinsicht nicht gerecht werden kann. Reichweite und Ausmaß der Reform werden maßlos überschätzt. Den Beteiligten an dieser Reform kann nur empfohlen werden, dass sie die Reformarbeit als alltägliche Arbeit einschätzen, ihr jeden dramatischen Charakter nehmen und auch der Öffentlichkeit klarmachen, dass nur ein ständiger Wandel im Leistungssportsystem unserer Gesellschaft deren Erfolg auf Dauer sichern kann.

Verfasst: 06.08.2018