Für Politiker und Funktionäre des Sports ist die Aussage, dass der Sport ein Spiegel der Gesellschaft sei, längst zum geflügelten Wort geworden. Ohne Zweifel trifft es zu, dass sich in der Welt des Sports manches Problem unserer Gesellschaft widerspiegelt und umgekehrt der Sport mit seinen Problemen auf die Gesellschaft einwirkt. Mit mancher Veränderung in unserer Gesellschaft scheint sich jedoch der Sport auch schwer zu tun. Er kann dann gar nicht oder erst in zeitlicher Verzögerung darauf reagieren, oft weiß er auch gar nicht, wie er mit solchen Veränderungen umgehen soll. Die Geschlechterfrage scheint ein derartiges Problem zu sein.
Wurde der Sport zunächst vorrangig von jungen Männern betrieben, hat er seinen Aufstieg im 20. Jahrhundert vor allem der Beteiligung von Frauen zu verdanken. Was das Alter betrifft, hat der Sport längst alle Altersgruppen erreicht. Sport für Kinder im Kindergarten, Sport für Jugendliche bei Jugendmeisterschaften, Sport für Erwachsene, Sport für Senioren bis hin zu Weltmeisterschaften der Veteranen bei denen 90-Jährige um Medaillen kämpfen – dies macht deutlich, dass eine Altersfrage für den organisierten Wettkampfsport nicht besteht.
Ende des 20. Jahrhunderts sind außerdem neue Wettkampfformen hinzugekommen. Sportmeisterschaften für Schwule und Lesben sind eben so selbstverständlich geworden, wie noch in den 20er Jahren desselben Jahrhunderts Wettkämpfe für Arbeitersportler und bürgerliche Sportler zu unterscheiden waren. Letztere gehören der Vergangenheit an. Wettkämpfe, bei denen die Teilnehmer sich durch ihre Religionsüberzeugung unterscheiden, scheinen noch immer eine stabile Nische darzustellen. Islamische Wettkampfspiele, die Makkabiade für die jüdische Glaubensgemeinschaft, Wettkämpfe für Protestanten bei Eichenkreuzmeisterschaften oder für Katholiken, in Deutschland ausgerichtet von der Deutschen Jugendkraft, finden regelmäßig statt.
Eine besondere Bedeutung haben zum Ende des 20. Jahrhunderts und mit Beginn des 21. Jahrhunderts die internationalen Wettkämpfe für Behinderte erlangt. Heute haben die Paralympics weltweite Bedeutung und können mit ihren eigenen Olympischen Spielen massenmediale Aufmerksamkeit erregen. In vielfältiger Weise werden dabei Behindertenklassen unterschieden. Beispielhaft können diese Klassen darauf hinweisen, dass, wo immer heute der moderne Sport als Wettkampfsport durchgeführt wird, man an einem fairen und gerechten Wettkampf interessiert ist. Gleiche Chancen für alle teilnehmenden Athleten ist dabei die herausragende Maxime. Das Befolgen der Regeln wird bei den Wettkämpfen überwacht und der Regelverstoß wird geahndet.
Die kulturelle Vielfalt des sportlichen Wettbewerbs, wie sie heute existiert, ist bemerkenswert und sie kann als eine besondere Errungenschaft des modernen Sports gedeutet werden. Diese Errungenschaft ist jedoch immer auch gefährdet. Angesichts der wachsenden Bedeutung des Sieges in den einzelnen Wettbewerben, die vorrangig mit einer umfassenden Kommerzialisierung des modernen Sports zusammenhängt, ist die immer größer gewordene Gefahr des Regelverstoßes unübersehbar. Betrug und Manipulation sind mit dem Wettkampfsport eng verbunden. Die Möglichkeit, Regeln zu befolgen, ist leider auch an die Möglichkeit gebunden, dass gegen Regeln verstoßen werden kann.
Eher unwahrscheinlich ist, dass bei einer Makkabiade Christen teilnehmen, die sich als Juden ausgeben. Gleiches gilt für die Wettkämpfe der Moslems und der Christen. Immer häufiger ist es jedoch möglich, dass bei Jugendwettbewerben Teilnehmer erwischt werden, die ein falsches Alter angegeben haben und dass sich bei Frauenwettbewerben Männer eingeschlichen haben, um auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit eines Sieges zu erhöhen. Dass sich Frauen hingegen bei Männerwettbewerben einschleichen ist eher unwahrscheinlich. Interessant ist aber, dass es im Sport auch Wettbewerbe gibt, bei denen Männer und Frauen gemeinsam teilnehmen. Für manche Sportart stellt sich deshalb mittlerweile die Frage, ob ihre bisherige Trennung der Geschlechter in der weiteren Zukunft fortgeführt werden soll. In einer Sportart wie Schach ist es gewiss nicht sinnvoll für Frauen und Männer eigene Wettbewerbe zu organisieren.
Was geschieht jedoch, wenn Menschen am Sport teilnehmen möchten, die weder Frau noch Mann oder gar beides sind? Was wäre die Konsequenz für den organisierten Wettkampfsport, wenn man neben Männern und Frauen von einem „dritten Geschlecht“ oder gar mehreren Geschlechtern zu sprechen hätte, die an die Tür des internationalen Sports klopfen? Nicht nur die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin im Jahr 2009 hat diese Frage aufgeworfen. Das Problem der Intersexualität gibt es seit Jahrzehnten im internationalen Hochleistungssport, sämtliche Sportarten können davon betroffen sein, und es ist nicht ein Problem einer bestimmten Ethnie, wie vieler Orts angenommen wurde. Aus anthropologischer Sicht können davon alle uns bekannten menschlichen Gesellschaften betroffen sein. Schon seit längerer Zeit haben Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass die Zahl jener Geburten steigt, bei denen zum Zeitpunkt der Geburt eine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht nicht möglich ist. Geboren werden dabei sogenannte Hermaphrodite bzw. Intersexuelle, die als drittes Geschlecht betrachtet werden können. In der Alltagssprache werden solche Menschen als Zwitter bezeichnet.
Dabei wird nicht jenes Phänomen gemeint, das unter Evolutionsgesichtspunkten für den Sport nicht weniger von Interesse sein könnte. Schon seit längerer Zeit wird davon ausgegangen, dass es zu einer Angleichung der Geschlechter kommt, was mit dem Begriff der Androgynität erfasst wird. Dieser Wandel zeigt sich uns im Habitus von Männern und Frauen, in deren Persönlichkeit und in den sie prägenden Handlungsmustern, die sich gemäß dieser Beobachtung immer mehr angleichen.
Gemeint ist dabei auch nicht die Transsexualität, bei der mittels gezielter medizinischer Eingriffe eine Geschlechtsumwandlung vorgenommen wird.
Die Annahme von einem dritten Geschlecht beruht hingegen auf Sachverhalten, die sich erst durch genetische Analysen ergeben. Neben dem XY-Genotyp und dem XX-Genotyp muss demnach mindestens ein weiterer Genotyp unterschieden werden, der weder als Mann noch als Frau bezeichnet werden kann. In der Praxis der Geburt von Menschen wurde und wird dieses Problem in relativ eindeutiger und einfacher Weise gelöst. Das neugeborene Kind wird bei Geburt anhand der äußerlich erkennbaren Geschlechtsmerkmale von einem Arzt und einer Hebamme entweder dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zugeordnet, eine Zuordnung zur Gruppe der Zwitter ist aus rechtlichen Gründen nicht erlaubt. Mit der Entscheidung der beurteilenden Experten erfolgt ein Eintrag in die Geburtsurkunde und damit sind die Weichen für ein Kind als Mädchen oder für ein Kind als Junge gestellt. Entsprechend wird das Kind von der Umwelt wahrgenommen, insbesondere werden die Eltern gemäß dieser Entscheidung den nunmehr erfolgenden Sozialisationsprozess prägen.
Mit dieser juristischen Lösung des Problems ist es naheliegend, dass Mädchen und Jungen den Weg in sportliche Wettkämpfe finden und sich mit Mädchen und Jungen in Wettkampf- und Alterklassen messen, obgleich sie gemäß der Erkenntnisse der Wissenschaft weder Mädchen noch Jungen sind. Auf diese Weise wird das Prinzip der Chancengleichheit in Frage gestellt, die durch die Trennung der Geschlechter in den sportlichen Wettkämpfen gewährt sein soll. Diese Annahme ist allerdings an die Voraussetzung gebunden, dass Menschen mit Intersexualität im Vergleich mit dem jeweils anderen Geschlecht über einen Wettkampfvorteil in den Leistungsanforderungen einer bestimmten Sportart verfügen. Dieser Annahme liegen beispielsweise die Proteste gegen die 800m Siegerin bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin zugrunde. Auf der Grundlage dieser Proteste veranlassten der medizinische Delegierte der IAAF und dessen medizinische Kommission des zuständigen Weltverbandes wissenschaftliche Untersuchungen zur Bestimmung des Geschlechts der entsprechenden Athletin.
Angesichts der neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Intersexualität stellt sich allerdings die Frage nach der möglichen Wettkampfteilnahme von Intersexuellen. Sollen oder müssen Intersexuelle in das Wettkampfsystem der bestehenden Geschlechter integriert werden, um sich nicht dem Vorwurf der Diskriminierung auszusetzen? Wenn ja, in welches? Oder soll es für Intersexuelle eigene Wettkämpfe geben? Stimmen die empirischen wissenschaftlichen Befunde, die es diesbezüglich gibt, ist anzunehmen, dass in allen Gesellschaften dieser Welt die Geburtenzahlen in jüngster Zeit angestiegen sind, bei denen eine eindeutige Geschlechtszuweisung nicht möglich war.Für Deutschland wurde im Jahr 2017 davon ausgegangen, dass sich 100.000 Menschen durch dieses Merkmal auszeichnen. Die Häufigkeit von Intersexualität wird jedoch unterschiedlich geschätzt.
Ganz gleich welche Reichweite dieses Problem derzeit hat und zukünftig haben wird, bedarf die Frage der Intersexualität einer grundsätzlichen Diskussion durch die Sportorganisationen. Die im Jahr 1999 erfolgte Abschaffung der sogenannten Geschlechtsüberprüfung bei Olympischen Spielen und damit bei allen Weltmeisterschaften war angesichts der Diskriminierung der Frau längst überfällig. Dies war eine notwendige und richtige Entscheidung. Mit dieser sportpolitischen Entscheidung wurde dem Anspruch der Gleichbehandlung von Mann und Frau entsprochen. Nun aber geht es um den Anspruch der Gleichbehandlung jener Menschen, die keinem der beiden Geschlechter zugeordnet werden können und dies möglicherweise auch nicht wollen. Diese Frage, so ist zu vermuten, lässt sich nicht wissenschaftlich beantworten. Sie lässt sich auch nicht juristisch klären, denn unter juristischen Gesichtspunkten hat die große Mehrheit der Staaten sich entschieden, dass es in einer Staatsgesellschaft nur Angehörige männlichen und weiblichen Geschlechts geben darf und bei dieser klassischen Eingruppierung soll es vorrangig nur auf das äußere Erscheinungsbild ankommen. Allerdings haben höchste Gerichte in Australien und Indien und 2017 auch das Deutsche Bundesverfassungsgericht die Existenz eines dritten Geschlechts anerkannt. Auch in Kanada ist ein dritter Geschlechtseintrag („X“) in Pässen zulässig. Immer mehr Länder folgen diesem Weg, so unter anderem Dänemark, Kolumbien, Argentinien, Malta, Pakistan, Nepal und Neuseeland. Die Natur des Menschen steht hierzu offensichtlich im Widerspruch, und die Verantwortlichen des Sports müssen die Frage beantworten, wie sie mit der Natur des Menschen umgehen und wie offen sie mit ihren Sportangeboten für jeden Mann und für jede Frau und darüber hinaus für jene Menschen sind, die weder Mann noch Frau sind. Bei der Beantwortung wird er den in der EU-Grundrechte-Charta niedergelegten Anspruch Intersexueller auf Gleichbehandlung genauso wie den Anspruch des Sports auf fairen Leistungsvergleich berücksichtigen und in einen Ausgleich bringen müssen.
letzte Überarbeitung: 25.04.2018
Erstveröffentlichung: In: Digel, H. (2011). Fair Play. Schorndorf: Hofmann.