Handball – ein paradoxes Faszinosum

Handball war und ist meine Lieblingssportart. Doch gleichzeitig frage ich mich immer häufiger: Ist dies noch meine Sportart, die ich mit so großer Begeisterung betrieben und erlebt habe? In der D-Jugend fing alles an, motiviert durch einen faszinierenden Trainer, gab es nur ein Ziel: Samstag für Samstag sich mit den besten der Gleichaltrigen im Handball zu messen. Jedes Training war dabei ersehnt, jedes Turnier war willkommen. Aus der D-Jugend wurde eine C-Jugendmannschaft, die B-Jugend folgte und in der A-Jugend konnte man sich schon überregional mit den besten Handballmannschaften bei internationalen Turnieren messen. Unvergesslich das jährliche Turnier in Wangen im Allgäu, wo eine ganze Kleinstadt sich dem Handballsport verschrieben hatte. Dem A-Jugend Alter entwachsen, gab es nur ein Ziel, über die 1B die erste Mannschaft zu erreichen. Ihr gehörten mehrere Nationalspieler an, wobei unser Spielertrainer, der gleichzeitig unter Bundestrainer Fick einer der beliebtesten deutschen Nationalspieler war, wohl die herausragendste Persönlichkeit war, die mir im Handballsport begegnet ist.

Während meiner Zeit bei den Gebirgsjägern war die Brigadeauswahl ein wichtiges Leistungsziel und während des Studiums an der Universität Tübingen kämpfte unsere Unimannschaft mehrfach um den Titel eines deutschen Hochschulmeisters. Als Spielertrainer war es mir vergönnt eine Bezirksligamannschaft drei Klassen höher zu führen und an der Universität Tübingen war es während meiner beruflichen Tätigkeit naheliegend, dass ich mehrere Jahre auch für die Handballausbildung und das Schwerpunktfach Handball verantwortlich zeichnete. Am Ende meiner aktiven Karriere stand das Spiel in der AH-Mannschaft meines alten Vereins. Der Handballsport hat mich ein Leben lang begleitet. In meinen Forschungsarbeiten nahm der Handballsport einen besonderen Platz ein. In jüngster Zeit war es für mich besonders ehrenvoll, dass ich auch dem internationalen Handballverband und dem deutschen Handballverband aus einer wissenschaftlichen Perspektive beraten durfte.

Was war und ist dabei für mich das besondere des Handballspiels? Spielt man im Rückraum, wie es für mich der Fall war, so sind es die hohen Sprünge, ihre vielfältigen Wurfvariationen, das gekonnte Anspiel der Kreisläufer, der klug abgestimmte Wechsel der Positionen, die richtigen Laufwege. Für den Kreisläufer sind es die schnellen Absetzbewegungen, die Körpertäuschungen, die variablen Würfe, der schnelle Tempogegenstoß. Es sind aber auch Wurftricks in der Luft, allen voran der Kempatrick, und Lobs, die den Torhüter schlecht aussehen lassen. Spektakulär waren und sind auch die Seitfallwürfe aus dem Rückraum und die verschiedenen Flug- und Wurfvarianten der Außenspieler. Vor allem ist es aber das Zusammenspiel zwischen dem Torwart und den sechs Feldspielern, das im Angriff und in der Abwehr mannschaftliche Leistungen ermöglicht, die durch die taktische Kooperation aller Beteiligten zustande kommen. Zur Faszination des Handballs gehört ohne Zweifel auch der Torwart, der aus der Sicht aller Feldspieler eigentlich nur bemitleidenswert ist .Das geflügelte Wort, das für uns den Torwart kennzeichnen sollte, war die „Macke“, die dieser angeblich haben muss, wenn man sich freiwillig derartigen Gefahren aussetzt, wie dies bei einem Torwart im Leistungshandball der Fall ist. Bei Würfen aus dem Winkel stellt er sich dem Werfer mit seinem ganzen Körper frontal entgegen, ständig dem Risiko ausgesetzt, dass er von einen Wurf mit mehr als 100 Stundenkilometer Geschwindigkeit an seinem Kopf getroffen wird. Nahezu alle Torhüter, die ich kennenlernen durfte, waren besessen von ihrer Aufgabe, trainierten freiwillig über das Pflichtsoll hinaus und durch entsprechende Spielsituationen konnten sie sich zu Leistungen stimulieren, die überdurchschnittlich und meist auch spektakulär waren. Nach dem Spiel waren diese Athleten meist eher die ruhigen, die nachdenklichen, die besonnenen Athleten, die nicht selten auch zu einer fundierten Spielanalyse in der Lage waren, die für eine Mannschaft zur Vorbereitung der nächsten Spiele sehr hilfreich sein konnten.

Während der diesjährigen Handballweltmeisterschaft in Deutschland und Dänemark konnte man all diese besonderen Merkmale des modernen Handballsports hautnah erleben. Im Tor war ein Andreas Wolf zu bewundern, der mit der Fußspitze im Lattenkreuz, d.h. mit einem vollen Spagat einen nahezu unhaltbaren Wurf des Gegners abwehrte, der mit seiner sturen Konzentration jeden Sieben-Meter-Schützen zu verunsichern wusste, und der der deutschen Nationalmannschaft mit einer Parade nach der anderen einen äußerst wichtigen psychologischen Rückhalt gab. Im Rückraum war das Comeback von Strobel zu bewundern, dessen Fähigkeit zum peripheren Sehen bewundernswert ist. Sein schnelles, oft sehr riskantes und doch äußerst sicheres Zuspiel sucht seinesgleichen. Gleichzeitig war er immer auch in der Lage in entscheidenden Situationen den gelungenen Torwurf zu wagen. Uwe Gensheimer ist ohne Zweifel der beste Linksaußen, den man in der Weltspitze derzeit beobachten kann. Seine akrobatischen Würfe, insbesondere die geschnittenen Bälle, seine Siebenmeter, aber auch seine Rolle als Mannschaftskapitän waren einmal mehr bewundernswert. Gekonnt war auch das taktische Spiel, der Einsatz eingeübter Spielzüge zum richtigen Zeitpunkt, das Loslassen zum freien Spiel und die Unterordnung aller Spieler in ein Mannschaftsgefüge, das für sie alle ein Gemeinschaftserlebnis zur Folge hatte, bei dem man sehr gerne dabei gewesen wäre. Gewiss ließen sich noch viele positive Merkmale benennen, die man bei den Spielen der teilnehmenden Nationen dieser Weltmeisterschaft beobachten konnte.

Dennoch blieb für mich ein Gefühl des Unbehagens zurück, als ich drei Spiele in einer der großartigen Arenen vor Ort beobachten konnte. Auch bei den im Fernsehen übertragenen Spielen konnte dieses Unbehagen nicht beseitigt werden. Ja, eher war das Gegenteil der Fall. Nicht zuletzt die Fernsehübertragungen von ARD und ZDF waren es, die mich nachdenklich machten über einen Handballsport, wie er uns heute präsentiert wird. Da ist zunächst und vor allem der noch immer zunehmende Chauvinismus, der bei den Spielen der jüngsten Weltmeisterschaft zu beobachten war und der sich für mich in Dänemark und Deutschland nicht nur bei den Spielen der deutschen und der dänischen Nationalmannschaft als äußerst problematisch erwiesen hat. Die nicht selten durch die Stadionsprecher animierten Aversionen stehen in großem Widerspruch zum Ideal des Fairplays. Der von einem fragwürdigen Management inszenierte Happeningcharakter führt zu einem  außergewöhnlich hohem Lärmpegel und zu einer überhitzten Atmosphäre, die beinahe jegliches distanziertes Beobachten aus einem sporttechnisch und taktischen Interesse heraus verhindert. Die kommerziell produzierte Fankultur zeichnet sich immer mehr durch Obszönitäten und Exzesse aus. Die eingespielten Schlager und Fansongs sind teilweise an Dümmlichkeit kaum zu übertreffen. Hier wiederholt sich etwas im Handball was leider auch bei allen sogenannten Events der anderen Sportarten immer häufiger zu beobachten ist.

Fraglich ist auch die Entwicklung des körperlichen Idealtypus für das Handballspiel. Eine Mannschaft, wie Mazedonien wurde von zwei Kreisläufern dominiert, die statisch auf der Halbposition mehr als 120kg Körpergewicht gegen den Gegner einsetzten. Kreuzbewegungen zwischen diesen Kreisläufern waren so gut wie gar keine zu beobachten. Die Spieler hatten allenfalls die Funktion eines Rammbocks. Dies war sicherlich eine Ausnahme, doch ein Körpergewicht von mehr als 95kg ist längst zur Normalität geworden und die durchschnittliche Körpergröße reicht bereits an zwei Meter heran. Wenn man sich erinnert, mit welchen Spielern vor 40 Jahren im Handball am Kreis gespielt wurde, dass eine durchschnittliche Körpergröße von 185cm für den Rückraum ausreichte, dass das ideale Wettkampfgewicht der Spieler noch unter 90kg lag, so wird ersichtlich, welch dramatische körperliche Entwicklung der Handballsport in den letzten Jahrzehnten genommen hat.

Der Handballsport wurde athletischer, er wurde schneller und er wurde aggressiver. Insgesamt wurde er zu einer professionellen Sportart, was nahezu tägliches Training und einen überfüllten Wettkampfkalender zur Folge hat. Die Verletzungsgefahr hat sich dabei überdurchschnittlich erhöht, der körperliche Austausch und Körperkontakt der Spieler, das Klammern, das Schieben, die Schläge ins Gesicht und auf den Körper sind angesichts dieser körperlichen Entwicklung nahezu zur Normalität geworden. Die Härte des Spiels scheint die besondere Attraktivität für die Zuschauer auszumachen. Doch als ein Freund des Handballsports fragt man sich, ob das schöne Laufspiel Handball notwendigerweise in die Liga des Raufens, des Ringens, des Boxens und des Catchens aufsteigen soll, die doch einst vom Handballsport so weit entfernt war.

Völlig unsinnig erscheint mir nach wie vor auch die neue Regelung zu sein, dass man unter Verzicht eines Torwarts mit sieben Feldspielern angreifen darf. Mehr Tore, das zeigt die Statistik, werden durch diese Regel nicht erzielt. Höhere Spielergebisse als sie heute üblich sind werden ohnehin nicht benötigt. Spiele, bei denen der Sieger weniger als 20 Tore erzielt hat, können auch heute noch durchaus attraktiv sein. Für den Zuschauer attraktivere Tore werden hingegen durch diese neue Regel gar verhindert. Vor allem wird die mögliche Leistung des Torwarts erheblich abgewertet. Würfe auf ein leeres Tor, dazu ist jeder mittelmäßige Handballspieler in der Lage. Und dem Torhüter können solche Tore schon gar nicht angelastet werden. Die Qualität der in einem Spiel erzielten Tore ist durch diese Regel unvergleichbar geworden. Denn welcher qualitative Wert soll ein einfacher Schlagwurf auf ein leeres Tor im Vergleich zu einem faszinierenden Wurf eines Uwe Gensheimers haben, der den Ball mit einem Effet um das ausgestreckte Bein eines Torhüters dreht und damit das entscheidende Tor zum Sieg seiner Mannschaft erzielt. Völlig langweilig wird ein Spiel gar, wenn eine Mannschaft grundsätzlich nur noch mit sieben Spielern angreift und damit dem Gegner immer ein offenes Tor anbietet, wie es beim Spiel der Mazedonier meist der Fall war.

Angesichts dieser Fehlentwicklungen kann es als ein Glück bezeichnet werden, dass wenigstens die Schiedsrichter darauf vorbereitet wurden, die sehr gefährlichen und unfairen Schiebe- und Stoßbewegungen im Abwehrverhalten zu ahnden. Doch nicht nur darüber muss nachgedacht werden, was in einer Abwehr gegenüber dem Gegner erlaubt ist und wie die unerlaubten Aktionen geahndet werden. Genauso notwendig wäre es, den gefährlichen und teilweise brutalen Stürmeraktionen Einhalt zu bieten. Immer häufiger sieht man Stürmer, die mit höchstem Tempo und mit vollem Krafteinsatz die gegnerische Deckung zu durchbrechen versuchen. Immer häufiger werden diese Aktionen mit einem Siebenmeter belohnt, obgleich die Entscheidung zugunsten eines Stürmerfouls angebracht wäre.

Will man die Fehlentwicklungen des modernen Handballs auf einen Nenner bringen, so ist es die immer gravierender werdende Gefährdung des Fairplayprinzips . Damit wird gleichzeitig immer auch die Schönheit des Handballspiels in Frage gestellt. Gekonnte taktische Spielzüge werden immer seltener. Alles wird dominiert vom körperlichen Einsatz. Eine auf fragliche Weise animierte und verführte Masse von Menschen bildet dabei den Rahmen für eine wenig gekonnte Inszenierung. Nicht zuletzt deshalb stellt sich für mich die Frage, ob dies noch mein Handballsport ist, den ich seit meiner Kindheit geliebt habe, den ich auch heute noch lieben möchte. Wie es für so viele Bereiche in unserer Gesellschaft gilt, ist auch dem Handball zu empfehlen, dass weniger mehr wäre, dass man sich auf all die Qualitäten rückbesinnen sollte, die der Handballsport haben kann und dass man sich vor allem dem Schutz des Prinzips des Fairplay verpflichten muss, wenn die Sportart nicht zum bloßen Spektakel verkommen soll.

Verfasst: 21.01.2019