Funktionärswelt Sport – Geschlossene Gesellschaft

Wollen Familien überleben, so sind sie auf Erneuerung angewiesen. Gleiches gilt für Sportorganisationen. Die Lehre von der Evolution biologischer Systeme gibt uns dabei eine ganze Reihe von Maximen, die für Erneuerungsprozesse beachtenswert sind. Sie zeigt uns auch, was dabei möglichst zu verhindern ist und warum es sich lohnt, dass man sich daran hält. Sind Inzestprozesse zu beobachten, so sind biologische Systeme meist nicht überlebensfähig. Sensorien zur Beobachtung der eigenen Umwelt, reger Austausch mit Beobachtern, die einen von außen sehen, und das Hereinholen von Außenpotenzialen haben sich hingegen über Jahrhunderte bewährt.

Nicht überall gelingen solche Adaptionsprozesse, und so können offene und geschlossene, innovative und in sich gekehrte Systeme unterschieden werden. Auch für menschliche Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppen kann der Unterschied zwischen offen und geschlossen bedeutsam sein. Gleiches gilt für die Organisationen des Sports. Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Vereine und Verbände als die wichtigsten Organisationen des Sports einen Wachstumsprozess vollzogen, den sie selbst zu Recht als außergewöhnlich bezeichnen können. Dieses Wachstum war vor allem auf die Innovationsfähigkeit der Organisation des Sports zurückzuführen. Der Sport wandte sich an immer mehr Menschen, konnte neue Zielgruppen, neue Völker, neue Nationen, neue Ethnien integrieren und damit auch immer wieder auf neue Expertisen und neue Ideen zurückgreifen. In diesem Prozess haben sich die Organisationen des Sports auch als konfliktfähig erwiesen. Mittlerweile, so scheint es zumindest, ist an Stelle des Wachstums eine gewisse Stagnation getreten. Die weltweite Sportbewegung wächst nur noch sehr langsam; national gibt es entweder Stillstand oder sogar Rückläufigkeit. Einige Fachverbände verlieren Mitglieder. Auch Vereine haben Schwierigkeiten, ihre Organisationsgröße zu erhalten. Angesichts dieser Entwicklung muss die Frage gestellt werden, ob diese neue Situation der Organisationen des Sports damit zusammenhängt, dass sie ihre Innovations- und Erneuerungsfähigkeit verloren haben.

Machen wir dazu beispielhaft zwei Beobachtungen: Auf nationaler Ebene ist schon seit längerer Zeit zu erkennen, dass sich die Präsidien der olympischen Fachverbände durch Erneuerungsresistenz auszeichnen. Ist ein Repräsentant einmal gewählt, so möchte er möglichst lange in seinem Amt verweilen. Präsidenten, die nach ihrer ersten Amtszeit nicht erfolgreich gewesen sind, bitten um eine zweite und scheuen nicht davor zurück, sich nach einer weiteren eher erfolglosen Amtszeit, auch für eine dritte wählen zu lassen. Nur Skandale scheinen Anlass zu sein, das Führungspersonal in den Verbänden grundlegend zu erneuern. Dass begrenzte Amtszeiten gerade unter dem Aspekt der Innovation wichtig sind, dass zu lange Amtszeiten ursächlich mit daran beteiligt sind, kein neues Führungspersonal finden zu können – das alles wird lediglich bei Verbandstagen und in Sportkongressen gefordert und diskutiert. Für die meisten olympischen Verbände bleibt dies jedoch folgenlos. Bei vielen ehrenamtlichen Funktionsträgern sind geradezu Suchttendenzen zu beobachten. Die freiwillige Beendung einer ehrenamtlichen Führungskarriere ist die Ausnahme von der Regel.

Das zweite Beispiel verweist auf die Frage, wie sich internationale Sportorganisationen, vor allem das IOC, an ihrer Spitze erneuern. Am Beispiel der FIFA mit Herrn Blatter haben wir beobachten können, dass es Generalsekretäre sind, die offensichtlich die Fähigkeit besitzen, das Kalkül der Macht zu beherrschen und bei den Mitgliedsversammlungen Mehrheiten für sich selbst zu sichern. Auf diese Weise bleibt die Macht innerhalb der Familie. Vetternwirtschaft ist das Prinzip, das der Erneuerung zu Grunde liegt. In der internationalen Leichtathletik hat nach dem Tod des Präsidenten Nebiolo dessen Stellvertreter das Amt übernommen. Beim nächsten Kongress wurde er bestätigt. Von einer Erneuerung kann auch bei diesem Beispiel keine Rede sein. In der Regel bleiben die Kandidaten bis zu jenem Zeitpunkt im Amt, an dem sie selbst entscheiden, dass sie sich nun von ihrem Vorsitz verabschieden. Doch selbst wenn sie zu einem früheren Zeitpunkt an einer Erneuerung interessiert wären, ist für alle Sportverbände selbstverständlich, dass der Nachfolger eine Person mit „Stallgeruch“ sein muss, d. h., nur solche können mit Mehrheiten rechnen, die sich als Mitglieder der so genannten „Family“ über Jahre ausgezeichnet haben.

Nicht weniger problematisch ist seit vielen Jahrzehnten der Prozess der Erneuerung im Internationalen Olympischen Komitee. Bislang waren es vor allem Ruhm, Reichtum und politisches Kalkül, die als Attribute mitzubringen waren, wollte jemand in der Olympischen Bewegung Karriere machen. Ruhm war dabei in erster Linie durch adlige Geburt oder durch olympischen Erfolg begründet. Auf Reichtum und Macht haben all jene Milliardäre, hohen Militärränge sowie Repräsentanten von Unternehmen und Politik verwiesen, die mittels solcher Qualifikationen den Weg in das IOC geschafft haben. Mittlerweile ist es mehr als offensichtlich, dass die Kriterien Ruhm, Macht und Reichtum unzureichende Auswahlkriterien für die Qualifikationen darstellen, die kompetentes Handeln im IOC auszeichnen. Als problematisch erweist sich nun, wenn Erneuerungen im IOC vorrangig über besonders erfolgreiche Olympiateilnehmer vorgenommen werden. Von nicht wenigen muss dabei durchaus begründet angenommen werden, dass sie in der einen oder anderen Weise in den umfassenden Dopingbetrug der Olympischen Bewegung während ihrer aktiven Karriere eingebunden waren. Als gravierender erscheint jedoch der Sachverhalt, dass viele dieser Olympiateilnehmer aus naheliegenden Gründen nur über eine unzureichende Bildung verfügen. Oft haben sie in ihrem Leben nichts anderes gemacht, als die auf hohem Niveau von ihnen ausgeübte Sportart als Unterhaltungsware zu begreifen und anzubieten. Nicht zuletzt deshalb ist schon seit längerer Zeit in den Gremien und Kommissionen des internationalen Sports ein intellektueller Mangel zu beobachten, der nichts mit jenem Geist einer Führungselite zu tun hat, wie ihn noch Pierre de Coubertin unter dem Aspekt der Auslese vor Augen hatte. Für eine positive Weiterentwicklung des internationalen Sports und der Olympischen Bewegung erweist sich eine solche Personalauswahl als kontraproduktiv.

Die Tendenz zur geschlossenen Gesellschaft des internationalen und nationalen Sports ist angesichts solcher Entwicklungen offensichtlich. Der Begriff der „Familie“ wird als ideologische Leerhülse gepflegt, um auf diese Weise sorgfältig das Außen von dem Innen zu trennen. Wenn es in der Familie selbst ein „enfant terrible“ gibt, so wird dieses sehr schnell isoliert. Man entledigt sich deshalb entschieden und äußerst gezielt aller Kritiker. Davon betroffen sind die kleinen kritischen Minderheiten innerhalb der Sportverbände, die oft nur noch hinter vorgehaltener Hand Kritik äußern und damit zu jener Atmosphäre beitragen, die vor allem von Angst und Feigheit geprägt ist. Betroffen sind aber auch außenstehende Kritiker. Journalisten, die ihre distanzierte Beobachtungsaufgabe erfüllen, werden immer häufiger ausgegrenzt, Jasager in ihrer Devotheit hingegen gewürdigt, belohnt und bevorzugt.

Die Schließung des Systems des Sports, die bei vielen Anlässen zu beobachtet ist, zeigt mittlerweile längst ihre Folgen. Manche Sportorganisation ist beratungsresistent geworden; Harmonie geht zu Lasten der Fähigkeit zur Selbstkritik, ein Mangel an Kreativität ist offensichtlich. Für die weitere Entwicklung des Sports kann sich dies als gefährlich erweisen. Will man die Geschlossenheit der Organisationen des Sports überwinden, so bedarf es neuer Ideen. Neue Ziele sind zu klären, Prioritätensetzungen sind zu überprüfen und neue Kommunikationswege zu erschließen. Die zukünftigen Vermarktungsprozesse müssen sehr viel sorgfältiger gesteuert werden als in der Vergangenheit. Betrugsdelikte und Korruptionen müssen konsequent bekämpft und die massenmediale Vereinnahmung auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden. Dabei wäre es gewiss nicht falsch, sich daran zu erinnern, dass die eigentlichen, in der olympischen Charta festgeschriebenen Werte auch heute noch modern und gültig sind.

verfasst: 19.11.2019