„Der Hollywood-Star Leonardo DiCaprio ist zur Fußball-WM nach Brasilien gereist. Der US-Schauspieler traf mit 21 Freunden in Rio de Janeiro ein und bezog ein Quartier auf einer Luxus-Yacht. DiCaprio und seine Entourage logieren auf der Topras, die Scheich Mansour Bin Zayed Al Nahyan aus Abu Dhabi gehört – dem Besitzer des britischen Fußballclubs Manchester City. Die Yacht ist 147m lang und hat unter anderem Schwimmbad, Fitnessstudio, Hubschrauberlandeplatz und Kino.“ „Denn niemand siegt allein, weder im Sport noch im Leben“, so mahnte in derselben Zeitung Papst Franziskus die Fußballspieler vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Mit diesen zwei Zitaten lässt sich stellvertretend das Interesse am Fußball im Allgemeinen und an der Fußball-Weltmeisterschaft im Speziellen kennzeichnen. Am Fußball ist jeder Mann und jede Frau interessiert, der Fußball schafft es, dass manche seriösen Tageszeitungen mehr als die Hälfte ihres redaktionellen Umfanges für dessen Berichterstattung zur Verfügung stellen. Der Fußball findet von Morgens bis Abends im Radio, im Fernsehen und im Internet statt. Der Fußball ist omnipräsent. Er wirkt wie eine Droge auf „die da oben“ in gleicher Weise wie auf jene, die sich am Rande der Gesellschaft befinden. Dabei hat der Fußballsport längst den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Weil er schon immer präsent ist, kann man sich eine andere Situation nicht mehr vorstellen. Die Präsenz muss noch umfassender werden, wenngleich sie schon alle Grenzen überschritten hat. Der Fußball ist imperial und dessen Spitzenfunktionäre sind dessen Imperatoren. Fußball wird diktiert und zu Recht wurde deshalb Blatter als Diktator gesehen.
Imperien neigen dazu krankhafte Züge zu entwickeln und genau dies ist schon seit längerer Zeit im modernen Fußball der Fall. Wie selbstverständlich beansprucht der Fußball einen Monat eines Jahres, um das jeweils größte Fußballereignis des Jahres mit einer allumfassenden Dominanz auszutragen, wie dies für kein anderes Kulturgut der Welt möglich und sinnvoll wäre. Während dieses Fußballmonats stehen die Räder still, die Wirtschaft lahmt, die Ausbildung von Schülern und Studenten wird beeinträchtigt, die Interessen von Minderheiten, die am Fußball nicht interessiert sind, werden erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Der volkswirtschaftliche Schaden, der allein durch diese imperiale Gehabe entsteht wird von niemandem berechnet, er wird vielmehr schön geredet und selbst wissenschaftliche Eliten bemühen sich, dass Fußballspiel philosophisch zu überhöhen, die Fußball-Weltmeisterschaft zu stilisieren und die Fußballspieler in das Reich der Göttlichen zu überführen.
Doch damit nicht genug. Fußball findet nämlich das ganze Jahr über statt. Auf allen Kanälen werden täglich Fußballübertragungen angeboten. Die Verantwortlichen des Fernsehens rechtfertigen ihr Programm damit, dass sie das Interesse der Zuschauer zu ihrem alleinigen Selektionskriterium erheben. Fußball ist die beliebteste Fernsehsportart und weil sie beliebt ist, wird dem Zuschauer immer noch mehr Fußball geboten und dadurch wird der Fußball noch beliebter als er es ohnehin schon ist. Auch hier erkennt man das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung. Gab es noch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vorsichtige, in leisen Tönen vorgetragene Kritik an dieser Entwicklung des Fußballsports, so ist er heute nahezu ausschließlich von Claqueuren umgeben. Die Claqueure kommen wie DiCaprio aus dem Filmgeschäft, aus der Kunst, aus der Wissenschaft und aus der Literatur, sie kommen vor allem aber auch aus der Politik und der Wirtschaft. Und der größte Claqueur sind die Massenmedien selbst, die in ihrer Scheinheiligkeit wohl immer wieder auf Auswüchse hinweisen und auf Fehlentwicklungen aufmerksam machen, gleichzeitig aber von dieser dominanten fußballerischen Massenkultur profitieren und sie selbst zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Den Fußball von heute trennen Welten von jenem Fußball, der für die Industriearbeiterschaft des 20. Jahrhunderts noch eine zentrale Rolle spielte. Die FIFA-Funktionäre und die Fußballprofis bewegen sich in einer Welt des Luxus, die immer häufiger dekadente Züge aufweist. Der 5-Sterne-Luxus wird von WM zu WM gesteigert, die Ansprüche sind ins Unermessliche gewachsen. Dies gilt für die Spieler gleichermaßen wie für die Trainer und Funktionäre. Die Architektur der Stadien gleicht dem imperialen Gehabe von Königen und Fürsten, die sich mit ihren Palästen gegenüber dem einfachen Volk darzustellen wissen. „Ihr da oben“, „wir da unten“ wird bei den Fußballspielen auf eine immer unverschämtere Weise zelebriert. Im Grunde genommen stellt sich eine Fußball-WM als ein Festival kapitalistischer Ausbeutung dar. Ohne Scharm wird auf dem Rücken des Steuerzahlers eine Party gefeiert, die enorme öffentliche Kosten verursacht und damit den Steuerzahler auf eine verantwortungslose Weise belastet. Gleichzeitig werden von den beteiligten Fußballverbänden Gewinne erwirtschaftet, die ins Unermessliche reichen. Dies alles wird von Politikern goutiert und toleriert und letztlich auch politisch ermöglicht, ohne dass auch nur in Ansätzen eine wirkungsvolle Opposition zu erkennen wäre. Der Fußball hat als Droge eine allumfassende Wirkung. Politiker hängen an dieser Droge und haben in gleicherweise Angst vor den Entzugserscheinungen, wie die neureichen Fans in den Logen der Stadionpaläste. Die Wirtschaft hat sich auf diese Droge eingelassen, weil damit enorme Gewinne erzielt werden können. Der kleine Mann glaubt diese Droge zu benötigen, weil sie ihm eine Flucht aus dem Alltag ermöglicht. Der Schaden, den diese Droge in unserer Gesellschaft anrichtet ist erheblich.
Für eine gemeinsame Sportkultur, die sich durch ihre Vielfalt auszeichnet, hat die Dominanz des Fußballsports schon seit längerer Zeit eine verheerende Wirkung. Fußball steht immer mehr für den gesamten Sport. Er ist der reichste Sport und er ist längst schon in der Lage andere Sportarten zu alimentieren. Alle anderen Sportarten werden deshalb immer häufiger zu Randsportarten degradiert, vom Sponsorenkuchen erhalten sie allenfalls die Krümel, in den Massenmedien, insbesondere im Fernsehen und im Internet sind sie nur am Rande präsent oder werden gar völlig vernachlässigt. Für unsere Kultur im Allgemeinen ist die Dominanz des Fußballs nicht weniger schädlich. Welches Konzert, welches Theaterstück, welche Lesung oder welche Diskussionsveranstaltung kann neben dem Fußball mit Resonanz rechnen, wenn die Aufmerksamkeit unserer Gesellschaft über mehrere Wochen durch den Fußball in Anspruch genommen wird. Wie dominant in diesem Zusammenhang der Fußball geworden ist, wird nicht zuletzt im Feuilleton der besten Tageszeitungen Deutschlands wiedergespiegelt. Fußball wird nicht nur im Sportteil überhöht, eine ganz besondere Adelung erhält er wenn Philosophen, Literaten, Soziologen und sonstige Fans aus dem Bereich der Wissenschaft sich mit dem Fußball beschäftigen. Die intellektuellen Lobeshymnen sind dabei meist nicht nur peinlich, sie sind vielmehr auch Anbiederung und nicht selten ökonomischen Interessen geschuldet. Die literarische Qualität des Fußball-Feuilletons ist meist höchst bescheiden, auch wenn sich Gumprechts oder Karaseks daran beteiligen. Macht die Droge Fußball den Fan süchtig so ist meist sein Denken und Handeln beeinträchtigt. Von süchtigen Fans sind nüchterne Analysen nicht zu erwarten.
Eigentlich könnte man diesen Erscheinungsformen und Entwicklungen ganz gelassen gegenüberstehen. Sämtliche Imperien neigten zur Dekadenz und nicht wenige sind wegen ihrer Dekadenz zugrunde gegangen. Es gibt Anzeichen, dass dies für den modernen Fußball ebenfalls der Falls sein könnte. Dies könnte jedoch noch sehr lange dauern und Drogen lassen sich nur mit größter Mühe aus der Welt schaffen. Ein Fußballsport ohne Suchtcharakter ist dennoch denkbar, es hat ihn in den früheren Zeiten gegeben und es gibt ihn auch noch heute. Die Frage ist nur, ob wir ihn auch wirklich wünschen und wollen und ob wir bereit sind uns in den schmerzhaften Entzug zu begeben, an dessen Ende jedoch ein schönerer Fußballsport stehen könnte, als er uns heute vorgeführt wird.
letzte Überarbeitung: 04.12.2017
Erstveröffentlichung: Droge Fußball. In: Neue Züricher Zeitung Nr. 157. 10.07.2014. S. 18. Print und Online.