Dämon „Verbandsrat“

„Verbandsrat“ – in vielen deutschen Sportorganisationen kommt dieses Wort der Bedeutung eines gefährlichen Dämons gleich. Gemeint ist damit eine Institution, die meist in den Satzungen der Sportverbände festgelegt und in ihrer Aufgabenstellung dort auch näher beschrieben ist. Betrachtet man die etymologische Bedeutung der Worte „Verband“ und „Rat“ und spürt man ihrer Semantik nach, so müssen die äußerst negativen Konnotationen, die das Wort Verbandsrat in den Organisationen des Sports hervorrufen, überraschen. Der freiwillige Zusammenschluss von Menschen in einem Verband oder einer Vereinigung ist für jede Gesellschaftsordnung wünschenswert. Institutionen, die sich über ihre guten Ratschläge begründen, Ratgeber sind und deshalb als ein erwünschter „Rat“ zu bezeichnen sind, sind nicht nur für benachteiligte Gruppen und Menschen eine Hilfe, sie haben sich in allen Lebensbereichen bewährt. In der Entwicklung der Sportorganisationen hat sich hingegen die Einrichtung eines Verbandsrats in vielen Sportfachverbänden von seiner beratenden Rolle nahezu ganz entfernt, insbesondere dann, wenn sich der Verbandsrat aus den Präsidenten der Landesfachverbände zusammensetzt und die Landesfachverbände die Mitglieder des Bundesfachverbandes bilden. Verbandsräte, die sich als ein Zusammenschluss der sogenannten „Landesfürsten“ darstellen, sehen sich in der Regel als Kontrollorgan des Präsidiums des Spitzenfachverbandes und nicht selten führen sie sich auf, als ob sie dabei die Regierung des Verbandes selbst seien. Häufig kann dabei ein Machtkampf zwischen Verbandsrat und Präsidium beobachtet werden, bei dem es an jeglicher Konstruktivität mangelt. Die Mitglieder des Verbandsrats sind dabei in fast allen Sportfachverbänden eher heterogen als homogen. Dies gilt sowohl für die Sozialisation der jeweiligen „Landesfürsten“ als auch für die Größe der jeweiligen Landesfachverbände. In ihren Berufen sind die „Landesfürsten“ Beamte, Juristen, Lehrer, Handwerker oder Selbstständige. Jeder einzelne ist ein ehrbarer Bürger und er übt sein Ehrenamt mit Pflichtbewusstsein und gutem Willen aus. Ihre landespolitische Bedeutung ist in der Regel unbedeutend und die Landesfachverbände haben zu Hause in ihren Bundesländern meist nur eine sehr nachgeordnete Bedeutung. Der größte Landesfachverband kann dabei die zehnfache Mitgliederzahl im Vergleich zum Kleinsten aufweisen und bezogen auf die anzutreffenden Wettkampfstrukturen gelingt es dem einen Landesfachverband mehrere Wettbewerbe und Meisterschaften pro Jahr auszurichten, dem anderen gelingt es kaum noch, eine vollständige regionale Landesmeisterschaft durchzuführen. In Bezug auf die Hauptamtlichkeit unterscheiden sich die Landesfachverbände erheblich. Manche Geschäftsstelle gleicht eher einem Wohnzimmer. In den größeren Landesfachverbänden ist hingegen eine differenziertere hauptamtliche Personalstruktur anzutreffen.

Es gibt Landesfachverbände, die bei den Verbandsratssitzungen nur selten mit ihrem Präsidenten vertreten sind und meist dessen Stellvertreter in den Verbandsrat entsenden. Andere Verbände verfügen hingegen im Verbandsrat über ein Machtmonopol, das dadurch möglich wurde, weil ihr Präsident bereits über mehr als zwei Jahrzehnte im Amt ist und er deshalb eine selbsternannte Sprecherfunktion ausübt, die ihm selbst längst als „natürlich“ erscheint. Über das was er dabei während der Sitzungen des Verbandsrates spricht ist meist nachgeordnet oder unbedeutend. Hauptsache ist vielmehr, dass jedermann seine dominante Rolle wahrnehmen kann. Angesichts dieser personellen Konstellation in einem Verbandsrat ist die Bildung von Machtblöcken sehr wahrscheinlich und die anzutreffenden Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass manche dieser Landesfürsten in einem kleinen Klüngel über Jahrzehnte ein zynisches Kontrollspiel gegenüber dem Präsidium des nationalen Sportverbandes spielen, ohne dass dies unter praktischen Gesichtspunkten sinnvoll wäre. Vieles ist dabei nicht einmal folgenreich. Das Handeln des Verbandsrats kommt vielmehr sehr häufig einem Sprachspiel gleich, dessen Inhalte unmittelbar nach Spielende sofort wieder vergessen werden. So drängt ein Verbandsrat auf  eine Amtszeitbeschränkung für Präsidiumsmitglieder, weist aber in den eigenen Reihen mehrere Mitglieder auf, die bereits über 20 Jahre im Amt sind, ohne dass auf Landesverbandsebene ein Erfolg ihrer Arbeit zu erkennen wäre. Die Verbandsratsmitglieder sehen sich ermächtigt, über die Fragen des Spitzensports zu entscheiden, ohne dass sie selbst den Nachweis erbringen, in ihren eigenen Reihen angemessene Spitzensportstrukturen entwickelt zu haben. Bei der Besetzung von zentralen Personalstellen nimmt der Verbandsrat für sich in Anspruch, die Berufung neuer Mitarbeiter zu kontrollieren und letztlich darüber zu entscheiden, wer bei mehreren Bewerbern der geeignete Kandidat sein soll. Der Verbandsrat genehmigt den Haushalt des Spitzenverbandes, ohne dass er für diesen Haushalt Verantwortung übernimmt. Er klagt auch eine Kontrollmacht ein, wenn es um die Vergabe von Meisterschaften geht, ohne die jeweiligen Ausrichter selbst evaluiert zu haben. Die erwünschten Machtbefugnisse des Verbandsrats scheinen unermesslich zu sein. Von den Rechten des Verbandsrats ist bei jeder Verbandsratssitzung die Rede. Von Pflichten, die die Landesfachverbände übernommen haben und gemäß Satzung zu übernehmen haben wird jedoch höchst selten gesprochen. Angesichts solcher in Anspruch genommener Rechte stellt sich die Frage nach der fachlichen Kompetenz jener, die sich diese Rechte gegeben haben. Betrachtet man dabei die Landesfachverbände unter diesem Gesichtspunkt, so muss man erkennen, dass sich diese Verbände in ihrer Heterogenität kaum übertreffen lassen. Kein Verband gleicht dem anderen und in Bezug auf Größe, personelle Ausstattung und finanzielle Möglichkeiten sind die Unterschiede ebenfalls gravierend. Bei Fragen des Leistungssports hat mancher Verband nahezu sämtliche Förderstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten verloren und er kann allenfalls noch als ein Breitensportverband bezeichnet werden.

Angesichts der umfassenden Rechte des Verbandsrats stellt sich auch die Frage, wen der Verbandsrat in Bezug auf die jeweilige Sportart tatsächlich repräsentiert und in wie fern über diese Machtdelegation zugunsten des Verbandsrats die Interessen der jeweiligen Sportart, die ja meist in Vereinen organisiert sind, in angemessener Weise widergespiegelt werden. Ja es stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, dass der Verband ein Verband der Vereine wäre und nicht ein Verband der Verbände oder ob nicht alle Menschen, die eine bestimmte Sportart betreiben, Mitglied in ihrem jeweiligen nationalen Verband sein könnten. Fragt man die Athleten und jene Vereine, die ernsthaft Leistungssport betreiben, so finden sie sich mit ihren Interessen oft in den bestehenden Verbandsratsstrukturen nicht wieder. Gravierender werden die Mängel ausgewiesen, wenn man jene Athleten fragt, die die jeweilige Sportart auf höchstem Niveau betreiben. Sie können sich mit ihren Interessen in Verbandsräten, die derzeit im deutschen Sport noch üblich sind meist gar nicht wiederfinden. Betrachtet man diese Erscheinungsformen und die dabei aufgetretenen Mängel aus einer organisationssoziologischen Perspektive, so muss man zu dem Ergebnis gelangen, dass die Institution des  Verbandsrats in den Sportorganisationen des deutschen Sports eine Fehlfunktion ist, die in vieler Hinsicht einer modernen Sportentwicklung entgegensteht. Sie ist dringend zu reformieren und durch moderne Führungsstrukturen zu ersetzen, wie sie in einigen Sportorganisationen schon zu erkennen sind und wie sie in jenen Verbänden geschaffen werden müssen, die sich vom Dämon des Verbandsrats nach wie vor beeinträchtigen und geißeln lassen.

Verfasst: 13.12.2017