Folgt man der öffentlichen Meinung, so sind die Funktionäre¹ des Sports die „Buhmänner“ der Nation. Sie sind inkompetent und korrupt. Sie verfolgen nur eigene Interessen und die Athletinnen und Athleten der verschiedenen Sportarten sind ihre Opfer. Sie sind immer häufiger auch Anlass für Witze und bestens geeignet für Karikaturen. „Funktionäre haben eine natürliche Abneigung gegen Transparenz… Klar ist die biologische Klassifizierung des Sportfunktionärswesens. Der Sportfunktionär ist ein Säugetier. Er saugt gern an Staaten und Institutionen, um an die notwendigen Inhaltsstoffe wie Geld zu gelangen. Dafür hinterlässt er Stoffwechselprodukte wie zerfallene Stadien, Autobahnen ins Nichts, gigantische Budgetlöcher oder exponentiell steigende Infektionszahlen… Sportfunktionäre sind übrigens auch wichtig für die Polizei und zwar auch außerhalb von Polizeisportvereinen.Wo sollten denn Ermittler verschwundene und gewaschene Gelder suchen, wenn nicht in den verständigen, warmen Armen des örtlichen Sportfunktionärs? Sponsorenverträge, Bauvorhaben für Stadien, Banner Werbung, Spenden, Werbekosten, verrechnete und unverrechnete Freikarten – in der Buchhaltung eines Sportvereins herrscht kreatives Durcheinander, ein diverses Biotop für Belege, Ausgaben und Rechnungen… Wer ist der Ranger dieses ökonomisch wertvollen Sumpfes? Der Sportfunktionär… Ohne das Sportfunktionärswesen gebe es große Opfer. Die Schweiz etwa. Dieser gebirgige Bankenstaat müsste sich ohne das Geld von IOC, FIFA, UEFA, weiteren „Vereinen“ und den mit ihnen verbundenen Geschäftsbanken auf den Verkauf von überteuerten Uhren, Schokoladen sowie unhandlichen Mehrzweckmessern konzentrieren und würde auf das wirtschaftliche Niveau von Guinea-Bissau absacken. Aber – keine Panik – es gibt ja eben diese wuseligen Wesen, die sich hervorragend zum Halten eines Proseccoglases und Führen eines namenlosen Bankkontos eignen… Neuerdings sind immer wieder Stimmen zu hören, man müsse sich dem Befall durch die parasitäre Lebensform entschieden entgegen stellen… diese Sitzungsriesen, Laborweltmeister, Geschäftsreisende in eigener Sache, diese Kofferträger, Handaufhalter und Anzugfüller, sie alle sind absolut unersetzbar. Wo sollten Sie im wirklichen Leben auch an anderer Stelle eingesetzt werden?… In staatlichen Institutionen verhungern sie, da sie dort nicht annähernd jenes Gehalt bekommen, das sie zum Überleben brauchen. Schließlich ernährt sich der Sportfunktionär eben nur von einem: vom Geld. Das ist alles, was ihn interessiert. Sport zum Beispiel ist ihm völlig egal.“ Die Zitate stammen aus einem Beitrag in der TAZ vom 3. 8. 2021, der unter der Überschrift „Herrrlich parasitäre Überlebenskünstler“ von Severin Groebner verfasst wurde.
Mancher Repräsentant deutscher Massenmedien mag diesen Beitrag als gelungene Ironie bezeichnen und möglicherweise kann mit diesem Beitrag in den in Deutschland üblichen Medienwettbewerben eine besondere Auszeichnung gewonnen werden. In Wirklichkeit sind in diesem Beitrag aber lediglich nahezu sämtliche Vorurteile versammelt, die man mittlerweile nahezu täglich in der gesamten deutschen Sportberichterstattung über Sportfunktionäre antreffen kann. So schreibt z.B. Holger Gertz in der Süddeutschen Zeitung vom 7. August: „Dass die Leute in Japan nicht in die Stadien dürfen es sich aber so sehr wünschen würden in die Stadien zu können – das stimulierte ein flaues Gefühl des privilegiert sein bei Journalisten, die ja dabei sein durften. Und es würde auch bei Funktionären so ein Gefühl wecken, sofern die noch etwas merken, was sie in der Regel natürlich nicht tun, sonst wären sie keine Funktionäre. Was sie sind, hat der Schriftsteller Javier Marias mal geschrieben: „Sie sind gar nichts.“ Der feinfühlige Herr Gertz sieht sich ganz offensichtlich ermächtigt, stellvertretend für all seine ebenfalls sehr feinfühligen Journalisten, die in Tokio gewesen sind, ein vernichtendes Urteil über die Clique der Funktionäre zu sprechen: Ihnen mangelt es an jeglichem Feingefühl, sie sind ein nichts. Die begonnene Reihe von Zitaten könnte fortgeführt werden. Doch längst müsste sich eigentlich für den Leser und Hörer dieser journalistischen Äußerungen über Sportfunktionäre in Fernsehsendungen, im Radio, in der Presse oder in den sozialen Medien die Frage stellen, wen die Sportjournalisten mit dem Gebrauch des Wortes „Sportfunktionär“ im Blick haben. Es müsste sich also die Frage nach der Bedeutung des Begriffs „Sportfunktionär“ stellen.
Das Wort „Funktionär“ ist auf das lateinische Wort „fungi“ zurückzuführen, was soviel bedeutet wie „verrichten“, „besorgen“, „ein Amt verwalten“. Interessanterweise ist dieses Wort mittlerweile eher ein typisch deutsches Wort. Es ist seit dem 20. Jahrhundert belegt. Die Formulierung „nach franz. „fonctionnaire“ lässt offen, ob es sich um eine Entlehnung oder eine Wortbildung im Deutschen unter Einfluss des französischen Vorbildes handelt. Für das deutsche Wort „Funktionär“ verwendet man jedoch im Französischen heute eher das Wort „officiel“ ebenso wie von den „Offiziellen“ im Englischen(„official“), italienischen(„ufficiale“ und Spanischen(„oficiale“) die Rede ist. In der deutschen Sprache wird heute mit dem Wort „Funktionär“ eine Person bezeichnet, die innerhalb einer Organisation eine Führungsposition innehat, bzw. mit der Wahrnehmung bestimmter Leitungsaufgaben in einer Organisation beauftragt ist. Funktionär wird man in der Regel durch Kooptation, die durch eine oftmals formal notwendige Wahl nach außen legitimiert wird. Diese Form der Funktionärsrekrutierung findet man u.a. in Parteien, Gewerkschaften und Sportorganisationen. In den Sportorganisationen lassen sich dabei Sportfunktionäre auf der Ebene der Vereine von den Funktionären in den Verbänden, in den Dachorganisationen der Verbände und in den internationalen Sportorganisationen unterscheiden. Zu unterscheiden ist dabei auch eine haupt- neben- und ehrenamtliche- Funktionärsarbeit, wobei es eine Vielzahl von „Funktionen“ im System des Sports gibt, die von den Sportfunktionären zu erfüllen sind. Es ist dabei möglich, dass in manchen Organisationen noch zahlreiche Funktionen ehrenamtlich erfüllt werden, die in anderen schon längst von Hauptamtlichen erledigt werden.
Wer über Sportfunktionäre redet, der sollte also über „Funktionen“ reden, die diese zu erfüllen haben und er sollte dabei die hauptamtliche Funktionärsarbeit sorgfältig von ehrenamtlicher und nebenamtlicher Funktionärsarbeit unterscheiden. Im „normalen“ deutschen Turn – und Sportverein gibt es einen Pressewart, einen Schatzmeister, Abteilungsleiter für die verschiedenen Sportarten, einen ersten Vorsitzenden, einen Jugendwart, einen Seniorenwart, vielleicht auch einen Beauftragten für Migration und neuerdings auch für den Datenschutz etc. Das Präsidium eines nationalen Sportverbandes weist nicht selten neben einem Präsidenten einen Vize-Präsidenten für Leistungssportfragen auf, ein weiterer Vize-Präsident zeichnet für den Breitensport verantwortlich. Es gibt möglicherweise einen Jugendwart, einen Lehrwart einen Schulbeauftragten, einen Beauftragten für Gleichberechtigung und – immer öfter – auch einen Wissenschaftskoordinator etc. Die Liste der Funktionen, die in den Sportorganisationen erfüllt werden müssen, ist in den vergangenen Jahrzehnten ständig angewachsen. Manche Funktion wird nur ehrenamtlich bearbeitet. Bei wichtigen Funktionen steht eine ganze hauptamtliche Abteilung an der Seite des ehrenamtlichen Funktionärs. Es gibt auch Funktionen, die nur der Hauptamtlichkeit übertragen werden.
Eines können diese kurzen Ausführungen über das Phänomen des deutschen Sportfunktionärs deutlich machen: Es handelt sich bei diesem Phänomen um ein äußerst komplexes Gefüge, das für den Bestand des Sportsystems in Deutschland von grundlegender und entscheidender Bedeutung ist.
Nach dieser Anmerkung ist es nun angebracht, noch einmal auf die pauschale Sportfunktionärsschelte in den deutschen Massenmedien zurückzukommen. Welche Funktionäre hat Severin Groebner im Blick, wenn er glaubt uns eine „wahre Phänomenologie“ zum deutschen Sportfunktionär geliefert zu haben? Welche Funktionäre meint Holger Gertz beleidigen zu müssen, wenn er ihnen unterstellt, dass sie gefühlslos sind. Meint er die Kampfrichter, ohne die die Wettkämpfe in Tokio nicht möglich gewesen wären; meint er das medizinische Personal und die Physiotherapeuten, die für den Erhalt der Gesundheit der Athleten unverzichtbar sind; meint er die Mitglieder der Jury, die bei jedem Wettkampf über Proteste der Athleten zu entscheiden hatten; meint er die CAS-Mitglieder oder die Mitglieder der verschiedenen Kommissionen des IOC. Mit welchem der Sportfunktionäre hat Herr Gertz persönlich gesprochen, um sich ein derart anmaßendes Urteil über die Fähigkeit zu besonderen Gefühlen erlauben zu können. Bei welcher Mitgliederversammlung eines Turn – und Sportvereins war Herr Groebner anwesend, um sich das Urteil erlauben zu können, dass dort ein diverses Biotop für Belege, Ausgaben und Rechnungen herrschen würde und dabei ein unübersichtliches Nebeneinander von Ausgaben und Einnahmen bestehen würde.
In den Sportorganisationen sind in den letzten Jahrzehnten ohne Zweifel viele Fehlentwicklungen zu beklagen. Die meisten der Verfehlungen sind von Funktionären in höchsten Ämtern begangen worden und nicht alle diese Verfehlungen wurden ausreichend juristisch verfolgt, und manch einer dieser Funktionäre ist unbestraft davongekommen. Die Kritik am Führungshandeln in vielen internationalen Sportorganisationen ist deshalb auch meist berechtigt gewesen, und ohne diese Kritik hätten vermutlich die dringend notwendigen Demokratisierungsprozesse der internationalen Sportorganisationen bis heute noch nicht einmal begonnen. Bei der Aufdeckung von Verfehlungen im internationalen Sport haben die Massenmedien eine entscheidende Rolle gespielt, und sie werden sie auch zukünftig weiterspielen. Dabei ist jedoch eine spezifische Aufklärung notwendig. Vorwürfe sind zu begründen, und jemand kann nur dann als schuldig bezeichnet werden, wenn es in Bezug auf die Verfehlungen zu einer unabhängigen juristischen Verurteilung gekommen ist. Bloße Vermutungen, pauschale Verurteilungen und vorurteilsbefangene Behauptungen sind dabei jedoch ganz gewiss keine Hilfe. Dies gilt für die massenmediale Beurteilung der so viel gescholtenen Sportfunktionäre gleichermaßen wie in umgekehrter Weise für die weit verbreitete Polemik gegenüber der Arbeit der Sportjournalisten, ohne Ross und Reiter zu nennen. Kritik ist dann hilfreich, wenn auch benannt wird, wen und was man mit seiner Kritik meint.
Die massenmediale Funktionärsschelte hat seit längerer Zeit einen Umfang und eine Reichweite aufzuweisen, dass davon auch schon längst das Selbstbild der Sportfunktionäre betroffen ist und es immer schwieriger werden wird, zukünftig überhaupt noch Personal für all jene Funktionen im Sport zu rekrutieren, die nicht besonders attraktiv, aber dennoch von großer Bedeutung für den Bestand des Sportsystems sind. Dass es so weit gekommen ist, ist nicht nur die Schuld der Sportjournalisten, die mit ihrer vorurteilsbefangenen Funktionärsschelte dem System des Sports einen erheblichen Schaden zufügen. Einen großen Teil der Schuld haben die Sportorganisationen dabei jedoch auch selbst zu verantworten, weil sie es zulassen, dass eine derartige Sportberichterstattung ohne Widerspruch und Protest hingenommen wird; weil sie in den Aufsichtsgremien verschiedener Medienorgane wohl über Sitz und Stimme verfügen, sie aber ihrer Aufsichtspflicht bis heute nicht nachgekommen sind. Mit ihrer eigenen Presse – und Medienarbeit haben sie es versäumt, ein Gegengewicht gegen die fragwürdige Berichterstattung zu schaffen. Eine sportjournalistische Aufklärung durch Verbandsmedien über die tatsächlichen „Funktionen“ der „Funktionäre“ des Sports hat bis heute noch nicht stattgefunden. Gleiches gilt für die Frage nach der Bedeutung der Sportorganisationen insgesamt im System des Sports. Immer häufiger werden forsche Ideen vorgetragen von Leuten, die die organisatorischen Grundlagen des deutschen Sports nicht kennen, und in einer polemischen Medienkritik werden die Sportverbände als veraltete und verkrustete Gebilde angeprangert und eine Privatisierung des Sports gefordert. „Anything goes“ ist dabei die Losung: jeder kann sein eigenes Sportevent veranstalten, jeder kann sich selbst vermarkten, und solche, die sich mit minimalen finanziellen Zuwendungen bei der Organisation von Sportveranstaltungen beteiligen, meinen, sie würden dabei schon die gesamte Sache finanzieren. Die Kritik gilt dabei immer einem Sportverband, der angeblich überflüssig geworden ist und dessen Leistungen nirgendwo zu erkennen sind. Solch eine Auffassung kommt jedoch einem „Schmarotzer Kapitalismus“ gleich, der von all jenen, denen der Sport der Kinder ebenso wie der Senioren Sport, der Sport für Erwachsene oder kurz gesagt: ein „Sport für alle“ ein wichtiges Anliegen ist, in aller Entschiedenheit abgelehnt werden muss. Einmal mehr soll eine Haltung forciert werden, bei der es darum geht, dass über das fertige Produkt „Leistungssport“ hohe Gewinne erzielt werden, man sich selbst jedoch an der langjährigen Entwicklung dieses Produkts nicht beteiligt. Wer organisiert die Arbeit zugunsten der Kinder und Jugendlichen in den Vereinen? Wer stellt Übungsleiter und Kampfrichter bereit? Wer bildet sie aus und fort? Wer erstellt die Wettkampfkalender? Wer entwickelt die Wettkampfregeln? Wer organisiert die Trainingslager für B-, C- und A- Kaderathleten? Wer entsendet die Nationalmannschaften? Wer legitimiert den Sport gegenüber der Bundesregierung? Wer repräsentiert den Sport auf nationaler und internationaler Ebene im Interesse der Sporttreibenden? Die Fragen könnten unendlich fortgeführt werden. Die Antwort ist immer eindeutig: Ohne Verbände ist in Deutschland der Wettkampfsport, so wie er heute existiert, nicht denkbar; ohne Fachverbände würden Sportarten wie Leichtathletik, Schwimmen, Handball oder Hockey nicht existieren können. Deshalb muss hier in aller Entschiedenheit festgestellt werden: Mitglieder in einem deutschen Sportverband sind ihre Landesverbände, Mitglieder der Landesverbände sind ihre Vereine, Mitglieder der Vereine sind die Sporttreibenden der jeweiligen Sportart. Die Sportverbände veranstalten ihre Sportarten gemeinsam mit ihren Mitgliedern. Jeder Sportverband muss sich deshalb in aller Entschiedenheit dagegen wehren, dass andere, die nicht in diese Organisationsstruktur eingefügt sind, zukünftig ihre Sportart anbieten. Ohne Antrag und Genehmigung, ohne eine kontrollierte Überwachung durch den jeweiligen Sportverband kann es internationale und nationale Sportveranstaltungen in Deutschland nicht geben. Von dieser Prämisse wird es abhängig sein, ob Deutschland auch zukünftig international im Hochleistungssport erfolgreich ist. Sportorganisationen, die sich durch Individualismus, durch originelle Persönlichkeiten, durch interessante Athletinnen und Athleten, durch beispielhafte Trainerpersönlichkeiten, durch verantwortungsvolle Funktionäre und kluge Manager auszeichnen, sind heute mehr als erwünscht und müssen gefördert werden. Sportorganisationen, in denen Egoisten die Auseinandersetzung mit der Zukunft nach der Maxime gestalten „Jeder suche möglichst schnell seinen eigenen finanziellen Vorteil“, „Was das Gesamte betrifft, so entziehe Dich jeder Verantwortung“: ein derart ausgerichtetes Sportsystem wird hoffentlich von all jenen entschieden bekämpft, für die es ein wichtiges Anliegen ist, dass auch in der weiteren Zukunft die olympischen Sportarten noch von vielen Kindern und Jugendlichen auf eine freudvolle Weise betrieben werden können.
Jeder Sportfunktionär, ganz gleich in welchem Bereich er im komplexen System des deutschen Sports Verantwortung übernommen hat, ist dabei gefordert, und die Sportorganisationen müssen dabei selbst die massenmediale Aufklärung über die wichtige Bedeutung des Funktionärswesens für den Fortbestand des Sportsystems in die Hand nehmen. Nur so kann den in der Öffentlichkeit existierenden Vorurteilen und den oft auch böswilligen Unterstellungen gegenüber den deutschen Sportfunktionären erfolgreich entgegengetreten werden.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 25.August 2021