Turn- und Sportvereine – zwischen Privatheit und staatlicher Organisation

Der Sportverein ist trotz vieler Ähnlichkeiten zu anderen Organisationsgebilden eine typisch deutsche Form organisierten Sports. Den Sportvereinen ist es dabei gelungen, die größte Organisation freiwilliger Mitglieder zu werden, die es in der Bundesrepublik gibt. Der Sport ist auf diese Weise fast monopolartig an die Organisationsform des Vereins gebunden.
Sportvereine zeichnen sich einerseits durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale aus, die sie teilweise mit anderen Vereinen teilen. Andererseits gibt es heute im Zuge einer funktionalen Ausdifferenzierung des gesamten Sportsystems eine noch immer zunehmende Vielfalt von unterschiedlichen Sportvereinen, die sich über Merkmale wie „Herkunft der Mitglieder“, „Stadt-Land-Lage“, „Einsparten-Mehrsparten“, „Tradition“, „Verein mit Berufssportlern“ etc. unterscheiden.
In früheren soziologischen Standardwerken (TÖNNIES, WEBER) wurde in der Diskussion über Vereine vor allem der Ordnungscharakter der organisatorischen Gebilde hervorgehoben, die diese zwischen den kleinen Gruppen privater Existenz (Familie, Freundeskreis) und großen staatlichen Organisationen und Institutionen besitzen. In der amerikanischen Forschung über die sogenannten „voluntary associations“ wird hingegen der Aspekt der Freiwilligkeit des Zutritts zu solchen Organisationen und ihre Freizeitbezogenheit in den Vordergrund gerückt. „Voluntary associations“ sind hier als organisierte Gruppen von Personen definiert, die sich gebildet haben, um gemeinsame Interessen der Mitglieder zu verfolgen. Die Mitgliedschaft in ihnen ist in dem Sinne freiwillig, als sie nicht durch ein Mandat oder durch Geburt zustande kommt und unabhängig vom Staat existiert. Organisationen dieser Art dienen nicht dem Lebensunterhalt der Mitglieder. Die Zahl der freiwilligen Mitglieder ist in der Regel größer als die der Angestellten¹ und des Verwaltungspersonals. Der Sportverein kann somit der Definition der „voluntary association“ entsprechend, als freiwillige Organisation im Bereich des Interessengebietes Sport betrachtet werden.
Gemeinsam ist allen Sportvereinen, dass sie sich als Vereinigungen durch

  • · „freiwillige Mitgliedschaft“,
  • · eine „benennbare Mitgliederzahl“,
  • · eine Mitgliedschaft mit „interner Rollendifferenzierung“,
  • · „Orientierung an den Interessen der Mitglieder“,
  • · „Unabhängigkeit gegenüber Dritten“,
  • · „ehrenamtliche Mitarbeit“,
  • · „demokratische Entscheidungsstrukturen“

und

  • · „politische Neutralität“

auszeichnen.

Freiwillige Organisationen stellen einen relativ neuen Typ sozialer Organisation dar. Er löste in erster Linie die ältere Organisationsform der „Korporation“ ab. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen freiwilliger Organisation (Assoziation) und Korporation ist, dass die ältere Korporation eine durch Geburt und Stand bestimmte, d.h. nicht voluntaristische Organisation ist. Der Begriff „Verein“ setzt sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch.
Die Vereinsfreiheit besteht in Deutschland seit 1908 (Reichsvereinsgesetz). Heute sieht das Grundgesetz (Artikel 9 und 18) für alle Deutschen das Recht auf freie Vereinsgründung vor, soweit die Vereinszwecke oder -tätigkeiten den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen bzw. die verfassungsmäßige Ordnung in Form der freiheitlich demokratischen Grundordnung und den Gedanken der Völkerverständigung nicht stören. Auch nach der Deklaration der Menschenrechte (Artikel 20) steht das Recht der freien Vereinsbildung jedem Menschen zu. Die Struktur des deutschen Sportvereins, so wie er sich heute präsentiert, ist jedoch weniger eine Folge planmäßiger Entwicklung auf der Basis derartiger Gesetzestexte als vielmehr die Folge spezifischer Orientierungen und freiwilligen Engagements einzelner Personen, die auf der Basis einer allgemeinen Interessenlage für die Gründung, Organisation und den Bestand von Sportvereinen verantwortlich waren.
Die im deutschen Sprachgebrauch herrschende relative Eindeutigkeit des Vereinsbegriffes ist mitbedingt durch die juristische Festlegung der Gesetzgebung. Dort zählt der Sportverein als sogenannte „juristische Person“. Und im § 2 des Gesetzes zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts im Vereinsgesetz vom 5. 8. 1964 des BGB wird festgelegt, was unter einem Verein zu verstehen ist:
„Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für eine längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“

Im juristischen Sinn ist der Verein im Kommentar zum BGB auch als eine „auf Dauer berechnete Verbindung einer größeren Anzahl von Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes, die nach ihrer Satzung körperschaftlich organisiert ist, einen Gesamtnamen führt und auf einen wechselnden Mitgliederbestand angelegt ist“ definiert. Der Verein zählt also zu den Körperschaften, d.h. zu den bestandfesten, vom jeweiligen Mitgliederstand unabhängigen Zusammenschlüssen, die ein Wahl-und Beschlussorgan (Mitgliederversammlung) besitzen müssen sowie ein Organ (Vorstand),
das mit der Verwaltung der öffentlichen und gerichtlichen Vertretung des Vereins beauftragt ist. Der Verein handelt durch den Vorstand, der gegenüber dem Verein verantwortlich ist. Andererseits haftet der Verein für die Diensthandlungen seiner Vorstandsmitglieder. Vereinsbeschlüsse werden durch Mehrheitsbeschlüsse von Mitgliederversammlungen bzw. vom Vorstand herbeigeführt. Die Mitgliedschaft ist freiwillig und nicht übertragbar oder vererbbar. Idealvereine, d.h. Vereine, deren Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Betrieb ausgerichtet ist, erlangen ihre Rechtsfähigkeit (als juristische Person) durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichtes. Ein Rechtsanspruch auf die Eintragung besteht dann, wenn die Satzung ordnungsgemäß ausgefertigt, von mindestens 7 Mitgliedern unterschrieben und mit der Anmeldung samt Urkunde über die Bestellung des Vorstandes beim Amtsgericht eingereicht wurde und die Verantwortungsbehörde nicht einwerfen konnte, dass Vereinszweck und -tätigkeiten den Gesetzen widersprechen. Der nichtwirtschaftliche Idealverein kann die Rechtsfähigkeit verlieren, wenn er einen wirtschaftlichen Geschäftszweck verfolgt, wenn er durch gesetzwidrige Beschlüsse der Mitgliederversammlung oder gesetzwidriges Verhalten des Vorstandes das Gemeinwohl gefährdet. Im Gegensatz zu öffentlichen Körperschaften mit gemeinnützigen oder mildtätigen Zwecken, denen Steuerfreiheit zusteht, sind Sportvereine nach dem Grundgesetz, Artikel 4, nur von der Grundsteuer befreit und bei Stiftungszuwendungen steuerbegünstigt.
Die genannten idealtypischen Merkmale freiwilliger Vereinigungen werden jedoch in der konkreten Praxis von Sportvereinen immer wieder durch vielfältige Zwänge beeinträchtigt. Das Prinzip der Ehrenamtlichkeit wird heute vermehrt mit dem Prinzip der Hauptamtlichkeit konfrontiert. Die Orientierung an den Interessen der Mitglieder kann sich insofern in das Gegenteil verkehren, dass das Vereinsangebot die Interessen der Mitglieder bestimmt. Die Unabhängigkeit von Dritten wird durch neuere Formen der finanziellen Abhängigkeit in Frage gestellt und manches Mitglied wird aufgrund von mehr oder weniger offensichtlichen Pressionen (Sozialprestige) einem Verein beigetreten sein. Schließlich zeigen genauere Beschreibungen über die Entscheidungsverfahren in den Sportvereinen, dass das demokratische Prinzip auch sehr schnell unterhöhlt werden kann.

Sportvereine sind zumeist keine gemeinnützigen Einzelgebilde, deren Umwelt sich lediglich auf lokale Bezüge beschränkt. Sportvereine sind vielmehr nach außen in eine komplexe Organisationsstruktur eines umfassenden Sportsystems eingebunden. Jeder Sportverein steht in einem Interaktionsgefüge zum Stadt- bzw. Kreissportbund, zum Landessportbund und zum Deutschen Olympischen Sportbund.

Über seine Abteilungen gibt es vor allem Wettkampfbeziehungen zu den Abteilungen anderer Vereine. Diese Beziehungen werden durch den Fachverband zumeist auf Kreis- und Landesebene bis hin zum Spitzenverband organisiert; dieser wiederum gehört auch internationalen Organisationen an.

Turn-und Sportvereine können auf eine äußerst erfolgreiche Karriere zurückblicken

Die Organisationsform des Sportvereins kann trotz mancher Schwierigkeiten auf eine beachtliche Erfolgskarriere verweisen. Sie begann zunächst als eine spezifisch deutsche Karriere. 1816 wurde der erste deutsche Turnverein, die „Hamburger Turnerschaft von 1816“ gegründet. Allerdings handelte es sich dabei keineswegs um einen „Verein“ mit den aus heutiger Sicht für diese Organisationsform typischen Merkmalen. Vielmehr wurde zu diesem Zeitpunkt die „Hamburger Turnanstalt“ gegründet. Sie hatte den Charakter einer „gewerblichen Turnschule“. Da in den Folgejahren das Turnen politisch bekämpft wurde (Turnsperre bis 1842 in Preußen), begann die eigentliche Gründerzeit der Turnvereine um 1845, als sich in einzelnen Städten erwachsene Männer zur Organisation und Fi-nanzierung des Turnens von Schülern zu Vereinen zusammenschlossen, so im „Verein für körperliche Ausbildung der Jugend in Frankfurt“ 1845. Männerturnvereine (auch Gesellschaften, Innungen, Gemeinden genannt) folgten und 1845 wurde erstmalig auch ein Damenturnverein gegründet, der allerdings nur kurzzeitig bestand. Die Gewährung der Vereinsfreiheit im Revolutionsjahr 1848 war Ausgangspunkt für die nun einsetzende differenzierte Entwicklung der deutschen Turnvereine. Je mehr Vereine gegründet wurden, desto mehr kam es auch zu gegensätzlichen Vorstellungen gegenüber den Zielen und Funktionen von Vereinen, desto mehr kam es auch zu einem differenzierten Vereinsangebot. Das politische Spektrum der Vereine reichte von einer konservativ bis reaktionären Grundhaltung bis hin zu revolutionären Vorstellungen, wo über das Turnen politische Veränderungen herbeigeführt werden sollten. 1849 gab es etwa 300 Vereine. Bereits 1864 waren es ca. 2000. Die konservative Ausrichtung der Turnvereine gewann zunehmend an Bedeutung und erreichte in der Regierungszeit von Bismarck ihren ersten Höhepunkt. In dieser Zeit wird die Karriere des Turnens durch neu aufkommende Formen des Sporttreibens beeinflusst, die ihren Ausgangspunkt in England hatten und gegen 1860 ihre ersten Wirkungen in Deutschland zeigten. Vorwiegend in Handelsstädten wurde nun „sports“ betrieben, was zunächst Rudern, Eislauf, Radfahren, Kricket, Tennis und vor allem auch Fußball bedeutete. Clubgründungen waren die Folge solcher Formen, doch handelte es sich dabei zunächst um exklusive Vereinigungen von Männern aus vermögenden Schichten. Die Turnvereine reagierten auf derartige Vereinsgründungen anfangs ablehnend. Die Popularität der Sportarten ergriff jedoch auch die Mitglieder von Turnvereinen, was dazu führte, dass nunmehr auch in Turnvereinen Abteilungen z.B. für Spiele oder Schwimmen
eingerichtet wurden. Teilweise spalteten sich solche Abteilungen später ab und wurden eigenständige Sportvereine. Dennoch: Durch den englischen Einfluss wurde das Bewegungsangebot der deutschen Turn- und Sportvereine (so muss man die Vereine um die Jahrhundertwende nennen) wesentlich ausgeweitet und seit diesem Zeitpunkt zeichnet sich der Vereinssport durch Wettkampfformen aus, die sich durch Leistungsmessung und Rekordstreben auszeichnen. Für die weitere Entwicklung der Turn- und Sportvereine war die Gründung von Arbeitersportvereinen in dieser Zeit (1890 – 1914) von besonderer Bedeutung. Die Konfrontation zwischen bürgerlichen Sportvereinen und Arbeitersportvereinen zeigte sich nicht nur bei politischen Grundhaltungen. Dennoch wies nach wie vor die deutsche Turnerschaft die meisten Mitglieder auf. 1911 hatte sie bereits mehr als 1 Million Mitglieder, während z.B. der DFB zu diesem Zeitpunkt lediglich über 100.000 Mitglieder verfügte).

Aus der Sicht von heute war wohl die „Wilhelminische Zeit“ der wichtigste Abschnitt in der Entwicklung zum modernen Sportverein, weil sich in dieser Zeit bereits alle modernen Merkmale des Vereinssports erstmals vollständig abzeichneten. Hinzu kommt, dass in dieser Zeit die Sport-bewegung auch ihre entscheidenden Impulse zur Weiterentwicklung durch die Gründung der Modernen Olympischen Spiele durch Coubertin erhielt. Außerdem war es in dieser Zeit möglich, die Trennung von Turnen und Sport aufzuheben. In den Jahren 1933 – 1945 wurde relativ abrupt der Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Turn- und Sportvereine unterbrochen. Die national-sozialistische Diktatur schaltete insofern alle Sportvereine gleich, als marxistische und konfessionelle Vereine aufgelöst und alle übrigen Vereine auf das „Führerprinzip“ festgelegt wurden. Nicht zuletzt deshalb verfügte der Alliierte Kontrollrat mit der Direktive 23 vom17. Dezember 1945 die Auflösung aller deutschen Sportvereine. Gleichzeitig wurde jedoch die Bildung von „Sportorganisationen lokalen Charakters“ erlaubt. Viele Vereine konnten auf diese Weise ungehindert ihre Vereinsarbeit fortführen. Dies trug unter anderem dazu bei, dass 1950 der Deutsche Sportbund als Dachverband für alle Sportorganisationen in der Bundesrepublik gegründet werden konnte, wobei es erstmals in der deutschen Sportgeschichte gelang, einen „Einheitssportverband“ zu gründen. Seit dieser Zeit konnte der DSB und seit 2006 der DSOB als Lobby des deutschen Sports und der deutschen Sportvereine eine wirkungsvolle politische Einflussnahme auch auf die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik vornehmen.

Merkmale der heutigen Turn–und Sportvereine

Heute gibt es mehr als 90.000 Sportvereine, in denen mehr als 27 Millionen Menschen aktiv Sport treiben bzw. passiv als Mitglieder organisiert sind. Solch ein Massenphänomen legt die Frage nach dessen gesellschaftlichen Funktionen ebenso nahe, wie nach der Herkunft und sozialen Schichtung jener Menschen, die dieses Massenphänomen ausmachen. Der Sportverein ist im Zusammenhang mit derartigen Fragen zu einem wichtigen Thema sporttheoretischer Reflexion und Forschung geworden. Unter funktionalen Gesichtspunkten können dem Sportverein all jene Funktionen zugeschrieben werden, die von Soziologen, Philosophen und Pädagogen auch dem Sport im Allgemeinen zugewiesen werden. Der Sportverein erfüllt demnach „sozio-emotionale Funktionen“, „Sozialisationsfunktionen“, „sozial-integrative Funktionen“, „politische Funktionen“, „Funktionen zur Erhöhung von sozialer Mobilität “ und „biologische Funktionen“. Mit solchen „Oberbegriffen“ lassen sich in erster Linie jene Äußerungen zusammenfassen, mit denen die Bedeutung der Sportvereine für unsere Gesellschaft hervorgehoben wird.

Der Soziologe WURZBACHER bezeichnete 1982 die Turn-und Sportvereine als „intermediäre Gebilde“, die helfen zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln, anzuregen, auszugleichen, zu inte-grieren und die große Kluft durch konkrete Lebensformen und Erfahrungen im öffentlichen Raum zu überbrücken. Sportvereine sind – folgt man seiner Meinung – unter gesundheitspolitischen Gesichtspunkten eine Institution für die Regenerationsmöglichkeit gegenüber den Belastungen durch die industrielle und bürokratische Arbeitswelt. Neben der Möglichkeit für körperliche Bewegung sind Sportvereine außerdem eine Vermittlungsinstanz, die zugleich das seelisch und erzieherisch so wichtige „Erlebnis der Spielgefährtenschaft“, gewährt. Seiner Meinung nach erfährt und übt man dort das „Spannungsverhältnis von Konkurrenz und Solidarität auf spielerischer Ebene“. Hinzu kommt, dass sich in Sportvereinen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher sozialer Schichtung begegnen und auf diese Weise integriert werden. Dies gilt gleichermaßen für unterschiedliche Berufs- und Bildungs-schichten wie für unterschiedliche Lebensalter und Geschlechtsgruppen. WURZBACHER erwähnte dabei den besonderen Integrationsbeitrag der Sportvereine gegenüber Heimatvertriebenen und Ausgebombten nach dem Zweiten Weltkrieg. Integrationsfunktion haben Sportvereine auch bei einer noch immer zunehmenden beruflichen und örtlichen Mobilität der Bevölkerung. Insgesamt, so stellte WURZBACHER fest, sind Vereine „Verdichtungs-und Aktivitätskerne gemeindlichen Lebens“. Dies sind sie heute umso mehr als viele traditionelle Integrationsfaktoren, wie Kirche, Gemeindeverwaltung etc., sich aus den Gemeinden hinausbegeben haben, was dazu geführt hat, dass letztlich den
Gemeinden lediglich noch der Verein blieb. Bedeutsam ist nach WURZBACHER auch die Funktion der „Auslese und Einübung sozialaktiver Persönlichkeiten“, die Vereine ausüben. In Vereinen kann politisches Handeln gelernt werden, d.h. der Verein ist ein Übungsfeld für demokratische Formen der Führung und Verwaltung. Solche Äußerungen zeichnen sich durch plausible Argumentationsweisen aus. Ob die Sportvereine die postulierten Funktionen jedoch tatsächlich erfüllen, wurde bis heute nur selten untersucht. Auffällig dabei ist, dass es politologische Betrachtungen über die Funktion von Sportvereinen so gut wie keine gibt. Ebenso selten finden sich gar negativ bewertende Beurteilungen des Vereins. Eine Ausnahme stellen hypothetische Betrachtungen über Zwänge dar, die sich über die typischen Strukturen von Sportvereinen (Wettkampf, Training, Aufstieg und Abstieg etc.) für die Mitglieder ergeben bzw. auf Nicht-Mitglieder abschreckend wirken können.
Die wichtigsten Untersuchungen, in der konkrete empirische Sachverhalte zur Darstellung kommen, sind die Finanz-und Strukturanalysen des DSB und in jüngerer Zeit die jährlichen Sportberichte, die im Auftrag des DOSB von der DSH Köln durchgeführt werden. In ihnen werden die evidenten Funktionen der Sportvereine für ihre Mitglieder (sportliche Aktivität, Geselligkeit, Ehrenamt) äußerst präzise beschrieben, und die Fragen nach der Mitgliederstruktur (u.a. über deren soziale Schichtzugehörigkeit, Arbeitssituation, Wohnort und Wohnen), nach der Organisations-Angebots- und Finanzstruktur sportpolitisch hilfreichen Antworten zugeführt.
In jüngerer Zeit wurde der Sportverein auch Thema einer Vielzahl wissenschaftlicher Einzeluntersuchungen. Sie reichen von Untersuchungen über gruppenspezifische Probleme im Verein (so z.B. zur Situation von Jugendlichen in Sportvereinen, oder zur Situation der Übungsleiter im Verein, über Studien zu einzelnen Vereinen, bis hin zu vereinsübergeordneten organisations-soziologischen Erhebungen über die Situation der Verbände im Sport. Neben diesen Untersuchungen, die in erster Linie dazu beigetragen haben, dass empirische Daten über die Situation der Vereine für eine umfassende Analyse der Sportvereine bereitgestellt werden, gibt es eine Reihe weiterer wichtiger sportsoziologischer Analysen, in denen vor allem die soziale Integrationsfunktion des Sports diskutiert wird. Seit einigen Jahren werden auch vermehrt Organisationsfragen aufgeworfen, die sich u.a. durch die notwendigen neuartigen Finanzierungsformen für die Vereine stellen. Selten wurde bisher der Sportverein zum Gegenstand pädagogischer Forschung gemacht, wenngleich Sportvereine sich selbst als kommunale Bildungspartner vestehen und diesbezüglich angesichts interessanter Verknüpfungen von Schulsport und Sportverein, so z.B. über „Jugend trainiert für Olympia“, ein Bedarf bestünde. Historische Erörterungen über den Sportverein finden sich hingegen häufig. Allerdings geschieht dies meist indirekt, so dass bis heute noch immer eine Geschichte des Sportvereins aussteht.
Der Gesetzgeber hat in der Bundesrepublik den Sportvereinen den Status der Gemeinnützigkeit zugebilligt. Aus diesem Status heraus resultiert auch die Forderung nach subsidiärer Unterstützung der Arbeit in den Sportvereinen. Neben den eigenen Leistungen (Mitgliedsbeiträge) werden subsidiar öffentliche Mittel bereitgestellt und die Bewirtschaftung dieser Mittel erfolgt in eigener Regie. Das Prinzip der Subsidiarität, das sich auch in anderen gesellschaftlichen Sektoren bewährt hat, kennzeichnet auf diese Weise das Verhältnis der deutschen Sportvereine zur Gesellschaft und zum Staat. Das tragende Prinzip der Vereine ist jedoch nach wie vor das Tun um seiner selbst willen, das selbstlose sich Einsetzen für die Belange des Sports und hier vor allem für den Sport der Jugendlichen, das Prinzip der Ehrenamtlichkeit also.

Das intensive Wachstum der deutschen Sportvereine hat zu quantitativen und qualitativen Veränderungen der Nachfrage von Sport in Vereinen geführt. Insgesamt zeigt sich dies uns heute als ein Strukturwandel der Vereinsorganisationen. Besonders deutlich wird dieser Strukturwandel in den sogenannten Großvereinen, die unter Einsatz hauptamtlicher Mitarbeiter und unter Anwendung moderner Verwaltungs- und Organisationsmethoden der Sportnachfrage begegnen.

Im Zuge der Ausdifferenzierung der Sportvereine haben dort heute die Abteilungen jene Funktionen übernommen, die einstmals der Verein als Gesamtes besaß. Mehrspartenvereine, so scheint es, sind z.T. lediglich eine übergeordnete Dachorganisation, die den Abteilungen die Erfüllung ihrer Aufgaben ermöglicht.

Den relativ stärksten Anteil am Mitgliederzuwachs der deutschen Sportvereine in den letzten Jahren haben die Frauen. Während die Mitgliederzahlen des Deutschen Sportbundes seit 1965 bzw. des DOSB seit 2006 stetig ansteigen, war der Zuwachs an neu gegründeten Vereinen vergleichsweise gering. Die stärksten Mitgliederzuwächse waren bei Mittel-und Großvereinen aufgrund ihrer heterogenen Angebotsstruktur zu verzeichnen sowie auch bei attraktiven Einspartenvereinen. Fast 1/4 der Vereine hat noch immer weniger als 75 Mitglieder und nahezu die Hälfte lediglich bis zu 200 Mitglieder. Die beliebtesten Sportarten in der Zeit des Sportwachstums waren Volleyball, Judo, Tennis, Segeln und Golf, während Rugby, Boxen und Rollsport den geringsten Zulauf verzeichneten.
Bezüglich des Merkmals der sozialen Schichtzugehörigkeit zeigen die Sportvereine einen Trend zur Mittelschicht auf, wenngleich sich auch hier Altersunterschiede ergeben. Die Grenze zwischen oberen und unteren Sozialschichten zeigt sich nämlich erst ab dem 20. Lebensjahr.

Im Hinblick auf die Teilnahme am organisierten sozialen Leben mittels freiwilliger Organisationen unterscheidet sich der Sportverein im Vergleich zu anderen Vereinen wesentlich. Während man insgesamt mit zunehmendem Lebensalter ein Hineinwachsen in soziale Verflechtungen annehmen kann, stellt die Mitgliedschaft in Sportvereinen eine Sonderentwicklung dar. Aktives Sportengagement scheint nach wie vor eine Angelegenheit der Jugend zu sein. Die Mitgliederkurve in Sportvereinen zeigt ihren Höhepunkt im 14. Lebensjahr. Vor allem nach dem 22. Lebensjahr erfolgt ein starker Beteiligungsrückgang. Insgesamt nimmt die sportliche Aktivität mit zunehmendem Alter nicht linear ab. Phasen, in denen die Abnahme erheblich ist, wechseln mit Zeiträumen, in denen auch neue Mitgliederschübe möglich sind. Die Abnahme bei den Frauen setzt früher ein als bei den Männern. Dies fällt mit dem durchschnittlichen Zeitpunkt der Eheschließungen und Familiengründungen zusammen, was durch das höhere Sportengagement lediger Personen bestätigt wird. Durch die verstärkte familiäre Orientierung in dieser Lebensphase wird das Sportinteresse aber nicht beendet, sondern nur vorübergehend beeinträchtigt. Eine geringe Sportaktivität der Frauen gilt nicht für alle Sportarten. Ausgenommen sind z.B. Tennis, Eislaufen, Schwimmen und der Reitsport. Unterrepräsentiert sind die Frauen vor allem in wettkampforientierten Mannschaftssportarten mit Ausnahme des Volleyballs. Eine positive Mitgliederentwicklung lässt sich seit mehreren Jahrzehnten bei Rentnern und Pensionären beobachten.

Insgesamt betrachtet zeigten sich die deutschen Sportvereine seit der Gründung des DSB von einer ausgesprochenen Wandlungsfähigkeit. Gewandelte Sportinteressen führten dabei offenkundig zu organisatorischen Konsequenzen. So war in der Vergangenheit für die Situation des Sportvereins typisch, dass die Abkehr von der sportspezifischen Tradition im Vereinsleben einherging mit einer Lockerung der Mitgliederbindungen. Mit den hohen Fluktuationsraten drohte die Tradition der Selbsthilfe, der Ehrenamtlichkeit und des Vereinsengagements zu erlöschen. Je intensiver jedoch dabei das Zusammenspiel von Enttraditionalisierung und Spürsinn für neue Problemlagen gelang, desto größer waren die Erfolgschancen der Vereine. Gewandelte Sportbedürfnisse, d.h. nicht nur auf Wettkampfsport und Gemeinschaftsleben, sondern eher auf die Intaktheit des Körpers gerichtete Wünsche machten es notwendig, dass die noch vom traditionellen Ethos gefärbten Organisationsstrukturen neu arrangiert werden mussten. Unter dem Druck außer- und innersportlicher Entwicklungen wurde so die Definitionsmacht des organisierten Sports über das, was in unserer Gesellschaft Sport ist, schwächer. Sport ist heute in der Bundesrepublik nicht mehr gleichzusetzen mit Vereinssport. Bestimmend werden stattdessen die Strukturen moderner Lebensstile. Die durch neue Erlebnisgehalte und Ansprüche an Sportrollen ausgelöste Modifikation des Sporttreibens ist dabei vor- und nachteilig zugleich für die weitere Entwicklung der Sportvereine.
Die quantitative Zunahme der Sporttreibenden scheint gerade an die Modifikation des traditionellen Sports in Richtung eines erweiterten Mediums für Spaß, Fitness, Gesundheit und modernen Freizeitlebensstils gebunden zu sein. Nachteilig sind die große Nachfrage, die Attraktivität und die Pu-blikumserfolge insofern, als sie überkommene Vereinsstrukturen auf die Probe bzw. in Frage stellen. Auf diese Weise werden mit dem veränderten Sportverständnis die für das gemeinsame Engagement in Training und Wettkampf geregelten Strukturen des Vereinslebens gefährdet. Hält ein Sportverein angesichts der veränderten Sportrollen allzu rigide an den alten Normen und tradierten Sportangeboten fest, so verprellt er die Mitglieder und macht sie obendrein unfähig für die Aufnahme neuer Sportinteressen. Das heißt, das Vereinsangebot muss einerseits die veränderte Sportwelt berücksichtigen, andererseits aber auch Ersatz schaffen, z.B. für die traditionell sehr wirksamen Integrationsleistungen. Zu bewältigen ist auch die sich vergrößernde soziale Distanz zwischen den Mitgliedern der Vereine und den sie dominierenden übergeordneten Organisationsapparaten, die durch Wachstum und Professionalität bedingt wird. Als eine Folge davon ist bereits heute eine Zunahme von Anonymität auch in einigen Vereinen zu beobachten ist. Zukünftig werden sich die Sportvereine immer wieder von neuem dem Ideen- und Innovationswett-bewerb mit kommerziellen Sport- und Gesundheitsanbietern stellen müssen. Veränderte Lebensgewohnheiten müssen inhaltlich bei der Organisation der Angebote berücksichtigt werden. Voraussetzung dafür ist eine gezielte Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen. Die für andere Einrichtungen selbstverständlich gewordene Prüfung und Beobachtung der Akzeptanz ihrer Leistungen wird künftig auch für Sportvereine bedeutsam werden. Primär wird das Augenmerk hierbei auf die Differenzierung der Angebotsstruktur hinsichtlich veränderter Geschlechterrollen und Körperideale, auf notwendig werdende Rationalisierungs- und Professionalisierungsmaßnahmen im Bereich des Vereinshandelns und auf die Qualität der Sportinfrastrukturen zu richten sein. Zur Lösung dieser Aufgaben bedürfen die Sportvereine einer Beratung, die sportwissenschaftlich fundiert sein müsste. Systemtheoretische Untersuchungen zum Sportverein könnten hierzu eine Hilfe sein, wobei vor allem das nur noch schwer kontrollier- und steuerbare Interessengefüge, in denen sich viele Vereine befinden, dadurch erfassbar werden könnte. Die Frage der Autonomie der Sportvereine, die sich dabei stellt, bedarf sowohl sozioökonomischer Analysen als auch ganz neuer juristischer Reflexionen. Als ein ökonomisches Problem stellt sich auch die in ihren Folgen für die Vereinsstruktur nur schwer einschätzbare Kommerzialisierung von Sportvereinen dar. Schließlich hat das Wachstum der Sportvereine auch die Frage nach den Grenzen aufgeworfen, wobei vor allem das Prinzip der Ehrenamtlichkeit und das Prinzip der Zielgruppen-Offenheit zur Disposition stehen. In diesem Zusammenhang müsste der Verein auch vermehrt Thema philosophisch-ethischer Erörterungen werden.

Literatur beim Autor

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 17. August 2021