Sport und Medien – Entwicklungstendenzen und Probleme einer lukrativen Beziehung

Entwicklung des Sports nach dem II. Weltkrieg

Will man das Phänomen des modernen Sports, so wie es sich uns in diesen Tagen zeigt, angemessen nachzeichnen, so ist es hilfreich, wenn man sich an Vergangenes erinnert. Vor 60 Jahren bin ich hier in Stuttgart zur Schule gegangen. Handball war dabei mein wichtigster Lebensinhalt. In der Schule gab es ein Unterrichtsfach mit dem Namen „Leibesübungen“. Die Lehrer wurden offiziell Leibeserzieher genannt, wenngleich sie aus der Sicht der Schüler Turnlehrer waren. Völkerball, Schleuderball, Staffelwettkämpfe, Handball und Fußball waren die beliebtesten Sportspiele. Retter und Schlienz, später dann Waldner und Geiger waren die Idole, die uns der VfB Stuttgart offerierte. 6000 Zuschauer konnte das Dreikönigsturnier im Handball auf den Stuttgarter Killesberg locken. Der grüne Sportbericht wurde Sonntagabends von den Jugendlichen sehnsüchtig erwartet, bei Fußballspielen gab es in regelmäßigen Abständen kleine Dorfkonflikte. Geoffrey Duke war auf der Solitude der ungekrönte Held in der 500 cm³ Klasse, Baltisperger aus Reutlingen war unser nationaler Hero, Max Resch war unser Boxidol und erwartungsvoll blickten wir alle auf die Olympischen Sommerspiele, die 1972 in München stattfinden sollten.

Seit dieser Zeit hat sich das System des Sports auf geradezu revolutionäre Weise verändert. Eine relativ einfache, überschaubare Sportlandschaft hat sich zu einem der bedeutendsten gesellschaftlichen Teilsysteme weiterentwickelt, das sich in seiner Komplexität nur noch mit Mühe überblicken lässt. Die stattgefundenen Veränderungen lassen sich hierbei als ein Prozess der Versportlichung unserer Gesellschaft beschreiben.

Wenn wir die Versportlichung unserer Gesellschaft in den vergangenen 60 Jahren nachzeichnen möchten, so können wir erkennen, dass der Sport imperiale Züge aufweist. Sport ist mittlerweile in aller Munde. Wo immer in dieser Gesellschaft Kommunikation stattfindet, ist die Kommunikation über Sport naheliegend. Ob im Bundestag oder in der Stammkneipe, ob in öffentlichen Medien, in Universitäten oder in Foren dieser Art, Sport als Kommunikationsinhalt hat Hochkonjunktur. Sport ist dabei längst zu einem Synonym für die gesamte Bewegungs-, Spiel- und Körperkultur unserer Gesellschaft geworden. Es ist zu einer Ausweitung der Semantik des Sportbegriffes gekommen und man kann allenthalben beobachten, wie Orte mit dem Begriff Sport besetzt und Tätigkeiten mit dem Begriff Sport näher gekennzeichnet werden. Sport steht sowohl für den stillgestellten als auch für den dynamisch sich beschleunigenden Körper, Yoga gehört ebenso unter das Dach des Sports wie die Atemgymnastik, das Joggen und das Wandern, aber auch der harte Kern des Sports existiert nach wie vor, d.h. die traditionellen Sportarten mit ihren kompetitiven Elementen. Alles ist gleichsam Sport geworden. Sport ist mittlerweile auch allerorten. War früher der Sport auf die Anlagen des traditionellen Sports begrenzt – d.h. die rechteckigen Turnhallen und die Freiluftplätze, die der Sport über seine Regeln definiert hatte – so wird Sport mittlerweile in der Luft, am Boden und im Wasser betrieben und er zeigt dabei alle Varianten auf, die diese Räume ihm ermöglichen. Neben einer Ausweitung der Räumlichkeiten lässt sich auch eine Veränderung in Bezug auf die Sporttreibenden beobachten. Sport ist heute eine Tätigkeit für jeden Mann und für jede Frau, er hat sich im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Massenphänomen entwickelt. War Sport vor 60 Jahren eine Angelegenheit von jungen Menschen – und dabei vorrangig von jungen Männern – und war auch die Umwelt des Sports im Wesentlichen über eine athletische Männlichkeit geprägt, so hat sich dies entscheidend verändert. Dem Sport ist es längst gelungen, nahezu alle Gruppen unserer Gesellschaft mit seinem Angebot zu erreichen. Sport ist somit eine Angelegenheit von der Wiege bis zur Bahre: es existieren bereits Sportkindergärten, Sportinternate und Spezialschulen zugunsten des Sports sowie Sportkrankenhäuser – in der Reihe fehlt eigentlich nur noch der Sportlerfriedhof.

Wenn ein Phänomen in dieser umfassenden Weise unsere Gesellschaft tangiert und Massen an sich bindet, so ist es naheliegend, dass es auch eine Sache des Geldes wurde, und wo immer wir heute über Sport diskutieren, diskutieren wir über ihn in Verbindung mit der Frage der Finanzen, mit der Frage nach den Möglichkeiten des Verdienstes und mit der Frage nach den potentiellen Verlusten. Die Ökonomisierung ist prägend für den Sport, so wie er uns heute begegnet. Dabei ist auch die Ökonomie selbst einem Versportlichungsprozess unterlegen. Es ist ein interessanter Austausch diesbezüglich zu beobachten.

Auch die Wissenschaft mit ihrem Expertenwissen hat Einzug in diese interessante und komplexe Welt des Sports gehalten. Immer mehr Wissenschaftler und Teildisziplinen der Wissenschaft beteiligen sich an der Beratschlagung des Sports. Ja, sie profitieren von der Ausdifferenzierung des Sports durch die Entstehung eigener Wissenschaftsprofessionen zu Gunsten des Sports. Insbesondere die Technologie ist dabei ein entscheidender Antriebsmotor für die Sportentwicklung und Technologen mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen sind in der Welt des Sports besonders gefragt.

Sport ist ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und alles, was wichtig wird, ruft auch Konflikte hervor. Verteilungsprobleme und die Frage nach dem „Oben“ und „Unten“ stellt sich auch für das System des Sports und so kann es nicht überraschen, dass der Sport in den vergangenen Jahrzehnten einem umfassenden Verrechtlichungsprozess ausgeliefert war. Nirgendwo wird dies deutlicher als in Fragen des Berufssports, aber auch am Problem des Betrugs und hier insbesondere am Problem des Dopingbetrugs lässt sich diese Entwicklung aufzeigen. Wir stehen kurz vor der Professionalisierung des Sportrechts an den Universitäten, Lehrstühle werden bereits für dieses Feld ausgewiesen und wir können jetzt schon beobachten, dass es – analog zu der Profession des Sportmediziners – Anwaltskanzleien geben wird, die sich als Kanzleien des Sportrechts auf dem Anwältemarkt präsentieren.

Sport war auch immer schon eine Angelegenheit der Politik, sowohl aus bestimmten Eigeninteressen heraus als auch aufgrund des politischen Auftrags, der sich durch die Wähler ergibt. Wenn wir die vergangenen Jahrzehnte unter dem Aspekt der Sportentwicklung etwas genauer beleuchten, so können wir erkennen, dass es dabei auch zu einem Zuwachs der politischen Einflussnahme in das System des Sports gekommen ist. In vieler Hinsicht kann man bereits von der naheliegenden Konsequenz sprechen, dass – wie es in anderen Industrienationen bereits üblich ist – auch in Deutschland eine Bundeskompetenz für die Sportpolitik dezidiert ausgewiesen wird.

Wenn man den Prozess der Versportlichung unserer Gesellschaft genauer betrachtet, so kann man diese Entwicklung als einen Prozess der funktionalen Differenzierung beschreiben (vgl. Abb. 1). Der Sport steigert seine Funktionalität, er wird von immer mehr Funktionen, die an ihn herangetragen werden, belastet und in gewisser Weise auch überlastet. Die Ausdifferenzierung lässt sich dabei auf der Seite der Anbieter beobachten. Gab es zunächst nur wenige Anbieter des Sports – dies waren vorrangig die Vereine und Verbände, die gleichsam ein Monopol auf der Angebotsseite aufzuweisen hatten – so sind nun insbesondere auf dem privaten und kommerziellen Sektor viele neue Anbieter hinzugekommen. Gleiches lässt sich auf dem Gebiet der Angebote erkennen. Im Jahre 1950 waren gerade einmal 21 Sportverbände an der Gründung des Deutschen Sportbundes beteiligt. Heute unterscheidet man im DSB insgesamt 65 Sportverbände, die teilweise mehrere kompetitive Sportarten unter ihrem Dach vereinen. Bei Fragen der Städte- und Raumplanung werden heute bereits mehr als 240 Sportaktivitäten, Sportarten und Bewegungsmuster unterschieden, die gleichsam die Angebotsfülle dokumentieren, die den Menschen in unserer Gesellschaft offeriert wird.

Auf der Seite der sporttreibenden Personen ist ebenfalls ein umfassender Prozess der Ausdifferenzierung im Gange. Wie bereits erwähnt, waren es früher vorwiegend junge Männer, die in ihrer Freizeit sportlichen Aktivitäten nachgingen. Heute erfasst der Sport alle Menschen und es können vor allem die Frauen als die entscheidende Wachstumskomponente des modernen Sportsystems identifiziert werden. Der Sport hat sich nun aber auch allen Problemlagen zugewandt, was zur Folge hatte, dass nunmehr eine Reihe von Problemgruppen unserer Gesellschaft als neue Zielgruppen in den Sport integriert wurden. Von den Drogenabhängigen über Alkoholsüchtige, von den Ausländern bis zu Straffälligen – man könnte nahezu jedes soziale Problem in unserer Gesellschaft benennen, auf das der Sport in den vergangenen 60 Jahren teilweise sehr erfolgreich, häufig aber auch ohne Erfolg angewandt wurde.

Neben einer Pluralität der Räume, in denen Sport betrieben wird, ist es auch zu einer Ausdifferenzierung der für das Sporttreiben zeitlichen Dispositionen gekommen. Während man früher nach der Arbeit abends zwei- bis dreimal die Woche Sport betrieb und am Wochenende zu Wettkämpfen fuhr, so werden heute Sportangebote zu jeder Zeit für Jedermann zur Verfügung gestellt. Ferner veränderte sich die Finanzierung des Sports, indem nun variable Finanzen eingesetzt werden, im Bereich der Motive für das Sportengagement ist es zu einer Motivvielfalt gekommen und aus institutioneller Sicht prägen in der heutigen Zeit viele verschiedenartige Institutionen und Organisationen das komplexe System des modernen Sports in unserer Gesellschaft.

Für den Bürger ist durch die Ausdifferenzierung des Sportsystems eine Optionsvielfalt entstanden, bei der der Sport zum Wahlmenü wurde. Die klassische Pyramide von einst (vgl. Abb. 2), so wie sie insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren in der Sportsoziologie diskutiert wurde, ist ins Wanken geraten. Das traditionelle Pyramidenmodell mit einer breiten Basis und einer schmalen Spitze ist eingebrochen.

Abb. 2: Pyramidenmodell des Sports

An die Stelle dieser Pyramide trat eine komplexe Sportlandschaft, die sich derzeit in einem Übergangsprozess befindet. Eine Tendenz ist dabei zu erkennen. Es entstehen Teilsysteme im System des Sports, wobei zum heutigen Zeitpunkt sicher noch nicht von geschlossenen Systemen gesprochen werden kann, da sich noch nicht spezifische Codes ausmachen lassen, aber die Teilgebildeentwicklung ist unaufhörlich im Gange. In meinen Arbeiten werden fünf verschiedene Sportmodelle unterschieden (vgl. Abb. 3). Konjunktur haben hierbei insbesondere der „Sport ohne organisierten Wettbewerb“, der „instrumentelle Sport“ sowie der „Berufssport“, welcher vor allem in den Medien die Aufmerksamkeit genießt und die Zuschauermassen fasziniert. Die Entwicklung, die hier aufgezeigt wurde, könnte auch auf eine etwas karikaturhafte Formel gebracht werden: Das freche „frisch, fromm, fröhlich, frei“ eines Turnvater Jahns ist in der Versportlichung unserer Gesellschaft von den vier P abgelöst worden: „Product, Price, Placement and Promotion“. Die vier M „Markt, Medien, Mode, Medizin“ wären noch hinzuzufügen, da sie die Antriebkräfte in der aktuellen Entwicklung des Sports darstellen.

Abb. 3: Säulenmodell als Folge funktioneller Ausdifferenzierung

Beobachtungen zur Mediatisierung unserer Gesellschaft – dargestellt am Beispiel des Fernsehens

Nachdem die Entwicklung des Sports in den vergangenen 60 Jahren als ein Versportlichungsprozess gekennzeichnet wurde, wird im Folgenden die Medienseite in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Hierbei kann von einem Prozess der Mediatisierung gesprochen werden, welcher insbesondere am Fernsehen deutlich wird. Auch für das System der Massenmedien lässt sich ein Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung erkennen, der eine ähnliche Qualität und eine ähnliche Struktur aufweist, wie dies für das System des Sports nachgezeichnet werden kann (vgl. Abb. 4). So war der Beginn der modernen Massenmedien nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine sehr schwache Differenzierung auf der Anbieterseite gekennzeichnet. Die Fernsehzuschauer hatten damals lediglich die Wahl zwischen zwei öffentlich-rechtlichen Programmen. In einem nächsten Schritt wurden die Dritten Programme der ARD eingeführt und seit dem Jahr 1984 können die Zuschauer auf eine Fernsehlandschaft zurückgreifen, welche neben den bereits vorhandenen Programmen auch private Anbieter und Pay-TV-Kanäle aufweist. Dabei scheint die Anzahl der Fernsehprogramme unendlich steigerungsfähig zu sein. In den letzten beiden Jahrzehnten sind noch die vielen Möglichkeiten des Internets dazugekommen, mit dem das Angebot an bewegten Bildern nahezu unendlich geworden ist.

Vergleichbares ist auf der Seite der Fernsehzuschauer erkennbar. In früheren Jahren begann ein Fernsehtag am Nachmittag und war somit in Abhängigkeit zur Arbeitswelt definiert. Dies ist nun längst Vergangenheit und mit einem Wandel der Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind auch Veränderungen in Bezug auf die Zielgruppen des Fernsehens erstanden. Analog zum Sport haben sich auch für das Fernsehen die Zielgruppen quantitativ erweitert, man möchte gleichsam von der Wiege bis zu Bahre alle Menschen erreichen. Neben der Entwicklung des Fernsehens zum Massenmedium werden über Spartenprogramme und Special-Interest-Angebote nun auch spezifische Akzente gesetzt und spezielle Zielgruppen angesprochen.

Auch bezogen auf den Raum, in dem die Fernsehprogramme konsumiert werden, lassen sich Ausdifferenzierungen beobachten. War in früheren Zeiten das Wohnzimmer der Ort, an dem sich die Familie all abendlich vor dem Fernsehgerät versammelte, so findet man heute in den deutschen Haushalten in nahezu jedem Raum ein Fernsehgerät. Die Zeit, in der das Fernsehgerät eingeschaltet ist, wurde ferner einem Wandel unterzogen. Während dies vor einigen Jahren nur am Abend und an den Wochenenden geschah, ist heute das Fernsehen ein Ganztagesmedium, welches – im Stile der amerikanischen Fernsehzuschauer – immer häufiger nur als Hintergrundmedium genutzt wird. Eine wesentliche Veränderung hat sich auch hinsichtlich der Finanzierung der Fernsehanbieter ergeben. Haben früher die Rundfunkgebühren gegenüber den Werbeeinnahmen überwogen, so sind es nun vorwiegend (mit Ausnahme von ARD und ZDF) die Werbeeinnahmen, mit denen die TV-Sender ihre Ausgaben bestreiten. Hinzugekommen sind Entgelte für Pay-TV-Kanäle oder Pay-per-View-Angebote. Als letzte Veränderung sind noch die Motive für den Fernsehkonsum zu benennen, welche sich von einem Konzept „Informationen – Bildung – Unterhaltung“ in „Unterhaltung – Information – Hintergrundinformation“ verwandelte. Möchte man diesen Wandel des Fernsehens noch genauer kennzeichnen, so kann man auch einen gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs erkennen, der insbesondere dadurch zum Ausdruck kommt, dass das Fernsehen selbst immer entschiedener zum alltäglichen Kommunikationsthema wird. Sendungen wie „Big Brother“ erfüllen in diesen Tagen eine ähnliche Funktion wie die Stammtischdiskussionen über das samstägliche Fußballspiel. Auch die Fernsehprominenz, d.h. die Moderatoren und Nachrichtensprecher, werden selbst zur Prominenz und somit zu herausragenden Personen des öffentlichen Lebens.

Abb. 4: Die Televisionierung in unserer Gesellschaft – ein Prozess funktionaler Differenzierung

Spricht man über die Veränderungen des Mediums Fernsehen, muss man auch den Wandel in den Programmangeboten und deren Präsentationsformen berücksichtigen. Dabei ist vor allem das Entertainment, das Infotainment und das Confrontainment zu erwähnen, die Magazinierung – auch Häppchenkultur genannt – ist gleichermaßen vorhanden wie eine besondere Form der Videoclip-Ästhetik. Insgesamt kann man einen Trend zur Boulevardisierung, zur Emotionalisierung und zur Personalisierung auf allen Fernsehkanälen beobachten.

Die Ausweitung der Fernsehprogramme und -sendungen sowie die Art der Präsentation geht aber nicht spurlos an denjenigen vorüber, welche das Massenmedium nutzen. Somit muss man auch hier die Frage nach den Wirkungen stellen, welche das Fernsehen bei seinen Rezipienten hinterlässt. Die Multiplikation der Angebote und der Anbieter legt dabei die Gefahr einer Reiz- und Informationsüberflutung nahe und eine Orientierungslosigkeit im Dschungel der Programme besteht hierbei nicht nur für ältere Menschen, sondern es ist mittlerweile zu einem grundsätzlichen Problem aller Zuschauer geworden. Die Kluft zwischen Wissenden und Unwissenden vergrößert sich und das, was verstanden wird und nicht verstanden wird gestaltet sich zum zentralen Problem. Manche Menschen zeigen dabei schon Tendenzen des Rückzugs und orientieren sich an lokalen oder regionalen Bezugssystemen.

Sport- und Medienentwicklung aus modernisierungstheoretischer Sicht

Betrachtet man den Versportlichungsprozess auf der einen und den Mediatisierungsprozess auf der anderen Seite, so lassen sich die hier beschriebenen Veränderungen aus einer modernisierungstheoretischen Sichtweise deuten und einordnen. Dabei scheinen wir uns in einem Übergang aus einer Industriegesellschaft in eine Informations- und Wissensgesellschaft zu befinden, bei dem insbesondere sieben Tendenzen beachtenswert erscheinen (vgl. Abb. 5).

Da ist zunächst die Individualisierung zu benennen. Es scheint dabei unzweifelhaft zu einer sukzessiven Erosion traditioneller, d.h. von Generation zu Generation tradierter Lebensgemeinschaften gekommen zu sein. Diese Freisetzungsdimension ist dabei keineswegs nur problematisch, da sie in vieler Hinsicht eine notwendige Chance und Bedingung für eine weitere Modernisierung darstellt. Es kommt ferner zu einer Infragestellung von traditionellen, handlungsleitenden Mustern und kulturellen Normen, Wissensnormen und Glaubenssätzen, was man auch mit der fortschreitenden Säkularisierung kennzeichnen könnte. Beck spricht in diesem Zusammenhang von der Entzauberungsdimension des Traditionellen, manches wird befreit von seinem Zauber und ist damit auch nicht mehr handlungsleitend. Wo immer solche neuen Freiräume für die Bürger entstehen, benötigt man Reintegrationsmechanismen, und es ist nicht überraschend, dass die Individuen neue Einbindungsformen in Reaktion auf die Auflösungstendenzen für sich selbst in Anspruch nehmen. Dass dabei der Sport ein Anschlusssystem bildet, das in vieler Hinsicht Hilfe bereitstellen kann, ist offensichtlich, und es kommt nicht von ungefähr, dass gerade der organisierte Sport mit seinen Angeboten und mit seinen Organisationsstrukturen kontinuierlich Bürger an sich bindet. Dieser Prozess ist in den vergangenen 60 Jahren zu keinem Zeitpunkt aufgehalten worden, im Gegenteil, er weist nach wie vor Wachstumsraten auf.

Das zweite Merkmal ist die Rationalisierung. Die Rationalisierung im Sinne einer Modernisierung von Gesellschaft zeigt sich vorrangig darin, dass sich die Handlungsgrundlagen der Bürger von wertrationalen Entscheidungen entfernen und sich zweckrationalen Entscheidungen zuwenden. Die Gesinnungsethik und Wertüberzeugungen werden nach und nach von funktionalistischen Effektivitätserwägungen abgelöst. Input/Output-Kalkulationen treten an die Stelle von Prinzipientreue und Wertorientierung. Dies läßt sich sowohl im Sport als auch in den Medien, in der Erziehung und im alltäglichen Leben beobachten.

Das dritte Merkmal ist die Ökonomisierung. Im Zuge der Rationalisierung kommt es zum Ausbau der Vormachtstellung wirtschaftlicher Rationalität. Individualisierung und Rationalisierung verschmelzen sich zu einem utilitaristischen Individualismus, der eine persönliche Nutzen- und Vorteilsmaximierung als oberstes Gebot festlegt. Kosten/Nutzen-Kalküle werden hierbei zur Orientierungsbasis in nahezu allen Lebensbereichen. Immer mehr Bereiche des Alltagslebens werden durchkapitalisiert und vermarktet. Zunehmend betroffen dabei sind vor allem die Bereiche der Privatheit der Bürger sowie die Kinder- und Jugendzeit. Das Ausnutzen von Privilegien und damit der Auszug aus der Solidargemeinschaft wird so zum gängigen Merkmal der Alltagspraxis.

Ein besonderes Kennzeichen der Moderne ist eine zunehmende Verrechtlichung der Hierarchie- und Gewaltverhältnisse zwischen den gesellschaftlichen Mitgliedern, und deshalb kommt es zu einer umfassenden Ausweitung des Rechtssystems. Diese Verrechtlichung erreicht alle Lebensbereiche, insbesondere die privaten, sozialen und kulturellen Sektoren unserer Gesellschaft.

Die Mediatisierung kann als ein weiterer Teilprozess im Rahmen der Modernisierung beschrieben werden. Es kommt dabei vor allem zu einem beschleunigten Wachstum der informationstechnischen Industrie, traditionelle Medien gehen mit neuen Medien Symbiosen ein, neue Übertragungswege eröffnen sich, Medien erreichen alle Lebenswelten und die Massenmedien definieren immer entschiedener, was relevant in unserer Gesellschaft ist und was nicht.

Die Verwissenschaftlichung ist nicht nur dort zu beobachten, wo Wissenschaftler als Gutachter und Schiedsinstanzen auftreten – z.B. vor Gerichten – sie ist auch im Bereich der Politik, der Medien und der Wirtschaft zu erkennen. Die Wissenschaft entscheidet über Nutzen und Wahrheit, und gerade bei politischen Entscheidungen beruft man sich vermehrt unter dem Aspekt der Legitimation auf die Wissenschaft. Dabei wird die Wissenschaft immer mehr auch zur Amateurwissenschaft und erreicht auf diese Weise den Alltag der Menschen. Dies wird besonders im Sektor des medizinischen und psychologischen Wissens deutlich. Die Verwissenschaftlichung geht aber nicht selten mit einem Trivialisierungsprozess einher, im Wissensfortschritt verlieren die Erkenntnisse immer mehr an Bedeutung.

Abschließend ist die Globalisierung als folgenreicher Trend zu kennzeichnen. Die Globalisierung hat ihren Ursprung in den Industrieunternehmen. Der Begriff weist auf Veränderungen und Zunahmen von grenzüberschreitenden Aktivitäten hin. Ging es zunächst um Fertigung, Materialbeschaffung, Marketing und Finanzierung, so ist heute längst auch ein Transfer von Informationen, Waren, Dienstleistungen und Know-how zu beobachten. Eindrucksvolle Belege für diesen Globalisierungsprozess sind die ausländischen Direktinvestitionen, internationale Kooperationen auf Firmenebene, die sich wandelnde Struktur des internationalen Handels sowie die Globalisierung der Finanzmärkte.

Abb. 5: Gesellschaftlicher Wandel zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Sport und Medien – eine lukrative Beziehung

Vor dem Hintergrund dieser Modernisierungsprozesse sind sowohl die Versportlichung als auch die Mediatisierung naheliegende, verständliche Entwicklungsprozesse. Auf dieser Basis scheint eine Beziehung zwischen Sport und Medien für beide Seiten höchst lukrativ zu sein. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Unsere moderne Gesellschaft hat ihre positiven Seiten, aber die Menschen in dieser Gesellschaft machen auch Verlusterfahrungen. Und es scheint so zu sein, dass die Verlusterfahrungen, welche die Menschen in dieser Gesellschaft erleben, auf nahezu ideale Weise über die Sportberichterstattung im Fernsehen aufgefangen werden können (vgl. Abb. 6). So stellt sich unserer heutigen Gesellschaft das Problem der Routinisierung, Bürokratisierung und Langeweile im Arbeitsleben. Der Mensch sucht in seiner Freizeit nach Spannung und Risiko und genau dieses Bedürfnis wird durch das Sportfernsehen risikolos befriedigt. Man selbst geht keine Risiken ein, wenn man ein Formel 1-Rennen oder ein 400 m-Rennen in der Leichtathletik am Fernsehgerät verfolgt, aber das Bedürfnis nach Spannung wird auf ideale Weise befriedigt. Ferner ist in unserer Gesellschaft eine Zunahme des Nicht-Verstehens und der Intellektualisierung zu beobachten. Angesichts dieser Situation suchen immer mehr Menschen das Anschauliche. Was ist anschaulicher als der Sport, der über die Definition seiner Regeln von jedermann auf eine relativ einfache Weise nachzuvollziehen ist. Es ist auch eine Enttranszendierung in unserer Gesellschaft festzustellen, die sich in einer Verflüchtigung des Religiösen und des Göttlichen äußert. Auch hier bietet der Sport im Fernsehen den Menschen eine Hilfe, denn durch die Verehrung der sportlichen Helden scheint eine Ersatzreligion entstanden zu sein, die allerdings Züge der Vergänglichkeit aufweist. Ein schwieriges gesellschaftliches Problem ist auch in der zunehmenden Affektdämpfung und Körperdistanzierung zu sehen, die sich in einer Dominanz des Denkens und Wissens äußert. Im Sport hingegen sind Affekte erlaubt und erwünscht. Besonders deutlich wird dies in der Sportberichterstattung, die das emotionale Moment des Sports mittels Bild und Ton in den Vordergrund rückt. Die moderne Gesellschaft hat zudem einen Gemeinschaftsverlust zu beklagen, dem auf der Seite des Sports und des Sportfernsehens ein Gemeinschaftserlebnis, Nähe und die Möglichkeit zur Identifikation gegenübersteht. Die durch den Modernisierungsprozess entstandene Differenzierung und Spezialisierung beeinträchtigt die Geselligkeit und Kommunikation zwischen den Menschen. Der Sport bietet demgegenüber ein ideales Kommunikationsthema innerhalb der Alltagskultur, sei es am Arbeitsplatz, in der Schule oder bei Treffen mit Freunden. Schließlich sind noch die biographischen Disparitäten zu nennen, die in modernen Gesellschaften als Normalität angesehen werden müssen. Der Sport offeriert im Gegensatz dazu durch eine kontinuierliche Ausübung und ein überdauerndes Sportinteresse biographische Fixpunkte für das Leben der Menschen.

Abb. 6: Sport als idealer Partner für das Medium Fernsehen – Zum Zusammenhang zwischen Verlusterfahrungen der Menschen und deren Zuschauerverhalten

Aus dieser lukrativen Beziehung zwischen Sport und Medien gehen nunmehr viele Gewinner hervor: der Sport mit seinen Verbänden und Athleten, die TV-Anbieter mit ihren Sportjournalisten, die Sportrechteagenturen, die Werbewirtschaft und nicht zuletzt die Fernsehzuschauer. Abb. 7 veranschaulicht im Überblick die positiven Effekte für alle an dieser Verbindung Beteiligten.

Abb. 7: Gewinner in der Beziehung Sport und Medien

Doch auch lukrative Beziehungen können problematische Beziehungen darstellen und so muss man davon ausgehen, dass auch die Beziehung Sport – Medien keine problemlose Zukunft vor sich haben wird.

Sport und Medien – eine problemlose Zukunft ist unwahrscheinlich

Welche Probleme sich der Beziehung zwischen Sport und Medien stellen werden, lässt sich u.a. anhand der Entwicklung demographischer Daten aufzeigen. Neben einer stetigen Abnahme der Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich eine Vergreisung unserer Gesellschaft feststellen. Prognosen zufolge wird der Anteil der über 60jährigen im Jahr 2050 annähernd 40% betragen. Die Frage, die sich sowohl dem Sport als auch den Medien in allen nordeuropäischen Ländern stellen wird, ist die des Umgangs mit der neuen Verteilung der Altersgruppen.

Ein weiterer Faktor, der bedacht werden muss, ist der Ausländeranteil in Deutschland. Momentan leben ca. 7,31 Millionen ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen in unserem Land und ihr Anteil nimmt von Jahr zu Jahr kontinuierlich zu. Somit ist eine ethnische und kulturelle Vermischung in unserer Gesellschaft unaufhaltsam und nicht nur aus ökonomischer Sichtweise auch wünschenswert. Dieser Prozess muss den Medien und dem Sport bewusst sein, um perspektivisch die Zukunft planen und steuern zu können (vgl. Abb. 8).

Abb. 8: Deutschlands Lebenskurve (Bevölkerungszahl von 1950 bis 2060 in Millionen)

 

Abb. 9: Aktueller Ausländeranteil in Deutschland (Angaben in Millionen)

 

Auch die veränderte Rolle und Partizipation von Frauen in unserer Gesellschaft hat Auswirkungen auf beide Systeme. Längst dringen Frauen zu Recht in alle personalen Positionen vor, die unsere Gesellschaft zu offerieren hat.

Die Gesamtsituation für den Sport und für die Medien gestaltet sich somit schwierig und man kann dabei einen Aufstieg und Abstieg in beiden Systemen erkennen. Im Sportsystem kann man dies deutlich an den Veränderungen der Mitgliederzahlen in einzelnen Sportverbänden beobachten. Re-analysiert man die Statistiken des Deutschen Sportsbundes der letzten fünf Jahre, so lassen sich als Aufsteiger die Sportarten Golf, Baseball, Inline-Skating, Boccia, Frauenfußball und Beachvolleyball benennen. Auf der Seite der Absteiger stehen Alpiner Skilauf, Tennis, Fechten, Motorsport, Karate, Bob- und Schlittensport, Tischtennis, Taekwondo, Squash und Wasserski.

Absehbare Probleme sind somit sowohl im System des Sports als auch im System der Massenmedien zu erkennen. Auf der Seite des Sportsystems lassen sich folgende ausgewählte Entwicklungsprobleme aufzeigen:

  • Die Kluft zwischen arm und reich im System des Sports vergrößert sich.
  • Die Kluft zwischen arm und reich in den Sportarten wird immer größer.
  • Es findet eine ziellose Vermehrung der Sportaktivitäten bei einer gleichzeitigen Gefährdung traditionaler Sportarten statt.
  • Der Hochleistungssport weist ein Legitimationsproblem auf, welches immer weniger lösbar erscheint.
  • Die Risiken im System des Sports erhöhen sich. Davon betroffen ist insbesondere die Finanzierung der Vereins- und Verbandsarbeit.
  • Das eigentliche ökonomische Fundament des Sportsystems – die Ehrenamtlichkeit – wird zunehmend gefährdet.
  • Der Generationenvertrag ist in den Sportverbänden brüchig geworden.
  • Die Ressource „erfolgreiche/r Athlet/in“ ist nur noch schwach gesichert.
  • Der Sport als Konsumgut mit seinen Sportarten wird zu einer austauschbaren Wegwerfware.
  • Der Sport verliert zunehmend seine ethisch-moralischen Grundlagen.
  • Der Sport verliert seine Authentizität.
  • Die Diskrepanz zwischen den Funktionen, welche der Sport erfüllen soll und welche er zu erfüllen in der Lage ist, wird immer größer.
  • Die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Motiven des Sporttreibens und den Motiven, welche durch die Medien dargestellt werden, wird immer problematischer.

Nicht weniger kritisch stellt sich die Situation im Bereich der Massenmedien dar. Das System der Massenmedien weist hierbei folgende ausgewählte Entwicklungsprobleme auf:

  • Durch die Informationsüberflutung wird ein Informationsüberschuss erzeugt, d.h. der Anteil an nicht konsumierter Information wächst.
  • Die Informationsüberlastung bringt Folgen für die Wissensverteilung innerhalb einer Gesellschaft mit sich. Personen mit einem höheren sozialen Status und/oder höherer formaler Bildungsqualifikation nehmen Informationen rascher auf als Personen, die nur über eine niedrige, allgemeine Schulbildung verfügen und/oder den unteren Schichten angehören. Die bereits vorhandene Wissenskluft zwischen Wissenseliten und den Unwissenden wird größer.
  • Mit dem Internet steht ein weltumspannendes, bislang in seiner Nutzung völlig unkontrolliertes Medium den Rezipienten zur Verfügung.
  • Die Quotenorientierung führt zum „Massen“-Medium. Masse bedeutet jedoch immer nur Orientierung am Mittelmaß, dies bedeutet wiederum vorrangig Quantität und nur selten Qualität.
  • Die soziale Ungleichheit wird sich durch Pay-TV und Pay-per-View-Angebote noch steigern.

Was bleibt als Ausblick angesichts dieser Problemanalyse zu sagen? Rezepte zur Lösung der Probleme stehen derzeit nicht zur Verfügung. Die wichtigste Maxime für die Steuerung beider Systeme ist sicherlich in einem sozial abgesicherten Leistungsprinzip zu sehen, das aber längst durch die Systeme selbst in Frage gestellt wird. Käme wirklich ein Leistungsprinzip in beiden Systemen zur Anwendung, so wären beide Systeme aufgefordert, sich einer Qualitätsoffensive zu stellen. Das Kernstück einer solchen Offensive müsste ein Upgrade-Programm für alle Beteiligten sein. Eine Aus- und Weiterbildungsoffensive ist dabei unverzichtbar geworden. Um die Beziehung zwischen dem Sport und den Medien erfolgreich zu gestalten, ist eine Kooperation der Konkurrenten in den beiden Systemen Sport und Medien sowie zwischen den Systemen unabdingbar. Nur bei einer konstruktiven Kooperation der Konkurrenten, die allerdings auch vertragliche Qualitäten aufzuweisen hätte, ist zu erwarten, dass einige der aufgezeigten Probleme zukünftig im Interesse aller Beteiligten gelöst werden und damit die beschriebene lukrative Beziehung mit neuen Qualitäten bereichert werden könnte.

Verfasst: 05.11.2018