Besonderheiten der jüngsten olympischen Sportart
Martin Kaymer war begeistert. Nach einem jahrelangen Kampf war es endlich gelungen, Golf in die Familie der olympischen Sportarten zurückzubringen. Mit einem Turnier für Männer und Frauen bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 ist der Golfsport in die Moderne des olympischen Hochleistungssports eingetreten. Martin Kaymer gehörte zu den vier Auserwählten, die Deutschland bei diesen Spielen repräsentieren durften. Am Ende hatte er den 15. Platz erreicht. Caroline Masson war die beste deutsche Dame auf dem 21. Platz. Mit dem Turnier von Rio ist Golf in gewissem Sinne zurückgekehrt in den Kreis der anerkannten Sportarten, wenngleich sich das Golfspiel nahezu in allen relevanten Belangen von jeder anderen Sportart ganz wesentlich unterscheidet. Als Leistungssport weist Golf Alleinstellungsmerkmale auf, wie sie bei keiner anderen olympischen Sportart anzutreffen sind. Für mich sind dabei zwölf Merkmale erwähnens- und beachtenswert, wenn wir die neue olympische Sportart Golf mit den übrigen Mitgliedern der olympischen Sportfamilie vergleichen wollen.
… Golfsprache …
In den letzten Wochen und Monaten habe ich den Alltag des Golfspiels auf mehreren Golfanlagen beobachtet. Einmal mehr wurde mir dabei bewusst, dass Golf ein Faszinosum ist, das sich bei genauerer Betrachtung als äußerst schillernd erweist. Golf ist von seiner Herkunft ein angelsächsischer Sport, deshalb wird in ihm auch eine angelsächsische Sondersprache gesprochen. Etymologische schwierige Worte werden dabei gebraucht, so z.B. die Begriffe Birdie, Bogey, Par, Chip, Wedge oder Driver. Die Herkunft der Begriffe ist meist auch Spielern nicht bekannt, die der angelsächsischen Muttersprache mächtig sind. Sprecher anderer Muttersprachen verwenden diese Begriffe meist ohne sie semantisch einordnen zu können. Ihnen geht es ähnlich wie manchem Käufer vor einem Kaufhausschaufenster, das mit dem Schild „Sale“ wirbt. Wenn der Käufer sich an sein kleines Latinum erinnert, fragt er sich, warum in diesem Kaufhaus „Salz“ angeboten wird, obgleich dieses Haus lediglich auf seinen Winterschlussverkauf hinweisen möchte. Unterhalten sich Golfspieler in ihrer „Sondersprache Golf“, so hört sich dies für Außenstehende fremdartig, etwas angeberisch und vor allem ziemlich unnatürlich an. Mittlerweile wurde die angelsächsische Golfsprache auch mit deutschen Begriffen angereichert, doch diese erweisen sich selbst für deutsche Muttersprachler auf den ersten Blick kaum als besser verständlich, als die englischen Originale. Warum ein Zählspiel vom Lochspiel abgegrenzt wird, obgleich beim Lochspiel doch auch gezählt wird, ist auf den ersten Blick kaum erschließbar. Warum es im Leben neben der mittleren, der höheren und der Geschlechtsreife noch eine „Platzreife“ geben muss, erschließt sich oft nicht einmal bei einem zweiten oder dritten Blick. Warum noch immer von „Hölzern“ gesprochen wird, obgleich das Holz schon längst aus den Schlägern verschwunden ist und von leichten Metallen und Kunststoffen ersetzt wurde, erschließt sich nicht nur einem Außenstehenden wohl kaum. Dass eine Sportart, die sich durch eine rätselhafte Sondersprache auszeichnet, nicht für jedermann zugänglich ist und ein Vermittlungsproblem in den Massenmedien hat, müsste für jeden verantwortungsvollen Golffunktionär nachvollziehbar sein.
… Golfkarriere …
Neben einer eigenen Sondersprache weist der Golfsport auch ein eigenes Golf-Karrieresystem auf. Auf der Grundlage der international vereinbarten Golfregeln gibt es ein idealtypisches Karrieresystem, das mit der „Platzreife“ beginnt und seine Fortsetzung in der ersten Handicap-Hürde von 54 hat. Dieses hohe Handicap wird vom erfolgreich Trainierenden und in Wettspielen sich bewährenden Golf-Athleten möglichst schnell auf unter 10, besser auf 0, und bei besonders erfolgreicher Karriere in ein noch besseres Handicap verkehrt. Der Aufstieg in der Handicap-Hierarchie erfolgt über ein selbstregulierendes Wettkampfsystem und über die erfolgreichen Wettkämpfe, die der Golf-Athlet bestreitet. Golf ist dabei in der Regel ein Amateursport, der seine Wettkampfhöhepunkte international in sogenannten „Tours“ erreicht. Besonders erfolgreiche Amateurspieler wagen das Risiko und treten als „Professionals“ bei den Profitouren der Golfspieler an. Gehören sie dort zu den Besten, dann sind ihnen Millioneneinnahmen nahezu sicher. Beim olympischen Golfturnier können sowohl Profi- als auch Amateurspieler nominiert werden. In der Realität hat sich allerdings sehr schnell erwiesen, dass bei der limitierten Teilnehmerzahl bei einem olympischen Turnier nur Professionals eine Chance zur Teilnahme erhalten. In Rio spielten 60 Damen und 60 Herren einen Einzel-Zählspiel-Wettbewerb über 72 Löcher. Die Startplätze wurden über das „Olympic Golf Ranking“ ermittelt, das von der IGF (International Golf Federation) festgelegt wurde.
… Golf aus organisatorischer Sicht – ein Kuriosum …
Spielt jemand Hockey, Handball oder Basketball, ist er ein Schütze, Kugelstoßer, Schwimmer oder Ringer, so ist seine organisatorische Einordnung in einen nationalen und internationalen Sportverband immer dieselbe. Ein junger Athlet wird Mitglied in einem Verein, bezahlt einen Jahresbeitrag, trainiert und betreibt Wettkämpfe. Über seinen Verein ist er indirekt auch Mitglied in einem Kreisverband, einem Landesverband und einem nationalen Sportverband. Dieser ist wiederum Mitglied im DOSB und in der Weltsportorganisation seiner Sportart. Gleichzeitig gehört der DOSB auch dem IOC und weiteren Weltsportorganisationen an. Mit Ausnahme des Golfsports gibt es seit 1981 in keiner der olympischen Sportarten eine Unterscheidung nach Amateur- und Profisportler. Die Unterscheidung in Amateur und Professional legt die Frage nahe, welche Verbandsorganisation dem Golfsport zugrunde liegt und inwiefern es im Golf einen vergleichbaren internationalen Spitzenverband gibt, wie dies für alle olympischen Sportarten der Fall ist. Auch hier erweist sich die Antwort als äußerst schwierig. Vergleichen wir zum Beispiel den Deutschen Leichtathletik-Verband mit dem Deutschen Golf Verband, so erkennen wir wie eigenständig sich die Organisationsform des Golfsports entwickelt hat. Die Basis des DGV bilden zwar weiterhin die Vereine, aber Golfanlagen müssen heutzutage, angesichts des wirtschaftlichen Risikos, wie Wirtschaftsunternehmen agieren, sofern sie nicht als solche schon firmieren. Heute vertritt der DGV 859 Mitgliedsclubs und -anlagen. Darüber hinaus sind Landesverbände seine Mitglieder, aber auch eine Organisation wie der Verband „Vereinigung clubfreier Golfspieler“ gehört zu seinen Mitgliedern. Der DLV hat hingegen seine Basis ausschließlich in gemeinnützigen ehrenamtlichen Vereinen bzw. Leichtathletikabteilungen.
… Die Regeln des Golfsports sind überkomplex …
Eine entscheidende Frage des Golfsports ist jene, wer festlegt, nach welchen Regeln Golf gespielt wird und welche Form des Wettkampfes dabei den Zuschlag für das olympische Turnier erhält. Beim olympischen Golfturnier in Rio zeichnete die IGF für die Regularien verantwortlich. Hierbei spielte die PGA (Professional Golf Association) eine zentrale Rolle und was die Regeln betrifft, stellt der Golfclub von St. Andrews die höchste Autorität dar. Das Regelbuch zum Golfsport ist äußerst umfangreich. Die derzeit gültige Fassung hat 309 Seiten. Allein schon angesichts dieses Umfangs gewinnt sehr schnell den Eindruck, dass nur ganz wenige sämtliche Golfregeln kennen und beherrschen. Besonders komplex stellen sich die Handicap-Regeln dar. Bei den Spielern wird der Sinn des Handicaps oft nur sehr unzureichend verstanden. Das Handicap hat eher einen Trophäencharakter. Viel zu selten gewährt es einen fairen und offenen Wettkampf, bei dem prinzipiell aufgrund der Handicap-Regel jeder gewinnen kann. Grundsätzlich erweisen sich die Regeln des Golfsports als überaus komplex. Eine Ursache hierfür ist ohne Zweifel die Sportstätte, doch stellt sich die Frage, inwiefern eine Regelvereinfachung möglich ist, die für alle Beteiligten auch nachzuvollziehen ist.
Der Golfsport kann durchaus vielfältige Wettkampformen aufweisen, wenngleich für Außenstehende des Golfsports, für Unkundige und für die Öffentlichkeit ein Golfturnier immer vier Tage dauert und insgesamt immer „nur“ aus 72 Löchern besteht. Mit dieser Wettkampfform hat sich die PGA bei den Olympischen Spielen gemeinsam mit der IGF für jenes Wettbewerbssystem entschieden, durch das sich der Golfsport von allen anderen olympischen Sportarten unterscheidet. Es gibt nur ganz wenige Sportarten, bei denen die Wettkampfdauer von einem Tag für einen einzelnen Wettkampf überschritten wird. Im Golfsport muss man sich hingegen, wenn man am „richtigen“ Wettkampf teilnehmen möchte, auf einen viertägigen Zeitraum einlassen. Für die Basis des Golfsports bedeutet dies, dass man sich vier Tage Zeit zu nehmen hat für einen Golfwettkampf, wenn man sich über diese Basis hinaus auf Erfolge auf der höchsten Ebene, z.B. bei den Olympischen Spielen, vorbereiten möchte. Beim Golfsport gibt es somit auch keine Vor- und Zwischenkämpfe, alles entscheidet sich in einem einzigen Turnier. Qualifikationsrunden können dem olympischen Turnier vorgeschaltet werden, wenngleich die harte Realität des professionellen Sports dies nahezu ausschließt. Mit der Festlegung auf diese Wettkampfform hat der Golf auch eine Dramaturgie vorgegeben, die es für Laienzuschauer schwer macht, diese olympische Sportart mit Begeisterung zu verfolgen. Es kommt deshalb auch nicht von ungefähr, dass sich die Zuschauerschaft bei Golfturnieren nahezu ausschließlich aus aktiven Golfspielern zusammensetzt, die in der Lage sind, die Leistungen der Athleten zu würdigen und die den Regelhintergrund des Wettbewerbs verstehen. Für Laien sind die ersten drei Tage meist ohne besondere Spannung. Am vierten Tag steigt die Spannung, doch meist ist die Spannung auch nur über eine elektronische Datenübermittlung zu erzeugen. Der Zuschauer vor Ort kann immer nur ganz wenige Teile des Turniers beobachten. Ansonsten sehen die handelnden Akteure für den Laien nahezu immer ähnlich aus. Bewundernswert sind lange Schläge direkt ins Loch oder nahe beim Loch, bewundert werden auch Schläge aus dem Rough. Sie können die zuvor empfundene Enttäuschung nach der Landung des Balles im Rough kompensieren. Der Zuschauer unterliegt einem ständigen Wechsel der Gefühle, je nach dem mit welchem Spieler er sympathisiert und mit welcher Nation er sich identifiziert. Das Publikum ist bei dieser Art von Wettkampf distanziert und nah zugleich, bei dieser Art von Wettkampf. Chauvinismus ist dem Golfpublikum eher fremd. Um eine problematische Fankultur muss man sich keine Sorgen machen. Sachkenntnis scheint die ideale Voraussetzung zu sein, um diesem Publikum zuzugehören.
… Verführung zur Schummelei …
Das Golfspiel findet in der Regel ohne Schiedsrichter statt. Für den Wettkampf wird hingegen gegenseitiges Vertrauen vorausgesetzt und Fair Play ist das höchste Ideal für dieses Spiel. Dennoch fällt auf, dass viele Spieler einer besonderen Verführung zur Schummelei unterliegen, was vermutlich nicht nur auf deren Charakterschwäche zurückzuführen ist. Das komplexe Regelgefüge scheint vielmehr zur Schummelei zu verführen. Mit kleinen Betrügereien versuchen sich Spielerinnen und Spieler einen kleinen, manchmal aber auch einen größeren Vorteil zu verschaffen. Auch beim Zählen besteht die Gefahr der Schummelei, da es oft nicht einfach ist, neben dem eigenen Spiel auch das Spiel seiner Gegner vollständig zu beobachten. Der ideelle Wert der Selbstregulierung des Golfspiels ist jedoch beachtenswert, er kann auch durch die vielen Schummeleien, die leider viel zu häufig anzutreffen sind, nicht geschmälert werden. Die Notwendigkeit zur Selbstkontrolle ist ein pädagogischer Wert, wie er in kaum einer anderen Sportart angetroffen werden kann.
… Athleten des Golfsports …
Der Golfsport scheint auch in Bezug auf seine Akteure die ihn betreiben etwas ganz besonderes zu sein. Während meiner Beobachtungen in den letzten Wochen und Monaten wurde mir einmal mehr bewusst, dass Golf wie kaum ein anderer Sport ein ganzes Leben lang betrieben werden kann. Auf den Golfanlagen spielen Menschen, die unterschiedlicher kaum sein können. Zwerge und Riesen, Dicke und Dünne, Männer mit Hängebäuchen, andere mit Waschbrettbrust, Frauen mit maskuliner Beinmuskulatur und breiten Hüften, andere ähneln Schönheiten der Modeindustrie. Kinder und Jugendliche bereichern nachmittags die Anlagen und in den frühen Morgenstunden macht sich mancher „Flight“ auf den Weg, der gemeinsam eine majestätische Altersgrenze von 300 Jahren mit Leichtigkeit überwindet. In Bezug auf Konstitution und Physiognomie scheint es ganz offensichtlich keinen besonderen Golftypus zu geben, wenngleich der athletische Typ einige Vorzüge hat und diese sich auch immer mehr bei großen internationalen Meisterschaften durchsetzen. Grundsätzlich scheint jedoch jeder Mensch fähig Golf zu spielen. Eine derartige Offenheit ist in nahezu keiner anderen olympischen Sportart zu erkennen. Nahezu alle übrigen olympischen Sportarten haben ihre idealen Körper über viele Jahre selegiert. Für Spitzenleistungen in diesen Sportarten eignen sich deshalb auch nur besonders talentierte Athleten, die auch eine entsprechende Konstitution aufweisen.
Jahr | Anzahl | |
---|---|---|
Golfspieler in Deutschland | 2016 | 643.158 |
Golfer nach Geschlecht in Deutschland | 2016 | weiblich: 236.607 männlich: 406.551 |
Golfanlagen in Deutschland | 2016 | 732 |
Golfclubs (DGV-Mitglieder) | 2016 | 859 |
Offizielle Golfanlagen in Europa | 2015 | 6.786 (davon 11% in Deutschland – Platz zwei hinter England mit 27%) |
Tabelle 1: Golf in Zahlen
… Golfhabitus als Barriere …
Die Offenheit des Golfsports in Bezug auf die menschlichen Körper darf jedoch nicht mit einer Offenheit des Golfsports in Bezug auf seine Teilnahmemöglichkeiten verwechselt werden. Die Möglichkeiten zur Teilnahme am Golfsport sind nach wie vor begrenzt. Im Vergleich zu den übrigen olympischen Sportarten gehört der Golfsport noch immer zu jenen Sportarten, die sich nur für eine Minderheit als zugänglich erweist. Die soziale Lage von mehr als Zweidritteln der Menschen in Industriegesellschaften macht es höchst unwahrscheinlich, dass sie einen Weg in den Golfsport finden. Eine Mitgliedschaft in einem Golfclub ist an einen Jahresbeitrag gebunden, wie er in kaum einer anderen Sportart aufzubringen ist. Das regelmäßige Spielen erfordert sogenannte „Greenfees“, was meist so viel bedeutet, dass für eine vierstündige Golfrunde auch durchaus mal 100 Euro zu bezahlen sind. Die Ausrüstung für das Golfspiel kann ebenfalls sehr teuer sein. Die Lebensspielgemeinschaft, die den Golfsport prägt, zeichnet sich darüber hinaus durch ein soziales und ökonomisches Kapital und durch einen bestimmten Habitus aus, bei dem die feinen Unterschiede zu jenen gepflegt werden, von denen man glaubt, dass sie eigentlich nicht dazu gehören sollten. Manche Ab- und Ausgrenzung erfolgt dabei im Unbewussten. Die objektiven Fakten wie Aussehen, Kleidung, Mode, Konsumgewohnheiten und Kommunikation sind jedoch kaum zu widersprechende Merkmale.
… Ausrüstung für das Golfspiel …
Mit dem Hinweis auf die Ausrüstung ist ein weiteres Merkmal benannt, durch das sich der Golfsport als eine ganz spezielle Sportart erweist. Zum Handballspiel benötigen 14 Spieler einen Ball, gleiches gilt für die zehn Spieler des Basketballs oder die 22 beim Fußball. Beim Laufen kann auf jedes Sportgerät verzichtet werden, bei den Rückschlagspielen hat man einen Schläger und der Tennisprofi wechselt allenfalls sein Sportgerät, wenn er mit der Härte der Bespannung nicht zufrieden oder wenn eine Saite gerissen ist. Ganz anders sieht die Sportgerätesituation im Golfsport aus. Grundsätzlich werden drei Schlägertypen (Driver, Eisen, Putter) unterschieden, bis zu 14 Schläger darf der Turnierspieler in einen Wettkampf einbringen. Zum Transport benötigt man eine Tragetasche, vielleicht auch einen Wagen, Trolley genannt, und der Profi hat einen eigenen Caddie. Von Loch zu Loch kann man sich mit einem Golfcart bewegen. Innerhalb der Schlägergruppen gibt es unendlich viele Unterschiede. Das Material der Schläger reicht vom geschmiedeten Eisen über Stahl bis hin zu komplexen Carbonfasern. Holz als Material ist nicht mehr in Gebrauch, obwohl die langen Schläge weiterhin mit einem immer noch so genannten Holz bewältigt werden wollen. Die Kosten für die einzelnen Schläger reichen von wenigen Hundert bis zu mehreren Tausend Euro. Das sogenannte „Fitting“ für die Schläger ist zu einer eigenständigen Wissenschaft geworden und selbst die Golfbälle weisen eine Vielfalt in Bezug auf Material und Preis auf, wie sie in keiner anderen Ballsportart angetroffen werden kann.
… Sportkleidung …
Fast in allen olympischen Sportarten haben die Athletinnen und Athleten bei der Ausübung ihrer Sportart eine für ihre Sportart typische Sportkleidung. Im Basketball unterscheiden sich Hemd und Hose von denen im Handball. Fast in allen Sportarten ist die Sportkleidung einer Mannschaft einheitlich in Bezug auf deren Farbe, weist oft ein besonderes Logo auf, was auf die Sportorganisation bzw. den Sportverein verweist und die Kleidung unterscheidet sich vor allem von der sogenannten Zivilkleidung, die die Sporttreibenden außerhalb ihrer sportlichen Aktivität tragen. Auch diesbezüglich ist der Golfsport etwas Besonderes. Die Golfanlagen sind ein Tummelplatz für jugendlich erscheinende Moden. Rote, blaue, gelbe, schwarze Hosen können lang, dreiviertel lang, kurz, kariert oder gestreift sein. Weitere besondere Zugehörigkeitsmerkmale, aber auch Hemden, Pullover und Jacken weisen die gesamte Vielfalt möglicher sportiver Kleidung auf und auf jedem Kopf sitzt eine Baseballmütze, deren Funktionalität vom Laien nicht erschlossen werden kann und die ich bei meinem eigenen Golfspiel immer eher als hinderlich empfunden habe, als dass sie meinem Golfspiel nützt. Der Golfsport ist auch die einzige Sportart, in der man nur einen einzigen Handschuh trägt, und zwar an jener Hand, an der die äußeren Kräfte beim Schwung am meisten wirken, beim Rechtshänder somit links. Dieser Handschuh soll die Haut der Hand vor Rissen und Blasen schützen, insbesondere beim längeren Trainieren. Nur wenige Profis verzichten auf diesen Schutz. In Bezug auf die notwendigen Schuhe ist es im Golfsport allerdings wie in den übrigen Sportarten. Auch in ihm wird erwartet, dass man zur Ausübung der Sportart einen speziellen Schuh trägt, der mit seinen sogenannten „Spikes“ Halt, Stand- und Gehsicherheit auch bei schwierigen Bodenbedingungen und Schräglagen vermitteln soll – unerlässlich, nicht nur für die Profis, zur Verletzungsprophylaxe und hilfreich gleichzeitig, um beim Golfschwung die Kräfte vom Boden herauf, durch den Rumpf in die Arme und Hände in den Schläger optimal umzusetzen. Doch auch in Bezug auf den Golfschuh gibt es eine Modellvielfalt, die durch eine Materialvielfalt und Vielfalt in Bezug auf die Spikes erreicht wird, wie sie kaum in anderen Sportarten angetroffen werden kann.
… Feinmotorik , Kognition und mentale Stärke …
Der Hinweis auf die Vielfalt der Schläger lässt vermuten, dass sich das Golfspiel in Bezug auf Technik und Taktik ebenfalls durch eine besondere Qualität auszeichnet. Dies ist ohne Zweifel der Fall. Als Sportexperte war es mir vergönnt, sämtliche olympische Sportarten bei ihrer Ausübung während der Olympischen Spiele zu beobachten. Ich konnte Einblick in das Training der Athleten nehmen, Trainingspläne studieren, Talentsichtungsprogramme prüfen und ich durfte auch über idealtypische Modelle der potenziell Besten in den jeweiligen Sportarten diskutieren. Golf als Leistungssport ist für mich dabei nach wie vor eher ein Rätsel. Einerseits ist das Spiel sehr einfach: Abschlag – Annäherung – Putt – Bewertung. Jedes der drei Bewegungsmuster bedarf einer spezifischen Technik und es müssen verschiedene besondere Merkmale berücksichtigt werden. Andererseits kommt es beim Golfspiel auf jeden einzelnen Schlag an. Fehler werden nie verziehen, können äußerst folgenreich sein und für die meisten Spieler ist selbst nach langjährigem Training und Wettkampfspiel sehr schnell eine Leistungsgrenze erreicht, die ganz offensichtlich nicht überschritten werden kann. Die Unterscheidung in Grob-, Fein- und Feinstform reicht nicht aus, um das gekonnte Spiel eines Bernhard Langers von einem Spieler mit einem Handicap unter zehn unterscheiden zu können. Die Präzision des sportmotorischen Profils eines Weltklassespielers ist für einen Laien nicht nachvollziehbar. Wer selbst versucht hat, auf eine Distanz von 100 Metern mehrmals hintereinander einen Ball präzise in einen Kreis mit einem Durchmesser von fünf Metern zu spielen, der weiß, von was dabei die Rede ist. Wer weiß, wie Windverhältnisse den Flug eines Balls beeinträchtigen können, der weiß, welches Können erforderlich ist, wenn bei äußerst widrigen Verhältnissen der Ball bei einem Schlag mit einer Distanz von über 100 Metern ganz nahe bei der Fahne landet. Die motorischen Muster, die ein Spieler automatisiert abzurufen hat, sind dabei äußerst kompliziert, können oft erst nach jahrelangem Training erreicht werden und bedürfen einer ständigen Pflege, damit sie nicht plötzlich zusammenbrechen und nicht mehr zur Verfügung stehen. Hat ein Spieler ein schwaches motorisches Muster verbessert, so besteht bereits die Gefahr, dass ein anderes dafür an Qualität verloren hat. Kognitive Muster sind dabei ebenso wichtig, wie motorische Muster und die mentale Stärke der Spieler scheint dabei ausschlaggebend zu sein, wie stabil und überdauernd ihm seine motorischen Muster zur Verfügung stehen. Sämtliche Muster auf höchstem Niveau zu halten, scheint die besondere Kunst des Golfexperten zu sein. Die Fähigkeit, das Spiel eines „Lochs“ (Golfbahn) taktisch günstig zu planen und das Rollen auf einem „Green“ zu antizipieren (das sogenannte Lesen der Grüns) scheint ein weiteres Fähigkeitsmuster zu sein, das nur Wenigen auf hohem Niveau vergönnt ist. Wenn Laien oder auch einige Sportfunktionäre anderer Sportarten, und selbsternannte Sportexperten der sportmotorischen Kompetenz, der kognitiven Kompetenz und der strategischen Kompetenz des Golfsports eine sportliche Qualität bestreiten, so bestätigen sie wohl ein weitverbreitetes Vorurteil – in Wirklichkeit entlarven sie jedoch ihre eigene Inkompetenz und sie haben Golf höchstwahrscheinlich noch nie selbst ausprobiert. Denn dann würden auch sie erkennen, dass der Golfsport ohne Zweifel ein ganz besonderer Hochleistungssport ist und er es mehr als manch anderer Sport verdient, dass sich die Besten in dieser Sportart bei den Olympischen Spielen messen dürfen und er bei den Olympischen Spielen vom olympischen Publikum gefeiert wird.
… Die Golfanlage …
Die besondere Qualität des olympischen Hochleistungssports Golf kommt schließlich noch über ein letztes Merkmal zum Tragen. Es ist die Sportstätte, in der diese Sportart ausgetragen wird. Wie keine andere Sportart weist diese Sportart legendäre Sportstätten auf, was nicht zuletzt auf die Architekten zurückzuführen ist, die für diese Sportstätten verantwortlich zeichnen. Golfanlagen wurden und werden von Kennern gebaut, sie spielten und spielen den Golfsport auf höchstem Niveau. Meist bringen erfolgreiche Profispieler ihre eigenen Erfahrungen und strategische Kompetenz in die Planung der Golfanlagen ein, exzellente Golfplatzdesigner mit hoher Kompetenz in Landschaftsarchitektur setzen diese Ideen um und nicht selten integriert der sogenannte „Shaper“ auf seiner wendigen Kettenraupe ein Kunstwerk in die Landschaft. Auf diese Weise ist eine Sportart möglich geworden, bei der sich jede Sportanlage, auf der sie betrieben wird, von der Nachbarsportanlage unterscheidet. Kein Loch gleicht dem anderen, kein Putt ist identisch mit dem Putt auf einer anderen Anlage. Die Natur ermöglicht die Variabilität, die Geologie spielt eine entscheidende Rolle und Wasser und Bunker, als die beiden willkürlichen Barrieren, können in ihren Schwierigkeiten variiert werden. Länge und Lage der Bahnen ermöglichen eine Schwierigkeitsvielfalt, wie sie in Bezug auf Sportanlagen bei keiner anderen Sportart anzutreffen ist.
… Golf – der etwas andere Sport …
Golf ist ohne Zweifel „der etwas andere olympische Sport“ und er kann sich auch zweifellos als einmalig bezeichnen. Doch auch für den Golfsport stellt sich, wie für alle übrigen olympischen Sportarten die Frage, ob er in seinen derzeit existierenden Ausprägungsformen zeitgemäß ist, ob die hier beschriebenen Alleinstellungsmerkmale eher Fluch als Segen sind. Die Antwort auf diese Frage hängt vor allem davon ab, ob der Golfsport mit dem Erreichten zufrieden ist, oder ob er noch mehr Menschen an diesen schönen Sport binden möchte. Dies hängt auch wiederum davon ab, ob er ein für Zuschauer attraktiver Sport sein möchte.
Auf der Grundlage meiner Beobachtungen scheinen einige Reformversuche zwingend notwendig zu sein, will man auch die zukünftigen jüngeren Generationen an sich binden. Als wichtigster erster Schritt könnte eine Regelreform angestrebt werden, bei der es zu einer grundlegenden Vereinfachung der Regeln kommt. Die Zeichen der Zeit scheinen die Regelhüter von Royal and Ancient Golf Club of St. Andrews (kurz auch R&A genannt) und der United Golf Association (USGA) verstanden zu haben. Sie wollen das Regelwerk ab 2019 kräftig „entschlacken“. Statt 34 Regeln mit unendlich vielen sogenannten „Decisions“, soll es dann nur noch 24 einfachere Regeln geben. Dies gilt aber auch für das sehr komplexe Handicap-System. Auch hier soll bald ein neues „World Handicap System“ die pragmatische amerikanische Art des Handicaps aufgreifen. Unnötig erscheint mir die Platzreifeprüfung zu sein, auch wenn hier Sicherheitsgründe und der Mangel einer gewissen Mindestspielgeschwindigkeit beim Spiel von Ungeübten als Gründe angezeigt werden. Besonders dringend erscheint mir die Reform des olympischen Programms. Das olympische Turnier bedarf einer Klimax, die während der Olympischen Spiele selbst erfahrbar sein muss. Anstelle des viertägigen Wettkampfes könnte z.B. ein mehrtägiger Wettkampf stehen, der sich durch Qualifikationsrunde, Viertelfinale, Halbfinale und Finale auszeichnet und bei der die Spieldauer sich jeweils auf einen halben Tag beschränkt. Es wäre auch an den „Vierer“ oder den „Vierball“ zu denken, bei dem zwei Spieler im Team wirken. Durch das Zulassen von bestimmen Wahlmöglichkeiten mit unterschiedlichem Risiko, kann auch ein taktischer Golfwettbewerb als Innovation eingeführt werden. In Bezug auf die Golfsprache könnte eine Vereinfachung empfohlen werden, wobei auch auf manche Begrifflichkeit zu verzichten ist. So zum Beispiel könnte der Begriff „Etikette“ ersatzlos gestrichen werden, die erforderlichen Regeln kann die jeweilige Platzordnung vorgeben. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen, wie die sogenannten „feinen Unterschiede“ überwunden werden könnten, die heute noch zwischen etablierten Golfspielern und am Golfsport Interessierten stehen. Auch unter Kostengesichtspunkten könnte an eine Reduktion der erlaubten Schläger gedacht werden. Die Anforderungen an die technische Variabilität der Spieler würden allerdings erhöht. Wahrscheinlich würde dies entsprechend andere Spielertypen hervorbringen, was nicht nachteilig sein muss.
Die hier vorgelegten Vorschläge können allenfalls Inhalt einer ersten Ideenskizze sein. Wichtig wäre, dass sich an dem anzustrebenden Reformprozess erfahrene Golfexperten ebenso beteiligen wie jene, die dem Golfsport positiv gesonnen sind, den Weg zum aktiven Golfspiel jedoch noch nicht gefunden haben. Ein Innovationsforum zur Zukunft des Golfsports wäre somit wünschenswert. Nicht jede Idee wird sich dabei als praktikabel erweisen, doch Kreativität muss nicht notwendigerweise von einem unmittelbaren Sinn erfüllt sein. Wer Veränderungen zulässt, wird auch die hilfreichen Veränderungen finden. Wer sich gegen Veränderungen sperrt, darf sich nicht wundern, wenn seine Sportart an Attraktivität verliert.
Verfasst: 26.09.2017