Olympia ist wichtig – auch wenn es keine Friedensmacht sein kann

Der folgende Beitrag ist eine Weiterführung eines Beitrages, den Sven Güldenpfennig in der DOSB Presse Nr. 9, vom 1. März veröffentlicht hat. Zu dem Beitrag gibt es eine Erwiderung von Silvia Schenk: „Das olympische Dilemma“, der ebenfalls in der DOSB Presse Nr. 10, vom 8. März 2022 veröffentlicht wurde. Dieser Beitrag ist im Zusammenhang mit den Ausführungen von Güldenpfennig ebenfalls sehr lesenswert. Insbesondere werden wichtige Empfehlungen gegenüber dem IOC vorgetragen, wie es sich zukünftig  bei der dringend notwendigen Beachtung der Menschenrechtsproblematik verhalten sollte. H.D.

 

1. Krieg in Europa

Der russische Präsident hat – mitten zwischen dem Ende der Olympischen und dem Beginn der Paralympischen Spiele von Peking – einen unprovozierten militärischen Angriff auf ein unabhängiges Land vom Zaun gebrochen. Das ist ein flagranter Bruch des Völkerrechts, das Krieg allenfalls zur Selbstverteidigung zulässt. Und es ist eine veritable weltpolitische Katastrophe. Putin will, das erscheint jenseits aller Spekulation klar, seine Herrschaft über die Ukraine errichten, weil sie „seit jeher ein Teil Russlands“ sei. Zugleich könnte China dies, sollte es „gelingen“ und ohne militärische Antwort der westlichen Konkurrenz bleiben, als Ermutigung lesen, seinerseits auf Taiwan zuzugreifen, das nicht einmal den Status völkerrechtlicher Souveränität genießt.
Dieser Krieg ohne Kriegserklärung erscheint wie ein Amoklauf wider jede Vernunft, der nur in einer Sackgasse enden kann. Hat machohaft erratische Machtpolitik nichts gelernt aus Desastern der jüngeren Geschichte wie in Vietnam, Afghanistan oder Irak? Besonders gefährlich über die direkt betroffene Ukraine hinaus ist, dass hier ein Machthaber mit der Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen offenbar einen Plan zur Revision der Weltordnung verfolgt, der ausgesprochen pathologische Züge trägt. Mit diesem Plan stellt er sich übrigens in eine Reihe mit Vorgängern im 20. Jahrhundert, die über Stalin und Lenin hinaus zurückreicht bis ins Zarenreich, auf dessen bislang unterschätzte oder ausgeblendete Mitverantwortung für die Auslösung des Ersten Weltkrieges erst jüngst die Studie Russlands Weg in den Krieg des US-amerikanischen Historikers Sean McMeekin aufmerksam gemacht hat. Es mutet wie die Auferstehung eines Untoten aus der Gruft der Vorgeschichte dieses Ersten Weltkrieges an, wenn der türkische Präsident Erdoğan als Antwort auf die russische Aggression Russland die Schließung der Dardanellen androht.
Man kann und möchte sich nichts anderes vorstellen, als dass Putins politisch-militärische Irrfahrt letztlich – nach absehbar vielen menschlichen Opfern und materiellen Schäden, nicht zuletzt auch für das eigene Land – in einem politischen Selbstmord des Irrläufers enden wird. Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin sagte ebenso spontan wie prophetisch voraus: „Putin ist geliefert. Wie unser Regierungschef von einem Hoffnungsträger zu einem Monster wurde. Und was ihn nun erwartet.“ (Süddeutsche Zeitung)

 

2. Und der Sport? Zitate

Wie aber kann, wie soll der Sport darauf reagieren, der sich ja nach den Imperativen seiner leitenden Idee im unbegrenzten internationalen, im globalen Raum bewegen will, ja muss? Zum Anfang ein paar Zitate:
Zum einen registriert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (Die Zeit) nach dem Ende des Kalten Krieges und der Hoffnung auf die „Entstehung einer regelbasierten und wertegebundenen Weltordnung“ nunmehr das Gegenteil, eine „Wiederkehr der Einflusszonen“; der zentrale Gegensatz bei der Legitimation von Einflusszonen sei der „zwischen geschichtlicher Tradition und gegenwärtiger Bürgerentscheidung“; und beides sei heikel; so komme alles darauf an, dass sich die äußeren Akteure über ihre Einflusszonen verständigten „und so Konflikte stillstellen. Sie begrenzen damit um des internationalen Friedens willen in bestimmten Räumen die bündnispolitische Dispositionsfreiheit der Bevölkerung. Das ist der Preis dafür, dass das Projekt der neuen Weltordnung gescheitert ist und die Vorgaben der alten Weltordnung wieder in Kraft getreten sind.“ Dieser Preis ist im Vorfeld der Ukraine-Krise nicht errichtet worden. Die Folgen dieses Versagens der internationalen Politik sieht man jetzt.
Zum anderen will der Sportjournalist Johannes Aumüller (Süddeutsche Zeitung) in dem Treffen von Putin und Xi vor der Eröffnungsfeier „die Bekräftigung eines Autokraten-Bündnisses, und das ganz bewusst auf der Bühne der Olympischen Spiele“ gesehen haben, so dass „diese angeblich unpolitischen Spiele längst gekapert“ seien; wobei die beiden Staaten „sehr gut zur olympischen Bewegung passen, wie auch ihre Anführer Xi und Putin zum IOC-Präsidenten Thomas Bach. Autoritäre Gebilde, bei denen jeweils der eine starke Mann vorwegmarschiert.“ Der China-Korrespondent Maximilian Kalkhof prognostizierte zwar vorab, China werde alles daran setzen, „die Spiele so unpolitisch wie möglich über die Bühne zu bringen“, um aber hinterher so bilanzieren, „mehr Politik bei Olympischen Spielen ging nicht“, doch das IOC behaupte „verbissen, das Sportereignis sei nicht politisch. Das ist nun widerlegt.“ (Die Welt). Und der Sportjournalist Anno Hecker hielt „dem schrecklichen Schweigen des IOC“ zu den Menschenrechtsverletzungen in China die rote Karte vor (Frankfurter Allgemeine Zeitung).

 

3. Allgemeinpolitik und Sportpolitik: zwei Welten

Was in diesen Zitaten thematisiert wird, sind zwei verschiedene politische Welten innerhalb unserer Einen Welt: die Welt der Allgemeinpolitik und die Welt der Sportpolitik. Und es ist ein Gebot politischer Klugheit, beide nicht im gleichen Atemzug zu verhandeln. Wie das? Waren die Spiele von Sotchi 2014 oder Peking 2022 etwa nicht „Putins Spiele“, „Chinas“ oder „Xis Spiele“, „die politischsten Spiele ever“? Ja und nein. Und in dieser Ambivalenz liegt des Pudels Kern einer gehaltvollen sportpolitischen Diskussion des jüngsten Falls. Aber der Reihe nach:
Der Überfall vom 24. Februar 2022 terrorisiert nicht nur die Bevölkerung des angegriffenen Staates. Er sendet darüber hinaus ein verheerendes Signal: Eine waffenstarrende Großmacht setzt allein aus ihrer vermeintlichen eigenen Staatsräson heraus die Geltung der UN- Charta außer Kraft, auf der seit 1945 dem Ideal nach der Verkehr aller Völker dieser Welt zum allseitigen Nutzen basieren sollte. Und doch: Allein damit wurde nicht zugleich die Geltung der IOC-Charta außer Kraft gesetzt! Kann eine solche Feststellung etwa mehr sein als der Ausdruck von Weltfremdheit, Verblendung, ja von blankem Zynismus? Nein und nochmals nein! Und ebendiese Entgegnung verweist darauf, wie wichtig es ist, sind endlich illusionslos genaue Klarheit zu verschaffen über die tatsächlichen, extrem spannungshaltigen und voraussetzungsreichen Handlungsbedingungen einer internationalen Kulturbewegung, die alles andere als eine Idylle ist und sein kann. Zu dieser Aufklärung zehn Thesen:

 

4. Zehn Thesen

Erstens: Wladimir Putin hat nicht den olympischen Frieden gebrochen, ebensowenig wie die USA, als sie als Olympiaausrichter 2002 einen Krieg gegen das afghanische Taliban-Regime führten. Putins allgemeinpolitisch verheerender Überfall hat sich zwar in der Zeit, jedoch nicht gegen Ort und Zugangswege der Spiele gerichtet, und allein das wäre ein sportpolitischer Bruch der olympischen Waffenruhe, wie dies am 5. September 1972 durch den palästinensischen Anschlag auf die israelische Olympia-Delegation in München der Fall war. Es geht um Olympic Truce, nicht um Olympic Peace. Genau diese Grenzziehung zwischen partikularer Waffenruhe und generellem Frieden ist es, deren Beherzigung den Spielen der Antike eine tausendjährige Geschichte beschert hat und auch für die Gegenwart die einzig tragfähige Grundlage für eine Fortexistenz der Spiele bildet. Und es ist eine illusionäre Verkennung des Sinns dieser Grenzziehung, wenn die UN-Generalversammlung stets im Olympiajahr zu einer weltweiten Waffenruhe auffordert, was nur dadurch möglich ist, dass die Staatenwelt dort mit Mehrheitsvoten entscheiden kann, während das eigentliche Machtzentrum der UN im Weltsicherheitsrat liegt, der nach dem Einstimmigkeitsprinzip entscheidet und seinen Mitgliedern deshalb ein Vetorecht einräumt gegen Entscheidungen, die ihren (vermeintlichen) Interessen entgegenstehen.

Zweitens: Putins tatsächlich olympia-politische Schandtat ist eine ganz andere, freilich gespeist aus demselben nationalistisch pervertierten Staatsverständnis: nämlich das offensichtlich endemische Staatsdoping, mit dem er im Interesse vermeintlichen nationalen Prestigegewinns die Olympische Idee in ihrem kulturellen Kern angreift und die Athlet*innen seines Landes zum Instrument seiner skrupellosen Machtpolitik degradiert und sie eiskalt auf dem Altar des heiligen Russland opfert, wie unter vielen vorausgegangenen der Fall Kamila Valieva in Peking gezeigt hat.

Drittens: Selbstverständlich ist auch Olympia politisch. Diese Feststellung ist trivial, weil alles irgendwie politisch ist. Unzivilisierte allgemeinpolitische Mächte versuchen, die Spiele für ihre außersportlichen Ziele zu kapern. Die Sportorganisationen sind gehalten, mit den Mitteln sportpolitischer Kunst solche Eingriffe, wenn sie mit dem kulturellen Eigensinn der Spiele nicht vereinbar sind, abzuwehren und sich zugleich Forderungen nach eigener Positionierung in allgemeinpolitischen Konflikten zu verweigern, um so die notwendigen Bedingungen für ein kontinuierliches und sinngerecht gelingendes Stattfinden der Spiele schaffen zu können, womit sie diese in fahrlässiger Unschärfe für unpolitisch erklären. Und sportpolitik-kritische Stimmen werfen den beiden Vorgenannten aus unterschiedlichen Gründen politisches Versagen und Heuchelei vor. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie es mit der Feststellung „politisch“ bzw. „unpolitisch“ bewenden lassen, statt den für eine wirkliche Aufklärung notwendigen zweiten Schritt zu tun, nämlich den Politikbegriff inhaltlich zu qualifizieren.

Viertens: Entscheidend für eine solche inhaltliche Qualifizierung der Aussagen ist die Unterscheidung zwischen Allgemein- und Sportpolitik. Allgemein-Politik ist ermächtigt, universal um für alle gesellschaftlichen Felder verbindliche Problemlösungen zu ringen; Sport-Politik „nur“ partikular um die Voraussetzungen für das regelmäßige und weltweite Stattfinden sportlicher Ereignisse. Alle außersportlichen Ziele und Mächte – Allgemeinpolitik, Friedensförderung, Ökonomie, Ökologie, Kommunikations- und Unterhaltungsmedien, Pädagogik und Universalmoral – sind dem Gelingen der kulturellen Botschaft des olympischen Ereignisses zu- und unterzuordnen. Sie können ihren jeweiligen bereichsspezifischen Eigensinn hier nur insoweit legitim zur Geltung bringen, als dies mit dem Eigensinn des olympischen Projekts verträglich ist und sich ihm „dienend“ ein- und unterordnet. In begründeter Vereinfachung kann man dabei Politik für die Sportidee von Politik gegen die Sportidee unterscheiden. Sportpolitik also ist keine Fortsetzung der Allgemeinpolitik mit anderen Mitteln. Sie folgt einer eigenen, weitaus begrenzteren Agenda, deren Hauptziel darin besteht, to make the Games go on, unter weitestmöglich reichender Neutralisierung aller Faktoren, die dies verhindern könnten. Zum Anstreben weiter ausgreifender politischer Ziele verfügt das IOC weder über ein durch die IOC-Charta legitimiertes Mandat noch über die notwendigen Machtressourcen. Für die Kultur des sportpolitischen Diskurses bedeutet es eben keinen Rückschritt in die verflossenen Zeiten, in denen Sport vermeintlich nichts mit Politik zu tun hatte. Es ist ein Fortschritt, wenn man präzise beschreibt, wie Sport politisch wird, wenn man also der Öffentlichkeit vermittelt, was politisches Handeln im Sport von allgemeinpolitischem Handeln unterscheidet und wenn man ihn damit aus der Frontlinie zurückzieht, an der er vermeintlich als Vorkämpfer und Bannerträger der weltweiten demokratischen allgemeinpolitischen Kultur Dienst zu tun habe. Einen großen Fortschritt für diese Kultur des sportpolitischen Diskurses würde es bedeuten, endlich mit dem gängigen Trick eines vorsätzlichen Missverstehens aufzuhören: Das Beharren darauf nämlich, dass der Sport durchweg „politisch“ sei, betont dessen empirische Faktizität aufgrund eines verbreiteten Mangels an politischer Kultur. Das Beharren darauf, dass er „nicht politisch“ sein solle, betont die grundsätzliche und praktisch anzustrebende Durchsetzung der Geltung dieses Prinzips der Unabhängigkeit sportpolitischer Entscheidungen von allgemeinpolitischer Übergriffigkeit. Jenes vorsätzliche und deshalb demagogische Missverstehen gleicht einem Sich-dumm-Stellen, so als wenn es das ubiquitäre Spannungsverhältnis zwischen Faktizität und Geltung gar nicht gäbe. Diejenigen, die unablässig mit diesem billigen Sophismus hausieren gehen, stellen sich somit selbst ein blamables Armutszeugnis aus.

Fünftens: Die Sinnstruktur der Olympischen Idee wird konstituiert und zugleich auch begrenzt nur durch die folgenden drei Kriterien: Sie bedeutet Sport einer kleinen globalen Leistungselite auf höchstem Leistungsniveau, Zusammentreffen aller weltweit hinreichend verbreiteten Sportarten als Begegnung des Gesamtsports mit sich selbst und der Repräsentant*innen aller Länder nach dem Motto „all sports, all nations“, sowie extreme Verknappung dieses Festereignisses durch den Vier-Jahres-Rhyth­mus zur Betonung seiner herausragenden Stellung innerhalb der weltweiten Kultur und Sportkultur. Viele weitergehende Kriterien, die dem Olympismus häufig zugeschrieben werden, halten ent­weder einem gründli­chen Belastungstest nicht stand. Oder sie sind auch jeglichem an­de­ren Sport, sofern er diesen Namen verdient, zuzusprechen. Aufbauend aber auf der Faszination, die schon von jeglichem Sport ausgeht, sind es ge­nau diese drei Kriterien, die Olympia seinen herausragenden Rang als Kulturphänomen ermöglichen.

Sechstens: Um dieses Konzept aus dem imaginären Himmel der Ideen zu holen und in die Realität umzusetzen, benötigt die Olympische Bewegung reale Orte, über die sie nicht selbst verfügt, die sie sich deshalb bei wechselnden staatlich verfassten Ausrichtern „leihen“ muss. Die „Luftgeister“ namens Sportidee und Olympische Idee brauchen also zur Erfüllung ihrer Mission gleichsam ubiquitäre terrestrische Landeplätze, auf denen sie sich materialisieren und ihnen reales Leben eingehaucht werden kann. Als Voraussetzung für die Erteilung und Nutzung der Landerechte dort in Gestalt von Staaten und Kommunen politisch-moralisch und rechtlich perfekte außersportliche Bedingungen zu fordern, wäre gleichbedeutend mit einer prinzipiellen Verweigerung der Landerechte. Ein solcher Rigorismus würde in der Folge jene Luftgeister auf ewig in den Himmel der bloßen Ideen zurückverweisen und sie dort in der Verbannung verdorren lassen. Denn unsere Welt ist überall (in unterschiedlichem Grade) imperfekt. Eine der wichtigsten Prämissen für begründet kritisches Urteilen ist die Anerkennung der Grundbedingung für jede Olympischen Spiele, egal, wo sie stattfinden. Sie basieren auf einem sportpolitisch begründeten Deal zwischen Veranstalter und Ausrichter: Der Ausrichter stellt dem Veranstalter, ähnlich wie bei der dauerhaften Einrichtung von ausländischen Botschaften, einen Teil seines Territoriums als vorübergehend „exterritoriale Zone“ zur Austragung der Spiele zur Verfügung unter der Vereinbarung beidseitiger Neutralität und Nicht-Intervention: Der Ausrichter respektiert, dass innerhalb dieser Grenze nur die internationalen olympischen Regeln gelten, und der Veranstalter respektiert, dass außerhalb dieser Grenze die bestehenden nationalen staatlichen Regeln gelten unabhängig davon, wie anstößig sie nach allgemeinpolitischen Maßstäben auch sein mögen. Unbedachte Kritik, die diesen zweiten Teil des Deals für nicht zumutbar erklärt und mit Verweis auf dort herrschende inakzeptable politische Umstände „einfach so“ seine Aufkündigung einfordert, unterschlägt und verschweigt unbilligerweise der Öffentlichkeit die zwingende Konsequenz: das Ende des olympischen Projekts.

Siebtens: Die hegemonialen, insbesondere medialen Kräfte in der öffentlichen sportpolitischen Meinungsbildung vertreten ihre Thesen mit einem arroganten finalem Gültigkeitsanspruch, der in scharfem Kontrast steht zu dem realitätsuntauglichen Gesamtbild, das sie von der Grundstruktur der Sportpolitik entwerfen und aus dem sie zum Teil ausgesprochen demagogische Urteile ableiten zu können meinen. Dass zum Beispiel der chinesische Staat Minderheiten seiner eigenen Bevölkerung und oppositionelle Bewegungen unterdrückt, ist eine menschenrechtliche Katastrophe. Es kann jedoch trotzdem kaum Gegenstand olympischer Politik sein, die sich auf die Gewährleistung der gleichen sportlichen, infrastrukturellen, rechtlichen und politisch-moralischen Bedingungen für alle innerhalb des unmittelbaren olympischen Territoriums Agierenden konzentrieren und beschränken muss.

Achtens: Um diese Zusammenhänge und Grenzziehungen zwischen Sport- und Allgemeinpolitik der Öffentlichkeit verständlich – und im Interesse der Erhaltung und Gestaltung eines wichtigen Mitträgers der Weltkultur zustimmungsfähig! – zu machen, müssen die olympischen Institutionen selbst endlich konsequent die argumentative Defensive verlassen und offensiv die Dilemmata dieser Grenzziehungen eingestehen und deren wenn auch politisch-moralisch prekäre Respektierung verteidigen.

Neuntens: Auf dieser theoretischen Grundlage sind es Pflicht und Verantwortung der Olympischen Bewegung, alle Mittel sportpolitischer Kunst einzusetzen, um die Spiele und den Weltsport insgesamt durch die Untiefen zwischen Skylla und Charybdis der Weltpolitik hindurchzusteuern und sich dabei nicht durch Pressionen sportpolitisch leichtfertig schwadronierender Ratgeber irritieren zu lassen. Entsprechende Stimmen in den Medien berichten ja weniger von einer allgegenwärtigen Politisierung der Spiele, als dass sie diese selbst betreiben, indem sie der Olympischen Bewegung ein allgemeinpolitisches Engagement aufzunötigen versuchen, die diese aus guten Gründen verweigern muss – und zwar als ein veritabler Kotau, aber nicht vor politischen Mächten, sondern vor den Imperativen der Olympischen Idee und Charta.

Zehntens: Allgemeinpolitisch verständlich, aber sportpolitisch bedenklich ist die besondere Art von „sportlichem“ Wettlauf, der unmittelbar nach der russischen Invasion unter Sportorganisationen und -veranstaltern um die Pole Position in der Sanktionierung alles Russischen in der Sportwelt einsetzte. Offenbar war den beflissen einem öffentlichen Meinungsdruck folgenden Verantwortlichen nicht bewusst, dass sie damit ein weiteres Mal wie bei historischen „Vorläufern“ wie 1920-1924, 1948 oder 1980-1984 von sich aus die für die Selbsterhaltung der kulturellen Autonomie des Sports existentielle Grenze zwischen staats- und kulturpolitischem Handeln einzureißen drohen. Das sowie die Tatsache, dass sogar das IOC spontan jene Grenzziehung zwischen Sport- und Allgemeinpolitik in Frage gestellt hat, indem es, unter Berufung auf jene UN-Resolution vom 2.12.2021, am 26.2.2022 die Entscheidung der russischen Regierung zum Krieg gegen die Ukraine als Bruch des“ Olympic Truce“ verurteilte, wird zum Gegenstand einer gründlichen sportpolitischen Diskussion werden müssen, wenn der olympische Sport in Zukunft die Unabhängigkeit seiner Entscheidungen wahren will.
Gründliche Diskussion, das heißt: Man wird sich vor allem auch aus dem Klammergriff einer besserwisserischen Demagogie befreien müssen, die den Sport in bellizistischer Pose am liebsten zum Wehrdienst einziehen und an die allgemeinpolitische Front schicken will unter der Parole: „Der Sport ist zu zögerlich“ (Süddeutsche Zeitung). Wobei sportpolitische Aufklärung verwechselt wird mit einem Kreuzzug gegen eine Sportpolitik, welche nach Wegen durch die politisch-moralischen Zumutungen aus den hier skizzierten Grenzziehungen hindurch suchen muss, sich dafür aber Urteile einhandelt wie notorisches „Heranschmeißen an einen Despoten, frag nach bei Thomas Bach, dem IOC-Präsidenten, der die Winterspiele in Peking gerade in schweigsamer Komplizenschaft mit Chinas Unrechtsapparat durchgezogen hat. Ohne ein kritisches Wort zu in Lagern gehaltenen Uiguren, dafür mit einem schönen Bankett bei Staatschef Xi Jinping“ (Süddeutsche Zeitung). Eine gründliche Diskussion beinhaltet ferner eine Warnung vor dem opportunistischen Kalkül, man könne durch einfaches Mitsegeln im Kielwasser staatlicher Machtpolitik, die doch stets ihrer eigenen Agenda folgt und dabei meist wenig Rücksicht auf kulturelle Belange nimmt, etwas für den Sport gewinnen, ohne dass man eine Gegenrechnung der Folgen einer solchen Abhängigkeit und Selbstentmündigung machen müsste.
Fast unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion jedoch wurde ohne eine entsprechend gründliche Diskussion, sondern als spontaner Reflex auf die Ungeheuerlichkeit des Gewaltakts auch seitens der sportpolitisch verantwortlichen Institutionen die Schutzmauer zwischen Allgemein- und Sportpolitik wieder abgeräumt. Es ist genau diese willkürliche Niederlegung der Mauer, die Tür und Tor öffnet für den Einbruch allgemeinpolitischer Forderungen, denen sich der Sport dann meint nicht entziehen zu können. Jetzt rächte sich einmal mehr die Ungenauigkeit im Selbstanspruch auf „gesellschaftliche Verantwortung des Sports“, die, derart im Ungefähren belassen, den Sport erpressbar macht dafür, ihn in jedem beliebigem politischem Konflikt beim Portepee zu fassen, ihn wie im aktuellen Fall zu den Fahnen zu rufen und auffordert, nunmehr müssten „wir alle“ den Helm fester schnallen, unsere irgendwie geartete Pflicht tun und Verzicht auf Eigennützigkeiten leisten.
Die schlagartig einsetzende und dann davongaloppierende pauschale, unterschiedslose „Ausschließeritis“ auf der sportpraktischen Ebene gegen russische Aktive muss nach den hier vorgetragenen Argumenten als ein sportpolitisch falsches Signal gelten, mit dem der Sport sich unbedacht einem allgemeinpolitisch motivierten Herdenverhalten anschließt. Das gilt ganz oben für das IOC bis hinunter zum DOSB, dessen Präsident am 1. März verkündete, in der entstandenen Lage seien „Sanktionen in allen gesellschaftlichen Bereichen erforderlich – und davon kann sich auch der Sport nicht ausschließen“. Richtig: Er kann sich aus der Urteilsbildung hierüber nicht ausschließen. Aber er muss sich die Unabhängigkeit zu einem eigenen und zu einem genau differenzierenden Urteil bewahren. Und er sollte bei seinen Ausschluss-Entscheidungen unterscheiden, ob die betreffenden Individuen oder Institutionen Mitverantwortung für Putins Krieg tragen oder nicht. Wenn nicht, dann muss dem Respekt davor, dass Sportakteure primär nicht politischen Zielen, sondern dem Kulturgut Sportidee verpflichtet sind, der gebotene Vorrang eingeräumt werden.
Die ukrainische Tennisspielerin Elina Switolina, als nur ein Beispiel, hat ebenfalls am 1. März patriotisch verkündet, vorerst nicht mehr gegen russische Konkurrentinnen antreten zu wollen. Wird man da nicht erschreckend erinnert an das allein allgemeinpolitisch motivierte Boykott-Muster, mit dem seit Jahrzehnten israelische Athlet*innen stigmatisiert werden, was wir doch immer und mit guten Gründen verurteilt haben? Sie hat sich freilich ebenso spontan umentschlossen und ist doch zum Match gegen die Russin Potapowa angetreten. Und Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensport-Verbandes, verkündete am selben Tag in aufgebrachter Pose: „Krieg hat im Sport nichts zu suchen!“ Er meinte wohl, ein solcher ebenso wahrer wie aktualitätsferner Satz – Putin hat ja bis dahin noch keinen Krieg im Sport entfacht – reiche als Begründung dafür, nun auch die russische Delegation von den Paralympics in Peking auszuschließen. Nach der Entscheidung des IPC, in Peking eine russische und belarussische Delegation zuzulassen, meinte Beucher: „Die Entscheidung ist mutlos. Und sie verletzt auch die Werte des Sports.“ Die Süddeutsche Zeitung erklomm in gewohnt sportlicher Fitness den Gipfel der polemischen Zuspitzung und vermeldete in sporttypischer Diktion einen „Rekord an Erbärmlichkeit“. Diese Entscheidung nahm das IPC bereits am nächsten Tag wieder zurück, und zwar mit der bemerkenswerten Begründung, dass die Lage im Paralympischen Dorf inzwischen durch die Auseinandersetzung um die russischen Athlet*innen inzwischen so eskaliert sei, dass man ohne deren Ausschluss die Sicherheit im Dorf nicht mehr gewährleisten könne.
Unübersehbar war in diesem Vorgang abermals, wie nachdrücklich die autonomen sportpolitischen Entscheidungsspielräume der Sportorganisationen durch öffentliche Stimmungen oder sogar durch direkte allgemeinpolitische Pressionen eingeschränkt werden. Und es mutete fast gruselig an, mitansehen zu müssen, mit welcher fast fanatischen Entschlossenheit die Befürworter, ausschließlich auf ihre allgemeinpolitische Agenda fixiert, auch diesen Ausschluss einforderten, ohne auch nur einen Moment dadurch irritiert zu werden, dass es hier um behinderte Menschen ging, denen man das Recht auf Zugang zu ihrem Wettkampf absprach, weil die Regierung ihres Landes einen Krieg angezettelt hat.
Längst vergessen? Mitten im Kalten Krieg hatte einst Willi Daume der dringenden Pression der Adenauer-Regierung widerstanden, den bundesdeutschen Sport der Hallstein-Doktrin zu unterwerfen und Ereignisse zu boykottieren, in denen die „Spalterflagge“ der DDR gehisst wurde. So geht Verantwortung gegenüber dem Kulturgut Sport und Verteidigung seiner Autonomie gegen allgemeinpolitische Degradierung. Erst dadurch, dass er um sein sinngerechtes Stattfinden kämpft, kann er auch seinen bescheidenen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten, nicht indem er selbst die Uniform anzieht und so tut, als wäre sein Platz an der allgemeinpolitischen Kampffront.

 

5. Zwischenfazit

Die Olympische Bewegung ist keine generell wirkungsfähige Friedensmacht. Entgegen der üblichen hohlen Rhetorik kann sie keinen allgemeinen Frieden herbeiführen, sondern ist zu ihrer eigenen Labens- und Handlungsfähigkeit auf Frieden angewiesen. Sie schafft nicht, sondern braucht Frieden, zu dessen Herbeiführung er selbst nichts Substantielles beitragen kann. Allerdings auch dies nur in einem eingeschränkten Sinne: Es muss für ihre Handlungsfähigkeit die olympische Waffenruhe im oben angesprochenen Sinne reichen“, das heißt die Gewährleistung der Sicherheit aller Beteiligten am Ort der Spiele und auf den Zugangswegen dorthin. Für deren Gewährleistung haftet das IOC durch sein sportpolitisches Handeln. Allgemeinpolitische Ambitionen hingegen müssen ihm bei Strafe des eigenen Untergangs und der Zerstörung eines von ihm zu verantwortenden wertvollen Kulturgutes versagt bleiben. Der jüngste Fall einer skrupellosen Machtdemonstration in der Ukraine sollte endgültig deutlich gemacht haben, dass die gern gepflegten Hoffnungen und Absichtserklärungen über weiterreichende Ambitionen einer politisch machtarmen und entsprechend fragilen Kulturbewegung – leider – nicht mehr sein können als Schönwetter-Illusionen, welche die Handlungsfähigkeit des Sports nicht erweitern, sondern gefährden.
Aber: Nicht Feigheit vor einem offenbar zu allem entschlossenen Aggressor ist es, was der Olympischen Bewegung etwas anderes gebietet, als einfach der lautstarken Aufforderung zum allgemeinpolitischen Tanz zu folgen. Es ist die leise Stimme der sportpolitischen Vernunft, die entschieden für ihre Sache einsteht. Auch in einem Ausnahmezustand, wie er durch Putins Tabubruch wieder einmal heraufbeschworen worden ist, muss darum gerungen werden, dass vernünftige politische Urteilskraft rhetorisch und praktisch die Oberhand behält.

 

6. Reaktionen

Die hier formulierte Positionsbestimmung hat spontan ganz unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Sie changierten zwischen uneingeschränkter Zustimmung zur notwendigen Differenzierung von Sportpolitik und Allgemeinpolitik auf der einen Seite, und auf der anderen Seite grenzenloser Empörung nicht nur über die durch den Kriegstreiber ausgelösten Greuel selbst, sondern auch über die Abwegigkeit einer unverantwortlichen, scheinbar beschwichtigenden Reaktion darauf. Zusammen mit dem Abscheu darüber, dass ukrainische Sportler den Diskus und das Sporthemd gegen MG und Uniform tauschen müssen, um ihr Land gegen die russischen und belarussischen Invasoren zu verteidigen, und gleichzeitig russische und belarussische Sportler mit Hymnen und Nationalfarben für ihre Erfolge gefeiert werden, die sie auch für ihre verbrecherisch agierenden Staaten und deren Diktatoren erzielen, wurde auch auf die Unerträglichkeit verwiesen, dass die Sportler Russlands, bei denen die Wahrscheinlichkeit, staatlich gesteuert gedopt zu sein, indiskutabel hoch ist, an internationalen Wettkämpfen teilnehmen dürfen. Als Schlussfolgerung wurden von nicht wenigen Stimmen die individuellen und institutionellen Boykottreaktionen in vollem Umfang befürwortet.
Auf der Seite des Widerspruchs gegen die Thesen wurde ferner Anstoß genommen an dem Zeitpunkt. Vor dem Hintergrund eines mörderischen und durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieges, begleitet von der Drohung eines atomaren Weltenbrandes, wenn jemand es wagen sollte, dem Usurpator in den Arm zu fallen, würden akademische Diskussionen obsolet und feinsinnige Unterscheidungen gegenstandslos. Zu einem fast weltweiten Gesamtpaket von müsse unabdingbar auch der Ausschluss aller russischen Sportlenker, Geldgeber und Strippenzieher (und leider auch Athleten/innen) aus dem internationalen Sport gehören. Denn gerade Letzteres werde Putin als Person härter treffen als manche wirtschaftliche Sanktionsmaßnahme. Wenn nicht jetzt nicht alle Sportorganisationen hart, umgehend und umfassend reagierten, wann dann?
Es versteht sich von selbst, dass Athleten, die keinen klaren Anti-Doping-Status haben, ausgeschlossen gehören, egal ob russische oder andere, und die russischen stehen ja tatsächlich seit längerem unter besonderem Verdacht. Das aber ist eine sportpolitisch zu treffende Beurteilung und Entscheidung. Dass das allgemeinpolitische Merkmal ‚russisch‘ allein ausreichen soll für einen Ausschluss, weil der russische Staat Krieg führt, ist eines gründlicheren Nachdenkens wert. Dass im Nahost-Konflikt das Merkmal „israelisch“ für ähnliche Diskriminierung ausreichen soll, ist dort seit Jahrzehnten geltende verwerfliche Praxis. Das heißt: Gerade in Ausnahmezuständen ist gründlich argumentierende Urteilskraft gefragt. Für feinsinnige Unterscheidungen sei jetzt der völlig falsche Zeitpunkt? Nein, gerade dafür ist jetzt der richtige Zeitpunkt.
Oder meint man, man falle Putin in den Arm, indem eine ukrainische Tennisspielerin sich weigert, gegen eine russische Spielerin anzutreten, weil sie eine Russin ist? Oder wenn ein Münchner OB den russischen Chef seiner Philharmoniker, den er wegen seiner musikalischen Qualitäten ungeachtet seiner politischen Nähe zu Putin berufen hat, nun entlässt, weil der sich nicht gegen den Krieg ausgesprochen hat? Wobei bemerkenswerterweise dieselbe Zeitung, die in ihrem Sportteil vehement gegen das Zögern der Sportverbände gegenüber Boykottforderungen polemisiert, in ihrem Feuilleton die kulturpolitische Berechtigung einer solchen Entlassung in Zweifel zieht mit der rhetorischen Frage „Russen raus? Bekenntnisse, Ausladungen, Absagen: Politik und Kultur zelebrieren die maximale Distanz zu Moskau. Das ist atemberaubend. Und oft auch falsch.“ Und noch einmal zu diesem Fall des Dirigenten Valery Gergiev: „Kann es sein, dass das Auslöschen einer solchen Künstlerkarriere der hilflose Versuch ist, Putin zu schaden? Es gibt eben einen Unterschied, ob man ökonomische oder kulturelle Verbindungen kappt im Krieg. Es wird zu fragen sein, ob ein solcher Schritt Putin schadet. Oder uns. Oder der Kunstfreiheit.“ Gerade in einer solchen Zeit scheint es erforderlich und vordringlich, nicht alles vom Krieg und von der allgegenwärtigen öffentlichen Empörung gegen ihn auffressen zu lassen.
Die Bedeutung der demonstrativen und breit aufgestellten Solidarität mit einem angegriffenen Staat und seinen Menschen ist von unschätzbarer Bedeutung. Gleichwohl bleibt auf der Basis der Argumentation in den zehn Thesen für einen Kulturbereich wie den Sport zu fordern, ihn nicht pauschal in entsprechende Sanktionen einzubeziehen. Dies hat seinen Grund in einer Sonderstellung, die einem politisch schwachen und fragilen Kulturbereich wie dem Sport und ähnlichen Verwandten in der Großfamilie der Künste zuzusprechen ist: Sie können Solidarität in vielfältiger Form bekunden, ohne dennoch ihr eigenes Stattfinden völlig aufgeben zu müssen. Und sie können in Zeiten extremer politischer Krisen gerade durch ihr Durchhalten Brücken über die Gräben und die kriegerische Zeit hinweg erhalten, an die man nach der Beendigung der Krise weiter anknüpfen kann. Die Geschichte ist voller wunderbarer Beispiele, in denen Kulturschaffende ihrem eigenen Feld und der Gesellschaft einen großen Dienst dadurch erwiesen haben, dass sie sich nicht für politische Ziele zwangsrekrutieren ließen.
Es gilt somit auch abzuwägen, inwieweit es gerechtfertigt sein kann, in Anbetracht seiner nur schwachen Wirkungsmöglichkeiten für die Durchsetzung allgemeinpolitischer Anliegen dafür mit der Selbstpreisgabe des Sports zu drohen. Eine solche Konstellation zu verhindern, ist das primäre Anliegen, von dem aus der diskutierte Ausgangstext argumentiert. Bei der dem entgegengehaltenen Position steht unausgesprochen im Hintergrund eine diskussionsbedürftige Prämisse: dass nämlich ein sportsinn-gerecht aufgeführter Sport erst dann gerechtfertigt sein könne, wenn zuvor die innersportlich-sportpolitischen wie die außersportlich-allgemeinpolitischen Bedingungen allgemeinen menschenrechtlichen und demokratischen Standards gerechtwerden; und dass folglich dem eigenen Beitrag des Sports hierzu Vorrang zukomme vor jenen Aufgaben, die ihm die kulturelle Botschaft der Sportidee und die entsprechenden Handlungsimperative zuweisen.
Diese Prämisse, genauer betrachtet, trägt einen Ruch von – ja! – Fundamentalismus mit sich. Denn hiermit wird der Ausdifferenzierung von Sinn- und Sozialsystemen, welche die modernen Gesellschaften zunehmend prägen, tendenziell der Boden entzogen. Und genau das ist ein Hauptkennzeichen fundamentalistischen Denkens und Handelns. Den Gegenpart hierzu bildet ein Liberalismus, welcher die Vorzüge dieser Differenzierung und einer darauf aufbauenden fruchtbaren Arbeitsteilung anerkennt und – wirklich prinzipiengerecht und praxiswirksam, nicht nur rhetorisch oder heuchlerisch vorgetäuscht – gegen gewaltsame Übergriffe faktisch überlegener Systeme wie Ökonomie, Politik und Militär verteidigt. Insoweit, als dies tatsächlich gelingt, kann das Entmachtungs- und sogar Friedenspotential, welches in einer solchen liberalen Differenzierung angelegt ist, freigesetzt und für eine zivile gesellschaftliche Entwicklung fruchtbar gemacht werden. Darin, dies zu demonstrieren, liegt auch das eigentliche Friedenspotential, welches der Sport in den gesellschaftlichen Verkehr einzubringen vermag.
Eben dies ist folglich auch eine Kernfrage der Sportpolitik, die künftig weiter zu verhandeln sein wird: ob ein Kulturbereich wie der Sport seine Handlungsmöglichkeiten dadurch wahren und erweitern kann, dass er die „Front“ seiner Ambitionen weiter in den allgemeinpolitischen Raum hinein ausweitet, oder indem er in kluger Selbstbeschränkung die in optimistischer Erwartung auf eine zügige menschenrechtliche und demokratische Zivilisierung der Weltverhältnisse zuletzt etwas weiter vorgeschobene „Front“ begrenzt auf eine Linie, die mit seinen schwachen „Truppen“ mit realistischer Aussicht auf Erfolg verteidigt werden kann. Der Schock der skrupel- und in jeder Hinsicht rücksichtslosen russischen Aggression der letzten Tage müsste fürs Erste eine nachhaltige Ernüchterung weitergesteckter Hoffnungen und – eben – ein gründlicheres Nachdenken über den tatsächlichen politischen Handlungsspielraum des Sports ausgelöst haben, statt aus einem panischen Reflex heraus wieder einmal auf das schlichteste aller möglichen Reaktionsmuster zurückzugreifen, nämlich auf undifferenzierte Boykottgesten.
Vor allem ist an die verheerenden historischen Erfahrungen aus parallelen politisch-militärischen Konstellationen zu erinnern, in denen durch „Verrat der Intellektuellen“, wie es Julien Benda in einem anderen Kontext genannt hat, eine besinnungslose Kriegsstimmung der Öffentlichkeit noch zusätzlich befeuert, statt durch präzise Aufklärung gekontert worden ist. Man denke an das Manifest von 93 deutschen Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern unter dem Titel An die Kulturwelt! vom Oktober 1914, in dem der im Deutschen Reich (noch) herrschenden Kriegseuphorie und Siegeszuversicht ungeachtet aller bereits geschehenen Kriegsverbrechen scheinbare Legitimation verliehen wurde. Man denke ferner daran, dass ein Literaturnobelpreisträger namens Thomas Mann sich gleichzeitig selbst zum „Kriegsdienst“ einberief, indem er die gesamte Zeit des Ersten Weltkrieges hindurch an seiner „Kampfschrift“ Betrachtungen eines Unpolitischen arbeitete, deren Intention und inhaltliche Ausrichtung er durch sein späteres demokratisches Engagement korrigierte. Oder man denke daran, dass eine breite politische Koalition in der Bundesrepublik unter Führung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt dem US-Boykott gegen die Olympischen Spiele von Moskau 1980 folgte und damit über eine Minderheit im NOK für Deutschland und vor allem auch über den Protest vieler Olympiakandidat*innen aus vermeintlicher Staatsräson hinwegmarschierte, eine Entscheidung, die der SPD-Vorsitzende Willy Brandt im Nachhinein zu einem politischen Irrtum erklärte.
All dies unterstreicht noch einmal, dass es ein fataler Irrweg ist, wenn man meint, die dramatische Stunde der Not lasse „akademische Diskussionen obsolet“ werden, und man diese Lage zum „völlig falschen Zeitpunkt“ erklärt, um feinsinnige Unterscheidungen hochzuhalten. „Akademische“ Diskussionen sind in dem Moment alles andere als nur akademisch, wenn in ihnen nach orientierenden Wegweisern für eine begründete Praxis gesucht wird. Und gerade dies ist die vornehmste Aufgabe von „Geistesarbeiter*innen“. Damit leisten sie ihren wichtigsten eigenen Beitrag zu einer zukunftsfähigen Bewältigung der Krise. Damit vor allem unterstützen sie auch den heroischen Abwehrkampf der angegriffenen ukrainischen Bevölkerung sowie die massenhaften weltweiten Solidaritäts-Kundgebungen auf den Straßen und Plätzen gegen den Krieg. Und vor allem dadurch können sie ihren eigenen substantiellen Beitrag zur Suche nach Auswegen aus der Kriegskatastrophe leisten, die ansonsten in Richtung Sanktionen, Aufrechterhaltung der Diplomatie, Bemühungen um Vermittlung eines Waffenstillstands und Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs weisen. All dies jedoch kann ebenfalls, wenn überhaupt, nur dann gelingen, wenn man kühlen Kopf bewahrt, den analytischen Verstand nicht ausschaltet und sich nicht von der begründeten Empörung überwältigen lässt.
Niemandem hingegen ist wirklich geholfen damit, dass man unterschiedslos Kulturgüter wie den Sport, wie die Musik und andere auf dem Altar der Solidarität mit dem angegriffenen Land opfert und als vermeintliche Widerstandsaktion gegen den Aggressor einfach preisgibt. Es sind vorgeblich „realpolitisch“ motivierte Barbaren, die immer und immer wieder im Zuge militärischer Auseinandersetzungen bedenken- und skrupellos Kulturgüter als Mittel im Kampf einsetzen oder sie ohne mit der Wimper zu zucken vernichten. Der Widerstand gegen solche Barbarei erfährt keinerlei erhöhte Legitimation dadurch, dass die Verantwortungsträger für diese Kulturgüter diese selbst auf das Schlachtfeld führen und dort dem Untergang preisgeben.
Nicht zuletzt bedeutet es eine Überschätzung des Gewichts des Sports und eine Unterschätzung der Entschlossenheit des Usurpators Putin, wenn man „einfach so“ glaubhaft machen will, dass mitten in dem von ihm angezettelten Krieg ein Sportboykott Putin als Person härter treffen werde als harte Sanktionsmaßnahmen. Nein. Substantielle Realpolitik gegenüber einem zum Äußersten entschlossenen Aggressor kann kaum etwas von hilfloser Symbolpolitik erwarten, sondern nur von Finanzsanktionen, die der überlegenen Militärmaschinerie die Quellen entziehen, auf den beharrlichen Versuch zur Vermittlung eines Waffenstillstands bis hin zu einer Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof, obwohl Russland den nicht anerkennt, wie übrigens auch die USA. Die direkteste, wenn auch unwahrscheinlichste Lösung des Konflikts wäre zwar von einer Palastrevolte im Kreml zu erhoffen, aber dort ist weit und breit kein neuer Gorbatschow in Sicht.
Könnte es sein, dass in der aktuellen Dramatik der Entwicklung die politische Urteilskraft zusätzlich dadurch getrübt wird, dass sich Putins Aggression unmittelbar vor unserer Haustür und bei unseren fast direkten Nachbarn austobt? Und dadurch das Gefühl der Betroffenheit und die Anteilnahme, aus nachvollziehbarer menschlicher Reaktion, dreimal größer sind, als, in den Worten von Goethes Faust, „Wenn hinten, weit, in der Türkei / Die Völker aufeinanderschlagen“? Wie gesagt: das Gefühl der Betroffenheit. Der Kopf müsste uns stattdessen sagen – und er sagt es uns schon längst, spätestens seit Kant –, dass wir in unserer Einen Welt nicht nur eine partikular auf die Näherstehenden, sondern eine universal auf alle Menschen bezogene Mitverantwortung für das Geschehen auf der Welt haben. Grausame Kriege mit zum Teil großen Opferzahlen plagen die Menschen bis heute weiterhin rund um den Globus, und die Opferzahlen dort, die in Gestalt von Flüchtlingsströmen auch hier in Europa „anlanden“, hatten bislang das „Herz“ von Ländern wie Polen und Ungarn, die jetzt bereitwillig ihre Grenzen für Flüchtlinge aus der Ukraine öffnen, nicht erweichen können. Niemand jedoch scheint der Meinung zu sein, dass eine schwache Friedensmacht wie der Sport überall gefordert ist, sich in die Bresche zu werfen. Es gilt somit, sich in seiner Handlungsorientierung noch konsequenter auf diese globale Perspektive zu beziehen, wenn man zu einer begründeten Urteilsbildung gelangen will über das, was politisch richtig oder falsch ist.
Nur das kann uns vor dem Abrutschen in ein totalisierendes Schwarz-Weiß-Denken und ein entsprechendes Freund-Feind-Handeln bewahren, das unversehens im aktuellen Fall nur noch Solidarität mit der angegriffenen Ukraine oder Verrat an deren gerechter Sache kennen will. Hannah Arendt hat in ihrer Studie Eichmann in Jerusalem ein Beispiel dafür gegeben, wie man selbst im Umgang mit der schändlichsten Form von Staatsverbrechen in der Menschheitsgeschichte den analytischen Verstand nicht ausschalten und sich dabei selbst von den infamsten Anfeindungen nicht irritieren und einschüchtern lassen darf.
Erinnert man sich noch an den Film 12 Angry Men (Die zwölf Geschworenen) von Sidney Lumet aus dem Jahr 1957? Henk Fonda als Geschworener Nummer 8 in einem Mordprozess nervt durch beharrliches Nachhaken seine Jury-Kollegen, die sich schnell einig sind über den Angeklagten: hang him! Fondas unbeirrtes und gründliches Fragen bringt schließlich die Unschuld des Angeklagten zutage. Mit der Referenz auf diesen Film ist für unseren Fall natürlich nicht gemeint, dass dem Täter Putin das politisch-moralische Todesurteil zu ersparen wäre. Gemeint ist vielmehr die Bedeutung, die gründlichem Fragen und Argumentieren auf der Suche nach vertretbaren Lösungen für praktische Konflikte zukommt. Generell wie speziell in unserer Frage nach einer begründeten Haltung des Sports zu einem politisch-militärischen Konflikt.

 

7. Ein sportsinn-widriges Bild vom Sport ist ein schlechter Ratgeber

Es ist die Skepsis gegenüber zu weit gesteckten Erwartungen an den Sport als eine vermeintliche, in Wirklichkeit aber schwache und außerordentlich fragile Friedensmacht, die hier zu der Konsequenz führt, dass Sportpolitik ihr Hauptaugenmerk auf die Schaffung und Verteidigung von möglichst vor gewaltsamen Übergriffen von außen sicheren Räumen für die „Aufführungen“ der sporteigenen Dramen richten sollte, nicht aber den Anspruch auf Spielbeteiligung an politischen Dramen, die keine tragende oder überhaupt nur wirklich spielbare Rolle für ihn vorsehen und zulassen. Es ist aufschlussreich, dass die Befürworter dessen, was hier „Ausschließeritis“ genannt worden ist, diese Haltung durchweg von der Annahme eines unbedingten Primats der Allgemeinpolitik aus begründen und mit der Legitimation durch dieses scheinbare Mandat dafür votieren, im Konfliktfall der Ausdifferenzierung und der Autonomie von kulturellen Bereichen wie insbesondere dem Sport einen Sinn und das Recht zu bestreiten. Die Wochenzeitung Die Zeit hat berichtet, dass inzwischen sogar eine Debatte darüber losgetreten worden ist, ob man jetzt noch musikalische Werke russischer Meister aufführen dürfe oder solle. So weit also kann man kommen, wenn bei der politischen Urteilsbildung der Kopf ausgeschaltet wird.
Der Sport, wohlverstanden im Sinne eines engen Sportbegriffs, zählt nicht zu den materiellen Gütern, denen von Natur aus Macht zukommt. Er ist vielmehr durch und durch ein künstliches Geschöpf der menschlichen Phantasie. Dessen für nichts anderes als für ihr schieres Stattfinden zu „gebrauchende“ Werke entstehen allein durch die Vereinbarung von Regeln für die Durchführung von Wettbewerben und für den Zugang zu ihnen. Und sie sind deshalb, weil sie einen symbolischen und keinen direkten materiellen Wert verkörpern, besonders verletzlich und sogar letztlich letal bedroht durch Regelverletzungen.Diese werden von dem sportsinn-widrigen Versuch getrieben, trotzdem einen außersportlichen, materiell für ökonomische oder politische Ziele ausbeutbaren Zweck hineinzutragen, und damit in den kulturellen Kern des Geschehens einzugreifen, der sich darauf verlassen können muss, dass allen sportlich Qualifizierten der Zugang zum Wettbewerb gewährleistet wird.
Verliert man diese „Geburtsurkunde“ des Kulturguts Sport aus dem Blick, entsteht die Illusion, man könne mit ihm alles Mögliche anstellen, was einem aus außersportlichen Gründen gerade in den Sinn kommt, so zum Beispiel auch den Transport von allgemeinpolitischen Botschaften ohne Rücksicht auf die Folgen für den Sport selbst. Seine Leistung für die Gesellschaft, wie die auch jeder anderen Kunst, und damit seine Werte bestehen in seinem sinngerechten Stattfinden, nicht in beliebigen außersportlichen Zwecken, die man aus nichtsportlichen Gründen von außen an ihn herantragen möchte. Deshalb bedeutete es eine Irreführung, wenn in den medialen Bilanzen etwa von Peking 2022 davon die Rede war, Olympia habe sich dort weiter von „seinen Werten“ entfernt als jemals, weil er dort nicht für die außersportlich-allgemeinpolitischen Ziele von Menschenrechten und Demokratie eingetreten sei. Wer das Sportgeschehen kritisch beurteilen will, darf dazu nicht willkürliche Wert- und Beurteilungsmaßstäbe heranziehen, sondern muss sie richtig, und das heißt sportsinn-gerecht justieren.
Jedenfalls bedeutete es eine tatsächliche Verletzung seiner Werte, als im Kontext des russischen Kriegs gegen die Ukraine russischen Athlet*innen der Zugang zu den Paralympics und anderen gleichzeitig stattfindenden Sportereignissen allein aus außersportlichen Gründen verweigert wurde. Den selbstverständlich nicht nur berechtigten, sondern dringend gebotenen Widerspruch und Protest gegen den Krieg konnte und musste man auf andere Weise zum Ausdruck bringen, wenn man dem Sport nicht seine fragile Existenzgrundlage entziehen will. Es ist kaum begründbar, dem Sport eine externe Friedensbotschaft abzufordern, wenn man ihm gleichzeitig das, wie oben angedeutet, seinem kulturellen Eigensinn und seiner Autonomie immanente Friedenspotential entzieht.

Zur Person: Dr. Sven Güldenpfennig, Vohburg an der Donau; Sport- und Kulturwissenschaftler mit den Schwerpunkten Sportphilosophie, Sportgeschichte und Sportpolitik; u.a. Olympiaprofessor in Hamburg und Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Olympischen Instituts in Berlin; zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen, Autor und Herausgeber der Schriftenreihe Sport als Kultur. Studien zum Sinn des Sports (seit 1996)