Arbeitszeitflexibilisierung und kein Aufschrei bei den Sportorganisationen

Ein Gastbeitrag von Rainer Hipp

Die Novellierung des Arbeitszeitgesetzes sollte die Sportorganisationen nicht nur aufhorchen lassen sondern in Schrecken versetzen. Aber weder von der Dachorganisation Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) noch von den Mitgliedsorganisationen vernimmt man einen Ton zu diesem existenziellen Thema.

Die Wirtschaftsministerin des Landes Baden-Württemberg, Nicole Hoffmeister-Kraut, beispielsweise ist gerade auf Werbetour für flexiblere Arbeitszeiten. Ihre Vorschläge für ein neues Arbeitszeitgesetz im Bund zielen auf eine tägliche Höchstarbeitszeit von maximal zwölf Stunden pro Tag (netto ohne Pausen). Bislang sind es zehn Stunden. Mancherorts in Deutschland ist der klassische Achtstundentag, montags bis freitags, schon zum Auslaufmodell geworden. Obwohl die sogenannte Digitalisierung der Arbeit erst ihren Anfang nimmt, sind immer mehr Menschen abends und am Wochenende beruflich aktiv.

Was bedeutet das für die Sportorganisation – speziell die Sportvereine?

Das Funktionieren des Sportvereins wird unter anderem bestimmt durch das in ihm vollzogene Personalsystem. Dieses Personalsystem hat die Ehrenamtlichkeit seiner Mitarbeiter, jedenfalls des größten Teils, zur Grundlage. Weniger in der Administration, mehr im Trainings- und Übungsbereich wird die ehrenamtliche Arbeit durch nebenamtliche, bei finanzstärkeren Vereinen durch hauptamtliche Tätigkeit begleitet und gestützt.

Das beschriebene System funktioniert bisher einigermaßen, weil Sportwünsche und Befriedigungsangebote zeitlich zusammenpassen. Die Mitarbeiter der Sportvereine stehen gewöhnlich jeweils zu jener Zeit zur Verfügung, in der Sport nachgefragt wird. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit bringt dieses Sportvereinssystem in Gefahr.

Es ist anzunehmen, dass die Tages -und Wochenarbeitszeit (bezogen auf die Sportwilligen und auf deren Durchschnitt) auseinanderdriften wird. Das bedeutet, dass Sportbedürfnisse an Wochentagen und zu Tageszeiten geäußert und zu befriedigen gewünscht werden, zu denen es problematisch wird, eine zeitlich entsprechende Einsatzbereitschaft des Vereinspersonals bisherigen Zuschnitts zu organisieren.

Die regelmäßig durchgeführten Sportentwicklungsuntersuchungen des DOSB und der Landessportbünde (LSB) ergeben als größtes Problem die Gewinnung von ehrenamtlichem Personal. Das gilt für die Funktionsträger im organisatorisch-verwaltenden Bereich ebenso wie für Trainer, Übungsleiter, Schiedsrichter und Kampfrichter. Die Personalgewinnung ist das Kernproblem der Sportvereine heute und zukünftig.

Scheinheiligkeit oder Unwissen der politischen Mandatsträger

Bemerkenswert ist immer das hohe Lied auf das Ehrenamt durch die politischen Mandatsträger der Landes- und Bundesebene. Die kommunalen Mandatsträger- also Gemeinde-, Stadt- und Kreisräte – wissen sehr wohl Bescheid. Sind oder wären sie doch selbst Betroffene der Arbeitszeitflexibilisierung in den Kommunalparlamenten. Auch die oben erwähnte Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut läßt bei ihren Besuchen der Sportorganisation keine Gelegenheit aus, das ehrenamtliche Engagement und die vielen Freiwilligkeitsleistungen der Sportfunktionäre zu lobpreisen und mit verbaler Anerkennung zu versehen. Der Schreiber dieser Zeilen ist sich sicher, dass die Ministerin und Gesellschafterin der Wägetechnologiefirma Bizerba, sich den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitflexibilisierung und ehrenamtlichem Engagemen t- nicht nur in Sportvereinen – noch nicht vor Augen geführt hat. Ansonsten wären ihre Elogen auf das Ehrenamt scheinheilig.

Doppelte Unterprivilegierung des Prekariats

Der Sport und die Sportvereine sind und bleiben ein Hort der Mittel- und Oberschicht. Auch das beweisen die Sportentwicklungsuntersuchungen. Die Sportorganisation hat bis heute keine Patentrezepte, die bildungsferne Schicht zum Sportreiben zu animieren und zum Eintritt in den Sportverein zu bewegen. Doch genau diese Schicht ist in atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig: Geringfügig Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigung, befristete Beschäftigung und in Zeitarbeit. Diese atypischen Beschäftigten sollen aber höchste Flexibilisierung ihrer Arbeitszeit an den Tag legen, um überhaupt in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen. Das Prekariat, um diesen soziologischen Begriff zu verwenden, ist also doppelt unterprivilegiert. Erstens wird ihnen mangels Bildung der Zugang zum Sport verwehrt, und zweitens sind sie zeitlich gar nicht in der Lage, die Offerten der Sportvereine anzunehmen, weil sie zu deren Betreuungszeiten ihrer Arbeit und Existenzsicherung nachgehen müssen. Für die sozialen Unterschichten ist Arbeit von existentieller Bedeutung, für sie hat Sport den Charakter des Überflüssigen, des Verzichtbaren. Die jetzt schon überwiegende Anbindung des Sports in den Mittel-und Oberschichten würde weiter verfestigt, der Anspruch der Sportorganisation, für alle als Chance offen zu stehen, deutlich vermindert.

Nötig ist eine Allianz zwischen Gewerkschaften und der Sportorganisation

Leider scheint es derzeit keine Allianz zwischen den Gewerkschaften und der Sportorganisation – nicht nur bei der Arbeitszeitflexibilisierung – zu geben. Zu den früheren DSB-Zeiten (Deutscher Sportbund, Vorläuferorganisation des DOSB) gab es regelmäßige Treffen mit den Gewerkschaften. Wohl wurde seitens der Gewerkschaften gelegentlich die These vertreten, man wolle „der Reproduktion der Arbeitskraft“ durch die Sportvereine keinen Vorschub leisten, aber man war sich in der Auffassung „Sport für alle“ in der Gesellschaft einig.

Will man die völlige Flexibilisierung und damit die Gefährdung der Arbeitnehmer und des Personalsystems des Sports verhindern, kann es nur eine Allianz zwischen dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und dem DOSB geben. Für die Allianz mögen unterschiedliche Gründe maßgebend sein, eine Gemeinsamkeit dürfte vorhanden sein: Absolute Priorität hat die Gesundheit der Arbeitnehmer! Die Gesundheit der Beschäftigten darf nicht dem Interesse der Arbeitgeber untergeordnet sein. Als Richtschnur zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten müssen stärker als bisher neben ökonomischen auch soziale Kriterien dienen. Die Arbeitsmediziner sind sich einig, wöchentliche Arbeitszeiten von deutlich mehr als 40 Stunden schaden der Gesundheit und der Arbeitssicherheit. Dies gilt vor allem für die produktiv Tätigen. Marta Böning, die Arbeitsrechtsexpertin beim DGB sagt: „Wir sind heute nicht belastbarer als vor 30 Jahren. Aber ein Achtstundentag ist heute deutlich anstrengender als damals.“

Die Sportvereine bedürfen der Unterstützung ihrer Dachorganisationen

Ob und wie die Sportorganisation und speziell Sport im Verein akzeptiert werden, hängt natürlich davon ab, welche Bewertung und welchen Stellenwert die Sportorganisation in der öffentlichen, allgemeinen Einschätzung erfährt. Ginge es nach den Lobhudeleien für das Ehrenamt, führte an der Sportorganisation keine Entscheidung vorbei. Doch die Realität sieht anders aus. Die Sportorganisation muss sich zu diesem Thema positionieren. Es muss eine Abwägung der Interessen der Sportvereine mit den Vorstellungen von Arbeitgebern und der ihnen nahestehenden Parteien vorgenommen werden. Die Sportvereine müssen von ihren Dachorganisationen unterstützt und politisch vertreten werden. Dazu muss man wissen, wie die Mitglieder und Funktionsträger in den Vereinen ihre personelle Zukunft gestalten wollen – oder besser – können. DOSB, Landessportbünde und Fachverbände sind aufgerufen, den Vereinen bei diesem Anpassungsprozess im Personalsystem behilflich zu sein. Sie müssen gemeinsam die Personal-und Finanzierungsschwierigkeiten lösen und bewältigen. Denkbar wäre zum Beispiel eine zunehmende Ergänzung der ehrenamtlichen und nebenberuflichen Arbeit durch die Anstellung von Mitarbeitern, die ihrerseits tageszeitunabhängig einsetzbar sind.

Dann genügt es nicht, alle zwei, drei oder gar vier Jahre eine Mitgliederversammlung durchzuführen. Probleme, siehe Arbeitszeitflexibilisierung, entstehen nicht im Rhythmus von Verbandstagen. Alle zentralen und regionalen Organisationen des Sports müssen sich als Kooperations-und Kommunikationszentren für die Vereine verstehen. Als Funktionsstellen, deren wesentliche Aufgabe es ist, die Interessen der Vereine zu vertreten und sie bei ihren Problemlösungen zu unterstützen.

Die Sportorganisation muss ihre quantitative und qualitative Größe mit klaren Vorstellungen zur Existenzsicherung ihres Systems artikulieren. Der DOSB und seine Mitgliedsorganisationen sind keine Revolutionäre, aber ein Aufschrei gegen die ungehemmte Arbeitszeitflexibilisierung wäre angebracht.


Rainer Hipp war 23 Jahre Hauptgeschäftsführer des Landessportverbandes Baden-Württemberg.