Zur Vergabe von Fußball-Weltmeisterschaften

Ein Spiel der Mächtigen

Die Entscheidungen über die Vergabe einer Fußball-Weltmeisterschaft basieren auf demokratisch vereinbarten Regeln. Die Entscheidung über die Ausrichtung dieses Ereignisses findet gemäß den Statuten der FIFA über eine geheime Abstimmung statt. Es ist dabei geregelt, dass für den Sieg eines Bewerbers die einfache Mehrheit ausreicht und bei Stimmengleichheit das Machtwort des Präsidenten zu entscheiden hat. In der FIFA ist man auch bemüht demokratischen Prinzipien zu folgen, wenn es um die Ausschreibung der Fußball-WM geht. Genaue Bewerbungsfristen sind definiert, Kriterienkataloge zur Bewertung von Bewerbungen werden allen Bewerbern zugänglich gemacht. Evaluierungskommissionen werden eingesetzt und das Verfahren der Präsentation der Bewerber ist am Gleichheitsprinzip orientiert. Wie der sportliche Wettkampf so soll auch der Bewerber-Wettkampf ein fairer Wettbewerb sein. Fair Play ist nicht nur das Prinzip, das die Sportler zu beachten haben. Es soll auch für die Entscheidung der Funktionäre und für die Bewerber und deren Organisationen gelten.

Doch so, wie sich im Spitzensport die Praxis von der Theorie ganz wesentlich unter­scheidet, so gilt dies auch für den „Bewerbungssport“. So wie im sportlichen Wettkampf auf der Vorderbühne ein anderes Handeln zu erkennen ist als auf der Hinterbühne, so sind auch für den Bewerbungssport Vorder- und Hinterbühne zu unterscheiden. So wie es im Hochleistungssport den Dopingbetrug gibt, so gibt es auch den Betrug im Bewerbungswettkampf. Auch Korruption und Manipulation sind in beiden Sorten von Wettkämpfen anzutreffen.

Was für den Bewerbungswettkampf jedoch kennzeichnend ist, das ist das besondere Phänomen der Macht. Mächtige, die über Macht in der FIFA verfügen, entscheiden über die Vergabe einer Fußball-Weltmeisterschaft. Jene, die ohne Macht sind, haben das Nachsehen. Macht und Ohnmacht können in der Welt des Hochleistungssports auf vielfältige Weise entstehen und sie können sich auch auf überraschende Weise verändern. Manche verfügen über Macht durch Geburt. Macht kann man sich aneignen. Macht kann einem zugesprochen werden. Macht kann geraubt und erobert werden. Macht kann auch durch demokratische Wahlen erworben werden. Sie kann legitim und illegitim sein. Macht kann einer einzelnen Person zukommen. Aber auch die FIFA besitzt als Organisation in ihrer Gesamtheit Macht und übt diese auch aus. Besonders interessant ist dabei, wie innerhalb dieser Organisationen einzelne Personen und Gruppen über Macht verfügen und andere von der Macht ausgeschlossen sind. Weiß man über diese Zusammenhänge Bescheid, kennt man die Machtverhältnisse in der FIFA, so sind auch die Kräfteverhältnisse klar, die bei der Vergabe einer Fußball-Weltmeisterschaft zu beachten sind.

Für die meisten internationalen Fachverbände resultieren die derzeit existierenden Kraftverhältnisse aus dem auf den ersten Blick als demokratisch zu bezeichnenden Prinzip des „One-Vote/One-Country System“. Internationale Fachverbände sind Mitgliedsorganisationen und sie sind bemüht, sämtliche Nationalstaaten der Welt in ihre Mitgliederstruktur zu integrieren. Das Bemühen geht bereits so weit, dass man mehr Mitglieder aufweisen möchte, als es überhaupt Nationalstaaten gibt. Die FIFA hat heute 209 Mitglieder. Fragt man einen Politologen nach der Anzahl der Staaten, die auf der Erde beheimatet sind, so schwankt die Zahl zwischen 200 und 204 Staaten. „One-Vote/One-Country“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Macht- und Kräfteverhältnisse in der FIFA von der Stimmabgabe dieser mehr als 200 Mitglieder abhängen. Jedes Mitglied hat dabei eine Stimme und verfügt über genau denselben Einfluss wie jedes andere Mitglied. Die Frage des Einflusses ist somit unabhängig von der Größe eines Landes oder der jeweiligen Sportorganisation. Sie ist auch unabhängig von der Anzahl der aktiven Fußballer in dem jeweiligen Land. Sie ist auch völlig unabhängig von historischen Gegebenheiten, Traditionen und der aktuellen ökonomischen Situation.

Mittels dieser angeblichen demokratischen Verteilungsstruktur der Macht beantwortet sich die Frage wer in den Gremien der FIFA, insbesondere deren Exekutive, Sitz und Stimme hat. Mittels dieses Modus wird somit auch über die Frage entschieden, wie sich die jeweiligen Entscheidungsgremien zusammensetzen, die über die Vergabe der Fußball-WM entscheiden.

Das „One-Vote/One-Country“ Prinzip hat bewirkt, dass sich die Gremien der FIFA immer mehr für die außereuropäischen Kontinente öffnen konnten. In gewissem Sinne kann man von einer Ent-Europäisierung der Entscheidungsgremien des Fußballs sprechen. Dieser Sachverhalt ist für die Vergabe einer WM von grundlegender Bedeutung.

Wurde in der Vergangenheit vom Exekutivkomitee der FIFA über die Vergabe einer WM entschieden, so waren nahezu immer dieselben strukturellen Merkmale zu erkennen. Bei allen Entscheidungen über die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft war die Position des amtierenden Präsidenten von grundlegender Bedeutung. Zu erkennen war dabei auch, dass diese Entscheidungen zu Gunsten des jeweiligen Siegers von den Präsidenten und dem jeweiligen Mitarbeiterstab sorgfältig vorbereitet wurden, wobei sich die Art der Sorgfalt von Präsident zu Präsident erheblich unterscheiden konnte. Dabei konnten allerdings auch die Konstellationen vor den jeweiligen Entscheidungen unterschiedlich sein.

So konnte über eine Weltmeisterschaft entschieden werden, ohne dass es eine eindeutige Prä-Justiz durch den amtierenden Präsidenten gab. Die Entscheidung zu Gunsten des späteren Ausrichters der Weltmeisterschaft war dabei in vieler Hinsicht kriterienlos. Sie unterlag den individuellen Präferenzen und Emotionen der beteiligten Exekutive-Mitglieder und sie hatte einen im hohen Maße irrationalen Charakter.

Treten mehrere Bewerber an, so kann es sein, dass jedes einzelne Exekutive-Mitglied vor der Entscheidung kontaktiert wird. Der Begriff „Incentives“ erweist sich in der Welt des Sports als äußerst schillernd und weist vielfältige Erscheinungsformen auf. Vom Kugelschreiber über den Plüschteddybären, das T-Shirt, die Flasche Wodka, den schönen Bildband, das Stipendium für die Tochter, bis hin zur Vermittlung eines Sponsorenvertrages in Millionenhöhe kann die Palette der „Incentives“ reichen. Beim Fußball werden dabei meist solche „Incentives“ offeriert, von denen die abstimmenden Exekutive-Mitglieder auf direkte oder indirekte Weise auch persönlich profitieren. Es werden aber auch „Incentives“ angeboten, die einen direkten Bezug zu den Weltmeisterschaften aufweisen und einen Beitrag zu Gunsten einer positiven Entwicklung der Sportart leisten sollen. So werden u. a. kostenlose Trainingscamps für teilnehmende unterentwickelte Nationen offeriert. Es werden auch zusätzliche Übernachtungen für die Betreuer finanziert oder es werden über die Ausschreibungspflichten hinaus weitere Ausrichtungskosten übernommen, die normalerweise die FIFA selbst zu tragen hätte. Als besonders „politisch korrekt“ gilt es dabei, wenn sich Bewerber für entwicklungspolitische Hilfsmaßnahmen engagieren. Beiträge zu Gunsten der angeblich Armen sind immer willkommen und erwünscht. Bewerber, die dabei besonders Afrika im Blick haben, machen gewiss keinen Fehler.

Für die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft spielt aber auch die Qualität eines Bewerbers, dessen kulturelle Attraktivität und nicht zuletzt auch die Unterbringung in einem anspruchsvollen 5-Sterne Hotel eine nicht unwesentliche Rolle. Kann der Bewerber als touristisch attraktiv eingeschätzt werden und entsprechen die Hotels, die offeriert werden, den höchsten Ansprüchen, so können diese Faktoren in offenen Entscheidungssituationen bei der Stimmabgabe Einfluss haben. Für manchen Funktionär spielt es eine wichtige Rolle, dass die nächste Weltmeisterschaft in einem Land stattfindet, in dem man noch nicht gewesen ist, das sich aber als attraktiv erweisen wird. Seine mitreisende Gattin oder der mitreisende Partner wird dies zu würdigen wissen. Auch wenn es unter ökonomischen Gesichtspunkt sinnvoll sein könnte, Fußball-Weltmeisterschaften in einem bestimmten Turnus nur in solchen Ländern durchzuführen, in denen Fußball attraktiv ist und eine entsprechende Klientel an Interessierten anzutreffen ist, so sind einige Mitglieder der FIFA-Exekutive eher geneigt, eine Wiederholung einer Fußball-Weltmeisterschaft am selben Ort als eine Ausnahme zu betrachten. Dies gilt auch dann, wenn die Ausrichtung an diesem Ort äußerst erfolgreich gewesen ist. Die privaten Interessen der Entscheidungsträger sind dabei in der Regel stark genug, um ökonomisch rationalen Entscheidungen den Vortritt zu überlassen.

Versucht man die hier skizzenhaft zusammengetragenen Erkenntnisse über die Entscheidung zur Vergabe einer Fußball-Weltmeisterschaft zu systematisieren, so können einige Regeln erkannt werden, die ganz offensichtlich das Kräfteverhältnis bei der Vergabe prägen.

Sieben Regeln scheinen es dabei zu sein, die nicht zuletzt unter Demokratiegesichts­punkten als besonders kritisch zu betrachten sind:

  1. Dem Präsidenten der FIFA kommt bei den Entscheidungen zur Vergabe der Fußball-WM eine herausragende Rolle zu.
  2. Wenn zwei oder mehrere Bewerber zur Entscheidung anstehen, so ist die Grundlage der Entscheidung sowohl sachlich als auch unsachlicher Natur.
  3. Kommen unsachliche Kriterien bei der Entscheidung zum Tragen, so sind die­se entweder politisch geprägt oder emotionaler Natur.
  4. Die Vergabe-Entscheidungen können auch von so genannten „Incentives“ beeinflusst werden, wenn diese von den Bewerbern den Bewerbungsleistungen hinzugefügt werden bzw. erwartet werden.
  5. Sind „Incentives“ im Spiel, so besteht die Gefahr, dass Bewerber gegeneinander ausgespielt werden.
  6. Kommen die Bewerber aus verschiedenen Kontinenten, so kommt das politische Spiel der Macht zum Tragen. Das Kriterium „One-Vote/One-Country“ spielt dabei auf indirekte Weise eine entscheidende Rolle.
  7. Die persönliche Beeinflussung durch Bewerber, denen die Exekutive-Mitglieder unterliegen können, kann eine entscheidende Bedeutung für die zu erfolgende Abstimmung haben.

Diese Regelskizze kann sich ändern und sie bedarf vor allem der kritischen Diskussion. Eines ist dabei gewiss: Wird das „Bewerbungs-Spiel“ gespielt, so spielt die Frage des Geldes eine zentrale Rolle. Gerade am Beispiel der Fußball- Weltmeisterschaft kann in beispielloser Weise gezeigt werden, wie eng die Symbiose zwischen Sport und Geld geworden ist und wie letztendlich die Währung des Sportsystems die Währung der Wirtschaft ist.