Zur Situation des DOSB – drei Monate vor Beginn der Olympische Winterspiele 2022 in Peking

Drei Monate noch. Aber viele Federn, Mikrofone und Kameras regen sich schon in der ganzen Welt. Auch „sport- nachgedacht.de“ sollte bereits heute einen fundierten Beitrag leisten. Jeder weiß, dass die Spiele von 2022 für die Zukunft der olympischen Bewegung große Bedeutung haben. Es fehlt nicht an Pessimisten, gar an Aufforderungen zum Boykott. Einige Kritiker sagen darüber hinaus das Ende des Ganzen voraus, zumindest das Ende einer Phase. Aber Bedenken solcher Art hat es immer gegeben, seit vor vielleicht drei Jahrtausenden eine Handvoll genialer Denker in dem bewundernswerten kleinen Volk der Griechen eine Gedankenordnung aufbauten, nach der sie die Welt und die Menschen mit dem Verstande begreifen wollten. Und das gab ihnen die Idee dieses Festes ein. Sie war stark genug, sich nach einer Unterbrechung von mehr als 2000 Jahren mit Beginn des vergangenen Jahrhunderts zu erneuern. „Resultate“ im eigentlichen Sinne haben die Olympischen Spiele nicht aufzuweisen, sieht man von staunenswerten Sportleistungen ab, die ebenfalls nichts „einbringen“. Zum technischen Fortschritt tragen Sie kaum bei, nichts zur Mehrung von Macht und wenig zu Erweiterung des Wissens. Und doch sind die Olympischen Spiele populärer als je zuvor, als jedes andere Ereignis in der Welt. Alle Völker, alle Kontinente, Milliarden Menschen nehmen über die modernen Medien daran teil. Vielleicht liegt der tiefe Grund dieses Weltverständnisses, das die Spiele haben, in der Weltsehnsucht nach Frieden. Als wir vor einiger Zeit mit der geistigen Vorbereitung unserer Olympiakandidaten für Peking begannen, sagte Ihnen der Bonner Politologe Professor Jacobsen in einem viel beachteten Vortrag, dass es für die Politik der achtziger Jahre keine sinnvolle Alternative gäbe, als die Realität der Konkurrenz zwischen antagonistischen Systemen mit dem Imperativ des friedlichen Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns zu verbinden. Diese Erkenntnis bestätigt erneut die Richtigkeit der Entscheidung, die nächsten Olympischen Spiele in Peking durchzuführen. Sie war auch politisch wichtig.

Natürlich sind Olympische Spiele nur eine kleine Welt in einer großen Welt. Es gibt auch kein Entrinnen vor den schwierigen politischen Bedrängnissen in unserer Zeit. Und nur „minimale“ Aktivitäten zum Dienste und zur Sicherung des Friedens – eines partiellen Friedens – sind möglich. Sie verhindern nicht die Politik der Gewalt. Aber ein so nüchterner und kritischer Beobachter der Olympischen Spiele von München, der Soziologe Professor Schelsky, kam 1972 zu der Erkenntnis, dass das wichtigste an den Spielen nicht der Sieg, aber auch nicht – nach Coubertin – die Teilnahme sei, sondern der olympische Friede: Dieser erst vereint den Sieg und die Niederlage. Wenn sie beide zum Frieden dieser höchsten menschlichen Leistung beigetragen haben, kann sich der Sieger uneingeschränkt freuen, braucht sich der Verlierer nicht zu schämen“. Nun, wir wissen, dass die Medaillen in Peking hoch hängen werden. Aber unsere Mannschaft wird gut vorbereitet sein und in tadelloser Haltung ihr Bestes tun. So bleibt die Vorfreude auf die Olympischen Spiele von Peking. Und wir wissen auch, dass wir willkommen sind.

 

Am 17. August 1979 ist im Olympischen Feuer ein Beitrag von Willi Daume erschienen, in dem er als NOK-Präsident bemüht war, die Verantwortlichen des deutschen Sports auf die bevorstehenden Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau einzustimmen. Eine von der amerikanischen Regierung unter Präsident Jimmy Carter initiierte Boykottdrohung stand damals bereits vor der Tür. Gegen den Widerstand der großen Mehrheit der deutschen olympischen Athleten und Athletinnen und einiger verantwortungsvoller Funktionäre¹ des deutschen Sports, nicht zuletzt gegen den Widerstand von Willi Daume und von dem damaligen Athletensprecher Thomas Bach wurde der deutschen Sportführung wenige Monate später von der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt ein Boykott der Spiele nahegelegt und letztlich aufgezwungen. Daume´s wohl durchdachte Worte, die er wenige Wochen vor der Boykottentscheidung geäußert hatte, fanden kein Gehör und keine Beachtung.

Seine Erkenntnisse über die Bedeutung der modernen Olympischen Spiele in Zeiten politischer Krisen sind jedoch meines Erachtens heute genauso wichtig und bemerkenswert wie sie es vor 23 Jahren gewesen sind. Die eingangs in kursiver Schrift ausgewiesenen Überlegungen zu den Spielen 2022 in Peking sind identisch mit jenen Überlegungen wie sie von Willi Daume 1979 vorgetragen wurden. Die Worte „Moskau“ und „Olympisches Feuer“ wurden lediglich mit „Peking“ und „sport-nachgedacht“ersetzt und einige Zeitangaben wurden angepasst. Dabei ist es besonders erwähnenswert, dass 1979 Professor Jacobsen vor den Olympiakandidaten für die Spiele in Moskau als Politologe gesprochen hat und man sich deshalb durchaus fragen kann, warum eine entsprechende „geistige“ Vorbereitung unserer Athleten und Athletinnen für die Olympischen Winterspiele in Peking in diesen Tagen in der damaligen Form ganz offensichtlich nicht mehr denkbar ist. Liest man Daume´s Ausführungen, so fällt ferner auf, dass dem damaligen NOK-Präsidenten die philosophische Bedeutung des modernen Olympismus ganz offensichtlich sehr präsent war und das damalige Nationale Olympische Komitee sich in einem engen Austausch mit den Wissenseliten der deutschen Gesellschaft befunden hat. Vergleicht man dies mit der aktuellen Situation des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland wenige Monate vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Peking, so sind gravierende Unterschiede zu jenem NOK zu beobachten, das noch unter der Führung von Willi Daume für den Olympischen Sport in Deutschland verantwortlich war. Heute wird der Olympische Sport, die deutsche Olympische Bewegung, die Olympiamannschaft des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland vom Deutschen Olympischen Sportbund DOSB verantwortet, der aus der Fusion des ehemaligen DSB und des NOK im Jahr 2006 entstanden ist. Dieser DOSB – und die Spatzen pfeifen es von jedem Dach – befindet sich wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking im denkbar desolatesten Zustand, den eine Dachorganisation des Sports aufweisen kann: Der amtierende Präsident befindet sich in einer selbst verschuldeten Quarantäne. Die ihm loyal ergebene Vorstandsvorsitzende ist genötigt, ihren Vertrag mit dem DOSB zu kündigen. Mehrere Vorstandsmitglieder distanzieren sich von ihrem Präsidenten – und bei keinem ist zu erkennen, dass mit einer gewissen Fähigkeit zur Selbsterkenntnis eigene Fehler eingestanden werden und man möglicherweise sich bei irgendjemandem zu entschuldigen hätte. Ausgangspunkt für all dies scheint eine in Teilen wenig überzeugende Mitarbeiterschaft zu sein, der es an Aufrichtigkeit und Mut mangelt, die jedoch zu einer anonymen schriftlichen Beschuldigung bereit ist, deren Überprüfung in überzeugender Weise allerdings bis heute noch nicht stattgefunden hat. Die heute bei solchen Konflikten üblicherweise hinzugezogenen juristischen Experten und insbesondere PR-Agenturen tun ein Übriges, dass der Schaden, der dem organisierten Sport in dieser Affäre bereits entstanden ist, nahezu täglich noch vergrößert wird.

Dabei ist es wichtig, dass erkannt wird, dass der aktuelle Bedeutungsverlust des deutschen Sports infolge der Krise seiner Dachorganisation nicht erst in diesen Tagen begonnen hat. Darauf kann mit Willi Daume´s Essay aus dem Jahr 1979 mehr als deutlich hingewiesen werden. Die großen Erwartungen, die mit der Fusion des DSB mit dem NOK und mit der Neugründung des DOSB verbunden wurden, haben sich nicht erfüllt. Konnte noch unter Präsident Bach, dem ersten DOSB- Präsidenten, die gesellschaftspolitische Etikette des neuen Dachverbandes nach außen hin noch einigermaßen glänzen, so war jedoch bereits in seiner Amtszeit zu erkennen, dass mit Bach´s offensichtlichem Engagement zugunsten der von ihm beabsichtigten Bewerbung für das IOC-Präsidentenamt, einige wichtige nationale politische Problemfelder brach gelegen haben. Meines Erachtens ist dies teilweise auch auf falsche Personalentscheidungen zurückzuführen, wobei davon vor allem die Entwicklung der Abteilung „Leistungssport“ im DOSB betroffen war. Dies konnte auch von einem sich als besonders selbstbewusst darstellenden Ex-Politiker, in dessen neuer Rolle als Generaldirektor des DOSB nicht kompensiert werden. Mit der Wahl eines neuen DOSB Präsidenten im Jahr 2013 und der Ernennung einer neuen Vorstandsvorsitzenden konnten keine wegweisenden Veränderungen eingeleitet werden. In den Folgejahren ist vielmehr von einer Stagnation zu sprechen, die sich im Verhältnis zu allen gesellschaftlichen Partnern aus den Bereichen von Politik, Medien, Wirtschaft, Gewerkschaft, Kunst, Wissenschaft, Kultur, Bildung, Kirchen und Religion bereits abgezeichnet hatte. Seit die deutsche Gesellschaft von der Corona-Pandemie betroffen ist, konnte dieser gravierende Bedeutungsverlust auf besonders drastische Weise beobachtet werden. In gewisser Weise befindet sich der deutsche Sport in diesen Tagen noch immer in einem gesellschaftspolitischen „Lockdown“. Das derzeit zu beklagende Führungsversagen im deutschen Sport hat nun eine hektische Diskussionslandschaft hervorgebracht, die die deutlich erkennbare Gefahr in sich birgt, dass einige Funktionäre bloß noch um den Erhalt ihrer Macht kämpfen, ohne die eigentlichen Probleme der aktuellen Sportentwicklung im Blick zu haben. Von Transparenz kann einmal mehr nur bedingt die Rede sein und nachvollziehbare Vorschläge zur Änderung der Organisationsstrukturen werden zur öffentlichen Überprüfung nicht auf den Tisch gelegt. Es mangelt auch ganz offensichtlich an der notwendigen fachlichen Kompetenz um mögliche konkurrierende Organisationsstrukturen aufzuzeigen und beurteilen zu können. Man nimmt sich auch nicht die notwendige Zeit, um die zukünftig möglichen Organisationsmodelle auf den Prüfstand zu stellen.  Vielmehr besteht die Gefahr, dass man einmal mehr dem Irrglauben verfällt, dass mit der Wahl eines neuen Präsidenten – ganz gleich ob es eine Frau oder ein Mann ist, ob es ein gerade „freigewordener“ karrierebewusster Weltpräsident ist oder eine derzeit noch amtierende aber wenig erfolgreiche Präsidentin des Fechtsports ist, oder eine bisher noch unbekannte Persönlichkeit ist – die aktuellen Probleme gelöst sind und alles Weitere sich dann mit einer neuen Führung des Sports zum Guten entwickeln wird. Genau dieser Irrglaube kennzeichnete die Lage bei der Wahl des DOSB Präsidenten im Jahr 2013 und die Folgen dieses Irrglaubens sind in diesen Tagen zu beobachten. Willi Daume´s Essay aus dem Jahr 1979 sollte deshalb auch als eine besondere Mahnung für die sportpolitischen Persönlichkeiten verstanden werden, die in diesen Tagen sich noch für die Zukunft des olympischen Sports in Deutschland verantwortlich fühlen. Bei allem Verständnis für die aktuellen Personaldiskussionen, die ohne Zweifel dringend notwendig sind, gehört zu dieser Verantwortung vor allem aber auch, dass die deutsche Olympiamannschaft für Peking 2022 bei ihrer Vorbereitung auf die Spiele vorbildlich unterstützt wird und dass die Mannschaft sich der Herausforderungen bewusst wird, die die ersten Winterspiele in China bedeuten werden. Beleidigende Unterstellungen gegenüber dem Gastgeber, wie sie in diesen Tagen von einigen Verantwortlichen in den Fachverbänden zu hören waren, sind dabei ebenso wenig angebracht wie devote Ergebenheitsbekundungen gegenüber dem Chinesischen Olympischen Komitee, dem es ja grundlegend an demokratische Legitimation mangelt. Man muss sich eigentlich auch in diesen Tagen wünschen, dass es einen deutschen Politologen gibt, der unsere Olympiamannschaft auf „die Realität der Konkurrenz zwischen den antagonistischen Systemen und auf den Imperativ des friedlichen Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns“ vorbereitet. Willi Daume würde sich gewiss freuen.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 18.November 2021