Der moderne Hochleistungssport hatte und hat herausragende Vorbilder hervorgebracht, die für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft, in der das Leistungsprinzip eine zentrale Rolle spielt, in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden sollten. Ein Fechter wurde Olympiasieger, studierte während seiner Spitzensportkarriere sehr erfolgreich Jura, promovierte in dieser Disziplin, gründete eine Anwaltskanzlei, wurde Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes und erst Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees, dann dessen Präsident. Ein 3000m-Hindernis-Läufer errang den Europameistertitel als er sich in seiner Facharztausbildung befand und nach Beendigung seiner Karriere wurde er Klinikchef und einer der erfolgreichsten Orthopäden Deutschlands. Ein mehrfacher Deutscher Meister im Tischtennis schloss wie selbstverständlich seine Studien an verschiedenen Universitäten ab, übernahm leitende Funktionen in einem Weltunternehmen und wurde Vorstandsvorsitzender eines international renomierten Automobilherstellers. Drei Beispiele unter vielen, die für die gesellschaftliche Bedeutung des olympischen Sports besonders wichtig sind.
Als die Athleten mit diesen Biografien Hochleistungssport betrieben haben, war es ganz offensichtlich möglich, eine Ausbildung auf hohem Niveau mit einem Training und einer Leistung auf höchstem Niveau zu vereinbaren. Es war möglich, Olympiasieger zu werden und sich gleichzeitig für den Weg in die beruflichen Eliten unserer Gesellschaft vorzubereiten. Die Frage, die sich uns heute stellt – ist dieser Sachverhalt historisch geworden, wird den Spitzenathleten heute in den olympischen Sportarten der Weg zu einer Doppelkarriere zunehmend verschlossen?
Will man auf diese Frage eine Antwort finden, so muss die Olympische Bewegung mit ihren verschiedenen Sportarten einer differenzierten Analyse unterworfen werden. Zu beachten ist, dass sportliche Höchstleistungen in den unterschiedlichen olympischen Sportarten auf unterschiedlichen Altersstufen erreicht werden und dementsprechend verschieden die Dauer der Leistungssportkarrieren in diesen Sportarten ist. Gleiches gilt für das Trainingspensum, das heute benötigt wird, wenn man bis zur Weltspitze vorstoßen möchte. Große Unterschiede sind dabei vor allem zwischen den Mannschafts- und den Einzelsportarten zu erkennen. Aber auch in Abhängigkeit zu den verschiedenen Leistungsprofilen können die Unterschiede sehr groß sein. Ausdauerportarten haben Trainings- und Leistungspensen aufzuweisen, die an die Arbeitszeit von Vollberufen heranreichen und diese nicht selten überschreiten. Es gibt daneben aber auch Sportarten, in denen noch in hohem Alter ein Quereinstieg möglich ist und in relativ kurzer Zeit sportliche Höchstleistungen erreicht werden können. In anderen bedarf die Vorbereitung zur sportlichen Höchstleistung eines Zeitraumes von mehr als einem Jahrzehnt. So differenziert wie sich der Sport darstellt, so differenziert stellt sich auch der Ausbildungs- und berufliche Sektor dar. Kindergarten, Vorschule und Grundschule sind dabei unproblematisch. Sekundarstufe I, Sekundarstufe II und das Studium hingegen sind für die Frage der Doppelkarriere von höchster Relevanz. Nicht weniger bedeutsam sind Fachhochschulen und Universitäten, bei denen allerdings ebenfalls unter dem Aspekt der jeweiligen Belastung große Unterschiede bestehen können. Ein Studium, das Anwesenheit voraussetzt, hat andere Merkmale als Studiengänge, die über ein Fernstudium möglich gemacht werden. Medizin über ein Fernstudium zu studieren verbietet sich aus guten Gründen und eine naturwissenschaftliche Ausbildung, die auch an Laborplätze gebunden ist, setzt immer eine notwendige Präsenz voraus. Es gibt Studiengänge mit einem wöchentlichen Lernaufwand von mehr als 40 Stunden, andere hingegen können nahezu nebenbei studiert werden. Ähnliche Unterschiede sind auch in der beruflichen Ausbildung zu beobachten. Es gibt Ausbildungsberufe, bei denen verkraftet werden kann, dass ein Lehrling mehrere Wochen abwesend ist, weil das was in der Zwischenzeit geschieht durch intensive Nacharbeit wieder ausgeglichen werden kann. In anderen Ausbildungsgängen bestehen so gut wie keine Möglichkeiten, da Sonderregelungen für die Abwesenheit von Leistungssportlern aus praktischen und inhaltlichen Gründen nicht umsetzbar sind. Noch deutlicher wird dies wenn es um Berufe geht, die man neben der sportlichen Karriere ausüben möchte. Am ehesten scheint es dabei auf den ersten Blick für selbstständige Berufe möglich zu sein. Doch ein Selbstständiger wird das eigene Unternehmen vermutlich nur sehr eingeschränkt weiterentwickeln, wenn dem Unternehmer für seine Arbeit nur wenig oder gar keine Zeit zur Verfügung steht. Die Frage der Freistellung in Berufen zugunsten sportlicher Spitzenleistungen wird sich bei vielen Arbeitgebern nahezu von selbst verbieten – bei anderen kann es zu Kompromissen kommen. Für den Unternehmer stellt sich immer ganz grundsätzlich die Frage, ob die Freistellung für das Unternehmen von Nutzen ist. Leistung und Gegenleistung müssen eine mindestens ausgeglichene Bilanz aufweisen, die unternehmerisch zu vertreten ist. Betrachten wir in dieser differenzierten Weise das Verhältnis zwischen sportlicher Höchstleistung und Ausbildung sowie Beruf, so müssen wir erkennen, dass sich die heutige Situation für die Athletinnen und Athleten als höchst ungünstig erweist. Es kann nicht überraschen, dass ein großer Teil der Spitzensportler während der entscheidenden Spitzensportkarriere die berufliche Ausbildung und das berufliche Handeln unterbrochen haben und sich voll und ganz dem Hochleistungssport widmen. Es kann auch nicht überraschen, dass sich viele Mitglieder der Olympiamannschaft in dieser wichtigen Phase den Sportkompanien der Bundeswehr oder der Bundespolizei angeschlossen haben, weil sie dort nur einen „Quasi-Beruf“ auszuüben haben, sich aber ansonsten voll und ganz auf ihren Hochleistungssport konzentrieren können.
Der Hochleistungssport von heute zeichnet sich durch eine besondere Totalität aus. Der Mensch ist dabei total gefordert, will er den höchsten Erfolg erreichen. Während der Schulzeit sollte er sich möglichst in einer Eliteschule des Sports befinden, wo er den Sport zum zentralen Lebensinhalt machen kann. Seine Freizeit sollte möglichst auf den Sport ausgerichtet sein, sein Freundes- und Bekanntenkreis ist zwangsläufig zu begrenzen. Sein Lebensplan ist in das System des Sports zu integrieren, alles andere hat sich dem unterzuordnen. Diese Totalität hat nicht selten zur Folge, dass die Athletinnen und Athleten in Bezug auf ihre schulische Ausbildung vor der Frage stehen „Schulische Ausbildung auf hohem Niveau ja – Leistungssport nein, oder umgekehrt“. Dieselbe Frage stellt sich ebenso an der Universität und in der beruflichen Ausbildung. Die Chance, dass beide Sphären verträglich miteinander zu verbinden sind, wird dabei Jahr für Jahr immer geringer. Der Totalisierungsprozess beschleunigt sich. Immer mehr Athleten gehen das volle Risiko ein und setzen auf eine ausschließliche Hochleistungssportkarriere. Gleichzeitig beenden aber sehr viel mehr Athleten ihre Karriere als Leistungssportler, weil sie nicht mehr bereit sind, dieses außergewöhnliche Risiko einzugehen. Die Bemühungen von Sport und Gesellschaft, den Athleten mittels Hilfsmaßnahmen entgegenzukommen, um die Doppelkarriere Schule/Ausbildung/Beruf und Hochleistungssport zu sichern, müssen dabei als nahezu hilflos bezeichnet werden.
Ein Versicherungskonzern stellt einem Fachverband Ausbildungsplätze zur Verfügung und muss dabei sehr schnell erkennen, dass es bei den Athletinnen und Athleten nur ganz wenige gibt, die für sich darin eine Chance sehen. So begrüßenswert die vielen Initiativen sind, die von mittelständischen Unternehmern, von Konzernen, aber auch von Behörden und sonstigen Institutionen unserer Gesellschaft in dieser Hinsicht unternommen werden, so offensichtlich ist jedoch auch, dass mit diesen Maßnahmen den Athletinnen und Athleten nur bedingt, oft auch gar nicht mehr geholfen werden kann. Eine nüchterne Analyse macht vielmehr klar, dass Hochleistungssport in den olympischen Sportarten und berufliche Ausbildung und Beruf nur noch in ganz wenigen Fällen miteinander zu vereinbaren sind.
Die dynamische Entwicklung des Hochleistungssports hat in den vergangenen Jahrzehnten Trainingsprozesse und Wettkampfstrukturen hervorgebracht, die die Athletinnen und Athleten in die Rolle eines Arbeitnehmers auf Zeit gezwungen haben, ohne dass sie über die ausreichenden arbeitsrechtlichen Absicherungen verfügen. Diese Entwicklung hat viele gefährliche Folgen hervorgebracht. Die Risiken der Athletinnen und Athleten haben sich auf eine verantwortungslose Weise potenziert. Schon heute kann ein erheblicher Bildungsverlust auf Seiten der Sportlerinnen und Sportler erkannt werden, die sich einseitig ganz auf den Spitzensport ausgerichtet haben. Ihre Möglichkeiten für eine berufliche Karriere nach der Arbeit auf Zeit werden durch diesen Prozess verschlossen.
Besonders bedenklich ist dabei vor allem, dass nicht erkennbar ist, dass sich die Richtung des Totalisierungsprozesses verändern könnte. Die Leistungsanforderungen in den einzelnen Sportarten erhöhen sich nach wie vor und ein Ende der sportlichen Höchstleistungen ist nicht in Sicht. Die Athletinnen und Athleten befinden sich in einer ausweglosen Falle. Ein Entrinnen aus dieser Falle wird nur dann möglich sein, wenn sich das System des Hochleistungssports grundlegend ändert. Eine weitere Anpassung des Bildungssystems an die Bedingungen des Hochleistungssports ist dabei ebenso wenig verantwortlich wie eine Anpassung der Wirtschaft und der Universitäten. In dieser Frage sind diese Einrichtungen längst an ihre Grenzen vorgestoßen. Weitere Kompromisse können nicht eingegangen werden. Die Lösung haben die Verantwortlichen des Hochleistungssports zu erbringen und die Lösung wird darin zu suchen sein, dass die Regeln des Sports zu überdenken sind, dass neue Regeln zwingend erforderlich werden und dass vor allem auch die Wettkampfstrukturen an Voraussetzungen gebunden sind, die unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten von allen Beteiligten verantwortet werden können.
letzte Überarbeitung: 09.11.2018
Erstveröffentlichung: Digel, H. (2014). Gefährdeter Sport. Schorndorf: Hofmann.