Wettkampfsport – Vom Gegenbild und Abbild

Ein besonders wichtiges kennzeichnendes Merkmal des modernen Sports ist der Wetteifer, der durch eine besondere Konzeption von schriftlich niedergelegten Regeln ermöglicht wird. Nicht weniger wichtig ist die Nutzlosigkeit dessen, was das sportliche Handeln auszeichnet. Man überspringt eine Latte, obgleich man sie auf bequeme Weise unterlaufen könnte, man läuft 400 Meter auf einer Bahn und kommt zum Ausgangspunkt zurück, an dem man losgelaufen ist, man wirft einen Speer, ohne ein Tier zu erlegen. Dies alles findet auf besonderen Sportanlagen statt und Menschen, die in je verschiedenen Gesellschaften zuhause sind, begeben sich in die Räume des Sports, um sich durch eine besondere Gleichheit auszuzeichnen. Man entkleidet sich von der Alltagskleidung und elf Spieler tragen dasselbe Trikot. Bei aller Unterschiedlichkeit der Sporttreibenden sucht man möglichst gleiche Ausgangsbedingungen, um  faire Wettkämpfe zu gewährleisten. Auf diese Weise war und ist der moderne Sport eine Sonderwelt in modernen Gesellschaften. Nur das war und ist erlaubt und zugelassen, was man über Konventionen festgelegt hatte. Vieles von dem stand und steht dabei im Widerspruch zu dem, was außerhalb des Sports in der Gesellschaft der Fall ist.

Doch genau darin lag und liegt die besondere Qualität des Sports. Er war und ist eine Gegenwelt und gegenüber der Umwelt hatte er sich ein eigenes Etwas geschaffen. Von einer eigenständigen Sportmoral war und ist die Rede und auf diese Weise konnte der moderne Sport eine pädagogische Qualität erreichen, die ihn zu einem Pflichtfach des öffentlichen Schullebens werden ließ.

Auch in seiner Organisiertheit stellte er eine Gegenwelt dar. Erinnern wir uns an die Turngesellschaften des 19.  Jahrhunderts, an die ersten englischen Clubs und die ersten europäischen Vereine, so waren sie als Vereine seit ihren ersten Anfängen am Ideal der Gemeinnützigkeit orientiert. Die Vereine waren dabei nicht Organisationen zur Erwirtschaftung finanzieller Gewinne. Eine kulturelle Idee hat vielmehr die Mitglieder der Vereine zusammengeführt zu freiwilligen Vereinigungen. Ehrenamtliche Mitarbeit stand dabei im Mittelpunkt, das im Verein gemeinsam vereinbarte ideelle Ziel war Grundlage und Triebfeder dieser Vereine. Nicht zuletzt diese Merkmale haben den modernen Sport zu einem besonderen Kulturgut gemacht, das in der ganzen Welt Nachahmung finden sollte, was die Alltagskultur nahezu aller Gesellschaften prägte und in dem außergewöhnliche kulturelle sportliche Leistungen zu beobachten waren.

Aus einer historischen Perspektive betrachtet konnte sich dieses Kulturgut relativ lange erhalten, doch waren bereits früh auch Gefahren zu erkennen, die dieses Kulturgut in Frage stellten. Doch die Idee der Gegenwelt war stark genug, sich diesen Gefahren zu stellen und die Ideale dieses Kulturguts lebendig zu erhalten.

Diese Situation veränderte sich auf ganz entscheidende Weise nach dem zweiten Weltkrieg in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Im Zuge einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, im Zuge der Modernisierung der Gesellschaften wurde auch der Sport einem Modernisierungsprozess unterworfen, der in vieler Hinsicht einem Transformationsprozess gleichkommt. Der Sport wird dabei in seinen Erscheinungsformen aus einer Gegenwelt transformiert in eine Teilwelt unserer Gesellschaft, die nicht mehr Gegenbild, sondern Abbild unserer Gesellschaft ist. Der Transformationsprozess ist dabei im Wesentlichen gekennzeichnet durch einen Prozess der Ökonomisierung. Die Gegenwelt Sport wird zu einer Teilwelt des Wirtschaftssystems moderner Gesellschaften. Aus organisatorischer Sicht lässt sich dies vor allem in den Vereinen erkennen, die die Basis des gemeinsamen Sportsystems darstellen. Immer mehr Vereine befinden sich dabei in einem Transformationsprozess hin zum Wirtschaftsunternehmen. Von Vereinen wird erwartet, dass sie ihre Strukturen der Wirtschaft anpassen, Managementprozesse sind gefragt, Manager haben Vereine zu führen, aus ehrenamtlicher Arbeit wird hauptamtliche Arbeit, Professionalisierung wird gefordert, Wachstum ist angesagt, obgleich es vor dem Hintergrund der angestammten Logik einer freiwilligen Vereinigung hierfür keine Notwendigkeit gibt. Ein Transformationsprozess von großer Tragweite kann auch unter den Athleten beobachtet werden. Immer mehr kommt es zu einer Totalisierung der Höchstleistungen. Man muss sich ganz der Sache widmen, andere Tätigkeiten neben dem Hochleistungssport verbieten sich. Doppelkarrieren haben allenfalls nur noch bei Randsportarten ihre Möglichkeiten, ansonsten sind die sportlichen Höchstleistungen in den einzelnen Sportarten nur noch durch eine volle Professionalität zu erreichen. Oft sind 60 und mehr Stunden Training gefordert, sieben Tage die Woche ist der Athlet fokussiert auf seine sportliche Höchstleistung. Eine gute Ausbildung in der Schule ist nur noch bedingt möglich, eine berufliche Karriere neben einer sportlichen Karriere verbietet sich. Betrachten wir die Zusammensetzung von Olympiamannschaften, so müssen wir erkennen, dass jene Athleten, die neben ihrer Rolle als Hochleistungssportler noch andere Rollen mit vergleichbarer Intensität erfüllen, die Ausnahme der Regel darstellen. Fast sämtliche Athleten einer Olympiamannschaft sind heute Angehörige der Bundeswehr oder des Bundesgrenzschutzes oder der Polizei, viele sind von ihrer Arbeit völlig freigestellt. Nur noch eine kleine Minderheit meistert die sogenannte Doppelkarriere. Zu diesem Totalisierungsprozess gehört auch die kontinuierliche Steigerung der Risiken, die die  Ausübung des Hochleistungssports mit sich bringt. Diese Risiken hat der Athlet nahezu alleine zu tragen. Von einer sozialen Absicherung sportlicher Karrieren sind die modernen Hochleistungssportsysteme weiter entfernt denn je.

Deshalb kann es nicht überraschen, dass der Transformationsprozess vom Gegenbild zum Abbild auch  in moralischer Hinsicht zu beobachten ist. Angesichts der ökonomischen Bedeutungssteigerung des Hochleistungssports kommt es zu einem moralischen Verfall, Betrug wird immer wahrscheinlicher, Athleten befinden sich immer häufiger in der Falle des Hochleistungssports. Mitmachen bedeutet bereit sein zum Betrug, wer dazu nicht bereit ist, ist zur Zweitklassigkeit verurteilt oder hat seine Karriere zu beenden. Betrug zeigt dabei alle denkbaren Varianten. Er reicht von der Ergebnismanipulation zur Leistungsmanipulation des einzelnen Athleten bis hin zum Betrug bei Wahlhandlungen zu den Führungsgremien der einzelnen Sportarten. Gewalt wird zum nahezu selbstverständlichen Merkmal des modernen Sports. Sie wird von Athleten ebenso ausgeübt wie von den Zuschauern. Sie scheint in der Natur der Sache zu liegen, zumindest wird sie immer mehr als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, gegen die wirksame Maßnahmen nicht wahrscheinlich sind. Die sportliche Höchstleistung wird dabei mit enormer gesellschaftlicher Bedeutung ausgeladen. Sportliche Höchstleistungen erzeugen höchste Emotionen, haben einen außergewöhnlich hohen Unterhaltungswert und ermöglichen für alle Beteiligten außergewöhnlich hohe Gewinne. Der Hochleistungssport ist dabei bestens anschlussfähig für die Massenmedien, für die Wirtschaft und die Politik. Immer mehr Athleten sind dabei bereit, alles zu investieren, was den sportlichen Erfolg sichern könnte. Das Ideal der Unversehrtheit des eigenen Körpers wird dabei über Bord geworfen, die eigene Gesundheit wird im vollen Bewusstsein der Gefahren, die der Hochleistungssport in sich birgt, in Frage gestellt. Schmerzen werden wider der Natur des eigenen Körpers gedämmt, Medikamente werden zur Leistungssteigerung genutzt, wohlwissend, dass sie eine Gefährdung der eigenen Gesundheit bedeuten können, die körperliche Unversehrtheit des Gegners wird in Frage gestellt, wenn damit der eigene  ökonomische Nutzen gesichert werden kann. Längst ist bei diesem Transformationsprozess des Sports zu erkennen, dass er sich genau jene Merkmale zueigen macht, die auch in der übrigen Gesellschaft zu finden sind. Wie in der Wirtschaft und wie in der Politik ist nun Korruption im Sport anzutreffen, wie in Wirtschaft und Politik finden Machtauseinandersetzungen in den Organisationen des Sports statt und das, was viele Funktionäre des Sports als Verteidigungsritual verwenden, wenn sie gefordert sind, wird zur gesellschaftlichen Realität: Der Sport ist nicht besser als die Gesellschaft und er kann gewiss nicht Probleme der Gesellschaft lösen, wenn er die gleichen Verfehlungen aufweist, wie sie auch in der Gesellschaft anzutreffen sind. Der Sport ist nicht mehr Gegenwelt, er ist Abbild der Gesellschaft. Seinen Siegeszug hat er seinem eigenen Werteverfall zu verdanken. Betrug, Korruption, Manipulation und all die sonstigen zu beklagenden Verfehlungen sind Teile eines kontinuierlichen Skandals, der die Unterhaltungsfunktion des Sports eher zu steigern weiß, als dass er sie in Frage stellen könnte. Moralische Appelle müssen dabei ebenso vergeblich sein, wie sie in der Gesellschaft vergeblich sind und angesichts der vielen Verfehlungen in der Gesellschaft hat auch der Sport keinen besonderen Legitimationszwang. Es gelingt ihm besser denn je, sich als wichtigen Teil der Gesellschaft auszuweiten. Angesichts dieses aufgezeigten Transformationsprozesses ist es höchst unwahrscheinlich, dass aus dem System des Sports heraus eine Rückbesinnung auf den Gegenweltcharakter des Sports erfolgen könnte. Der Sport in seinem Verhältnis zur Wirtschaft, zur Politik und zu den Massenmedien befindet sich  in einer Win-Win Situation, deren Fortschreibung von allen gewünscht ist. Fatal ist dabei lediglich, dass dies auch dann der Fall ist, wenn dabei die Moral auf der Strecke bleibt.

Verfasst: 08.11.2012

Erstveröffentlichung: Vom Gegenbild zum Abbild oder In der Falle des Hochleistungssports. In: Olympisches Feuer, 1/2013. 20-21. Print.