Mitgliederversammlungen von Verbänden erfahren in der Regel keine öffentliche Aufmerksamkeit, sind sie doch nur selten spektakulär. Dies gilt auch für die Mitgliederversammlung in deutschen Sportorganisationen. Die Wahlen für die Vorstände werden meist vor dem eigentlichen Wahlakt entschieden. Spätestens beim „gemeinsamen Bier“ in der letzten Nacht vor dem Wahltag wird der Stimmenhandel der Verbandspräsidenten abgeschlossen, so dass am Wahltag selbst ein Ritual ablaufen kann, das in vieler Hinsicht den Wahlritualen totalitärer Systeme gleicht. Auch die Beschlüsse über Anträge sind in der Regel bestens vorbereitet, und so sind meist keine Debatten notwendig, allenfalls kommt es zu Diskussionsbeiträgen, die jedoch eher der Selbstdarstellung der Redner dienen. Eine qualitative Bereicherung oder gar eine Veränderung der Anträge ist bei solchen Anlässen eher die Ausnahme als die Regel. Wenn nun in wenigen Monaten die Mitgliederversammlung des DOSB nach dem Rücktritt des bisherigen Präsidenten einen neuen Präsidenten¹ zu wählen hat, scheint manches anders zu sein. Die Versammlung wird vermutlich öffentliche Aufmerksamkeit hervorrufen. Es könnte sein, dass sogar über mehrere Kandidaten abzustimmen ist, die sich für das Präsidentenamt bewerben. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es bereits zwei Kandidaten zu geben. Das derzeit noch im Amt befindliche DOSB-Präsidium hat sich für eine Findungskommission ausgesprochen, die mithilfe einer unabhängigen Agentur geeignete Kandidaten, bzw. den geeigneten Kandidaten oder die geeignete Kandidatin auswählen soll, der bzw. die sich dann der Mitgliederversammlung zur Wahl stellt bzw. stellen werden. Unter sportpolitischen und insbesondere unter demokratischen Gesichtspunkten ist der eingeschlagene Weg durchaus als erfreulich zu bezeichnen, auch dann, wenn die Hintergründe der Kandidatur bzw. der Kandidaturen alles andere als besonders demokratisch zu bezeichnen sind. Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet im Sport, für den das Prinzip des Fair Play das wichtigste schützenswerte Gut darstellt, gegen dieses Prinzip häufiger verstoßen wird als dies in anderen gesellschaftlichen Institutionen der Fall ist. Intrigen, Beeinflussung von stimmberechtigten Mitgliedern, Machtkalküle – das scheint mittlerweile auch im Sport normal zu sein, wenn es um die Besetzung wichtiger Positionen geht. Dabei könnte der nunmehr eingeschlagene Weg und das damit angestrebte Auswahlverfahren durchaus eine besondere Chance sein.
Warum sollte es nicht möglich sein, dass man sich begründet für einen Kandidaten ausspricht? Warum sollten Kandidaten nicht ihre Programme offenlegen, damit man weiß, warum man sich für einen Kandidaten entscheidet? Warum soll sich ein Kandidat nicht gegenüber sich selbst und gegenüber seinen Wählern verpflichten, mit welchen Instrumenten er in der vor ihm stehenden Amtszeit im Interesse des Sports arbeiten und was er anstreben möchte? Doch bevor die Kandidatensuche durch eine Findungskommission beginnen kann, ist es zwingend notwendig, dass das noch amtierende DOSB Präsidium mit den gewählten Repräsentanten der Landessportbünde und der Spitzensportverbände die Voraussetzungen für das anzustrebende Suchverfahren definiert. Hierzu ist viererlei von Nöten:
- Erstens müsste eine gesellschaftspolitische Standortbestimmung des DOSB erfolgen. Schon über ein Jahrzehnt ist es zu einem kaum noch übersehbaren Bedeutungsverlust des DOSB in der deutschen Gesellschaft gekommen. Die Beziehungen des Sports als eines wichtigen gesellschaftlichen Teilsystems zu anderen Systemen unserer Gesellschaft wie zum Beispiel zur Politik, zur Wirtschaft, zu den Gewerkschaften, zum Erziehungssystem, zur Wissenschaft, zu den Künsten, zu den Massenmedien oder zu den Kirchen stehen heute immer mehr auf dem Prüfstand. Die Ursachen für den Bedeutungsverlust sind vielfältig und bedürfen einer genaueren Analyse, auf deren Grundlage die notwendigen Steuerungsleistungen und -entscheidungen einzuleiten sind, um dem Sportsystem im Gefüge der übrigen gesellschaftlichen Systeme unsere Gesellschaft den ihm zustehenden anerkannten Platz zu sichern.
- Zweitens müsste sehr viel genauer untersucht werden, warum der derzeit noch amtierende DOSB-Präsident mit seinem Vorstand gescheitert ist? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es auch einer Überprüfung der bestehenden hauptamtlichen Ressorts und Arbeitsstrukturen im DOSB. Eine „Status Quo“- Erhebung sämtlicher Arbeitsbereiche des DOSB scheint dringend notwendig zu sein.
- Drittens müsste ein Aufgaben-und Arbeitsprofil und eine Qualifikations-und Kompetenzbeschreibung für die Position des zukünftigen DOSB Präsidenten bzw. der zukünftigen DOSB Präsidentin festgelegt und innerhalb der Organisation des Sports auch veröffentlicht werden.
- Schließlich müsste viertens festgelegt werden, ob das zukünftige Amt eines DOSB-Präsidenten bzw. einer DOSB Präsidentin ehrenamtlich ausgeübt werden kann oder ob es sich um eine hauptamtliche Tätigkeit, mit einem zeitlich begrenzten Arbeitsvertrag handeln soll. Ist Letzteres der Fall, was angesichts komplexer Aufgabenstellungen aus guten Gründen zwingend notwendig erscheint, so ist vorab ein Jahresgehalt festzulegen und es sind mögliche Bonuszahlungen an transparente Leistungskriterien zu binden.
Die Sportentwicklung Deutschlands weist schon seit längerer Zeit mehrere Probleme auf, die dringend zu lösen sind. Die Probleme der Olympischen Bewegung in Deutschland liegen längst auf dem Tisch. Nicht weniger klar stellen sich die Herausforderungen im Breitensport. Wie kann das am 20. Mai 2006 in den damaligen DSB „integrierte“ Nationale Olympische Komitee für Deutschland innerhalb des Organisationsgefüges des DOSB sichtbar gemacht werden? Welche Position nimmt das Nationale Olympische Komitee für Deutschland im DOSB ein, wenn es um die zukunftsweisende Frage geht, wie groß olympische Spiele sein sollen und welches sportliche Programm zukünftige Olympische Spiele auszeichnen soll? Welche Rolle spielt der DOSB beim Kampf gegen den Doping – Betrug? Mit welchen Instrumenten wird die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Olympischen Bewegung angestrebt? Wie lässt sich die finanzielle Situation des DOSB so verbessern, dass es sich finanziell unabhängiger vom IOC und der staatlichen Unterstützung darstellt als dies in diesen Tagen der Fall ist? Wie kann der Hochleistungssport möglichst effizient und zugleich kostengünstig organisiert werden? Welche Institutionen sind für den deutschen Sport zwingend erforderlich, auf welche könnte man in der Zukunft verzichten? Welche Rolle soll der DOSB unter kulturellen Gesichtspunkten bei der Steuerung des Hochleistungssports in unserer Gesellschaft einnehmen. Wie müssten die Ideen der Olympischen Bewegung in den deutschen Bildungsinstitutionen, insbesondere im öffentlichen Schulwesen, diskutiert und weiterentwickelt werden? Welche neuen Ideen möchte der DOSB in die weitere Entwicklung des Schulwettbewerbs „Jugend trainiert für Olympia“ einbringen? Welche Kooperation bedarf es zwischen der Deutschen Olympischen Gesellschaft und dem DOSB? Wie lassen sich Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Literatur als kritische Begleiter der Olympischen Bewegung gewinnen? Wie lässt sich die massenmediale Kommunikation über den modernen Olympismus in der deutschen Gesellschaft verbessern, welche neuen Medieninstrumente sind hier zu erforderlich? Wie kann die Position des deutschen Sports in den internationalen Sportorganisationen gestärkt werden? Wie kann die Entwicklungszusammenarbeit auf dem Gebiet des Sports aktualisiert, intensiviert und finanziell abgesichert werden?
Welche Rolle soll zukünftig der DOSB angesichts der primären Verantwortung der Landessportbünde bei der Behandlung von Fragen des Breiten- und Freizeitsports spielen? Welche Erwartungen hat der DOSBB mit seinem Mitgliedsverbänden gegenüber der zukünftigen Bundesregierung? Welches Ressort soll nach Meinung des DOSB in der Bundesregierung zukünftig für die Fragen des Hochleistungssports in Deutschland verantwortlich sein? Welche Zusammenarbeit zwischen dem zukünftigen Sportausschuss des Deutschen Bundestages und des DOSB wäre wünschenswert? Welche organisatorischen Veränderungen wünscht sich der DOSB in Bezug auf die Zusammenarbeit mit den staatlichen Gremien? Ist ein Sportministerium erwünscht oder aus welchen Gründen soll darauf eher verzichtet werden? Wann endlich kann mit einem „Sport – Atlas für Deutschland“ gerechnet werden, in dem verlässlich die Sportangebote und Sportstätten ausgewiesen sind? Wer soll für dieses Projekt Verantwortung tragen? Wie und wann soll die Renovierung und Modernisierung der bestehenden Sportstätten durchgeführt werden? Wie kann zukünftig eine anspruchsvolle Sportberichterstattung über die Vielfalt des Sports in den Massenmedien insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen gesichert werden? Wie kann die dringend erforderliche Digitalisierung der Basisstrukturen des Sportsystems möglichst schnell etabliert und mittelfristig gesichert werden? Wie und wer übernimmt die Verantwortung, dass die Mitgliedsorganisationen des DOSB den Herausforderungen des bereits erkennbaren und weiterhin auch absehbaren Klimawandels gewachsen sind? Welche neuen Versicherungssysteme benötigen die Mitgliedsorganisationen des DOSB und der DOSB selbst?
So und ähnlich könnten die Fragen lauten, die an die Kandidaten zu richten sind. Die Diskussionen über diese Fragen könnten eine durchaus interessante Mitgliederversammlung möglich machen. Die Delegierten, aber auch die Kandidaten selbst wären gut beraten, wenn sie die Möglichkeit zu einer echten Wahl als eine Chance des Sports verstehen würden. Wahlkämpfe können durchaus auch in den Organisationen des Sports eine wünschenswerte und sinnvolle Sache sein. Werden Sie so fair ausgetragen, wie dies bei sportlichen Wettkämpfen zu meist der Fall ist, so kann dies nur im Interesse der kulturellen, politischen und pädagogischen Bedeutung des Sports sein. Wo immer aber gekämpft wird, hat man sich aber auch mit Kritik auseinander zu setzen. Kritik sollte nicht nur in prinzipieller Hinsicht, sondern aus guten sachlichen Gründen zwingend erwünscht sein. Die Kritik sollte jedoch dort vorgetragen werden, wo sie hingehört: in das Parlament des Sports selbst. Es muss auch der Mut bestehen die Kritik dann namentlich zu benennen, wenn bestimmte Persönlichkeiten für die Probleme verantwortlich sind. Pauschale Verdächtigungen und nichtssagende generalisierende Vorwürfe sind wenig hilfreich. Wenn gar die Verantwortlichen in den Gremien des Sports den Massenmedien die Verantwortung zuschieben, nur weil man selbst zur couragierten Kritik nicht bereit ist, dann schadet sich der Sport selbst. Nicht nur für den Vorbereitungszeitraum zu der bevorstehenden wichtigen Wahl ist deshalb den Sportfunktionären eine besondere Vorsicht im Umgang mit Fernsehen, Radio, Presse und den sozialen Medien anzuraten. Die in Sportkreisen durchaus beliebte Selbstprofilierung mittels der Massenmedien kann ein demokratisches Wahlverfahren erheblich beeinträchtigen und stören. In den nächsten Wochen und Monaten steht die gesellschaftliche Bedeutung des Sports in Deutschland auf dem Prüfstand. Das Suchverfahren und die Antwort auf die Frage, wie ein neuer Präsident des DOSB gewählt wird, kann in einer Zeit, bei der es gleichzeitig zu einem Regierungswechsel in Berlin kommen wird, durchaus als eine große Chance für den DOSB und dessen Mitgliedsverbände gewertet werden. Soll diese Chance genutzt werden, so ist Transparenz, Kreativität, Verantwortungsbereitschaft und Kritikfähigkeit vonnöten. Die Persönlichkeiten, die derzeit den DOSB und die Mitgliedsverbände des Deutschen Olympischen Sport Bundes führen, sollten sich in den nächsten Wochen und Monaten an diesen Qualitätskriterien messen lassen.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 30.August 2021