Diesen Essay habe ich in Sorge um die Werte unserer Gesellschaft und in Sorge um die Ausrichtung der derzeitigen staatlichen Politik in der Bundesrepublik Deutschland geschrieben. Aber auch meine Sorge um die Zukunft der Olympischen Spiele hat mich zu diesem Essay veranlasst. Da es in diesem Essay auch um militärpolitische Fragen geht, erlaube ich mir in diesem Zusammenhang auf meine erworbene Kompetenz als ehemaliger Offizier der ersten Gebirgsdivision der Bundeswehr hinzuweisen. Was meine Kompetenz in Bezug auf die Bedeutung der Werte und des Wertewandels in unserer Gesellschaft anbelangt, möchte ich auf meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesen Fragen und auf mehrere Beiträge in „sport-nachgedacht.de“ verweisen.
Schon seit längerer Zeit bin ich der Überzeugung, dass die wichtigsten Menschenrechte nicht relativierbar sind und alle Menschen auf unserer Erde einen Anspruch haben, dass diese Menschenrechte – insbesondere das Recht auf Gleichbehandlung – geachtet und beachtet werden muß.
Diese Auffassung spiegelt sich auch in meiner protestantischen Erziehung wider, wie ich sie durch meine Eltern erfahren habe. Demgemäß sollte das Gebot der Nächstenliebe für alle Menschen gelten und die christlichen zehn Gebote sollten ein Wertesystem darstellen, das nicht nur für Christen seine Bedeutung hat.
Die französische Aufklärung hat uns die Bedeutung universeller Menschenrechte vor Augen geführt, und sie war auch Grundlage für die ersten Menschenrechtserklärungen in den Vereinigten Staaten, wenngleich Präsident Jefferson diese wohl gefördert und unterstützt hat, aber gleichzeitig zum Ausdruck brachte, dass die Menschenrechte für schwarze amerikanische Mitbürger1 nicht anzuwenden seien. Derartige Verletzungen der Menschenrechtskonvention verfolgen uns bis in die heutigen Tage und das Gebot der Gleichbehandlung aller Menschen wird leider viel zu oft missachtet. Gleiches gilt für das Gebot der Nächstenliebe und für die Einhaltung der zehn Gebote.
In diesen Tagen können wir beobachten, dass die Beachtung der Menschenrechte vor allem für die Bürgerinnen und Bürger des angegriffenen Staates der Ukraine in Anspruch genommen wird, den russischen Bürgerinnen und Bürgern jedoch vergleichbare Menschenrechte nicht zugebilligt werden.
Dieser Zusammenhang lässt sich auch in Bezug auf die Frage der Teilnahme neutraler russischer Athleten¹ an den Olympischen Sommerspielen in Paris 2024 beobachten. Gegenüber den ukrainischen Olympischen Athletinnen und Athleten werden durch den russischen Angriffskrieg Menschenrechtsverletzungen beklagt und ihnen wird deshalb jegliche Hilfe zugesichert, um trotz dieser Verletzungen sich für die bevorstehenden Olympischen Spiele vorbereiten zu können. Dass auch russische Athleten unter Menschenrechtsverletzungen leiden und sie in ihrer Vorbereitung auf die Spiele in einem weitreichenden Umfang behindert sind, wird in dieser Diskussion nicht zu Kenntnis genommen. In einem Gutachten, das vom DOSB in Auftrag gegeben wurde und von diesem zur Begründung seiner eigenen Position eingesetzt wird, werden die Benachteiligungen, Einschränkungen und Lasten ukrainischer Athleten in den Blick der juristischen Aufmerksamkeit gerückt. Es wird dabei jedoch nicht gesehen, dass es auch unschuldige russische Athleten geben kann, die den Krieg weder verursacht haben noch dafür verantwortlich gemacht werden können, die sogar Opfer dieses Krieges sein können. Sie sind seit mehr als einem Jahr ebenfalls gravierend benachteiligt, wenn es um deren aktuelle sportliche Leistungsentwicklung und um deren notwendigerweise erforderliche systematische Vorbereitung auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris 2024 geht. Hinzukommt, dass die Teilnahme von neutralen Athleten, die keine Schuld am Krieg haben, in keiner Weise die Rechte der ukrainischen Sportler einschränkt.
Aus christlicher Perspektive kann man sich zu Recht darüber freuen, dass den ukrainischen Opfern des barbarischen und terroristischen Angriffskrieges Russlands unsere Anteilnahme gilt, dass die vielen unschuldigen Toten dieses Krieges bedauert werden und viele Nationen bereit sind, den Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.
Die todbringenden Angriffe der russischen Armee werden uns nahezu täglich im Fernsehen vor Augen geführt. Das Leid der ukrainischen Bevölkerung wird in Wort und Bild in umfassender Weise in sämtlichen deutschen Medien dargestellt: Zerstörte Häuser, bombardierte landwirtschaftliche Betriebe und auf der Flucht befindliche Menschen, Interviews mit zu Kriegshelden stilisierten ukrainischen Soldaten und Militärführern und das nahezu tägliche Statement des ukrainischen Präsidenten Selenskyj dominieren die politische Berichterstattung und insbesondere die Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Die Statistik der ukrainischen Todesopfer dieses Krieges wird täglich erneuert. Ebenfalls täglich wird man mit den Stellungnahmen der ukrainischen Regierung und des ukrainischen Präsidenten konfrontiert, in denen noch mehr Waffen, noch mehr Munition, noch mehr Panzer und noch mehr Kampfflugzeuge gefordert werden.
Der Westen kommt diesen Forderungen teilweise sehr unmittelbar, teilweise aber auch eher zögerlich, doch in jüngster Zeit immer häufiger auf nahezu sämtlichen militärischen Sektoren nach und stärkt damit die Abwehrbereitschaft der ukrainischen Armee.
Aus einer militärischen ebenso wie aus einer politischen, humanistischen und christlichen Perspektive muss meines Erachtens jedoch gefragt werden, was diese Lieferung neuer Waffensysteme und neuer Munition zum Ziel hat und welche Folgen sich dabei absehen lassen.
Eines kann dabei als sicher gelten, jede neue Waffenlieferung bedeutet eine Verlängerung dieses fürchterlichen Krieges und bedeutet damit auch den Tod vieler unschuldiger Menschen. Die Erkenntnis von Alexander Kluge in seiner „Kriegsfibel“, die in diesem Jahr erschienen ist, dass jeder Krieg sich der Herrschaft derer entzieht, „die ihn anzetteln, ebenso wie den Wünschen derer die ihn bekämpfen“, sollte uns zumindest nachdenklich machen. Er sieht im Krieg eine „Verknäuelung“, die „nicht entwirrbar, für keine der beiden Seiten“ ist. „Wobei egal ist ob die eine Partei entwirren will und die andere nicht“. Die Menschen finden auf diese Verwirrung oft die falschen Antworten, so unter anderem in der „Utopie der Panzerung“, die politisch oder faktisch sein kann. Man sieht sich dabei ausreichend geschützt und ist es doch nicht auf Dauer.
Angesichts dieser Erkenntnis sind die aktuellen Zahlen zu den weltweiten Militärausgaben erschütternd. Der in diesen Tagen erschienene jährliche Bericht zu den Militärausgaben des International Peace Research Institute macht deutlich, dass nie zuvor derart viel Geld für Rüstung ausgegeben wurde (2,24 Billionen $) wie im Jahr 2022. Die Rüstungsausgaben in Europa sind um 13 % gestiegen. Mit 877 Milliarden $ beträgt der Anteil der USA an den weltweiten Militärausgaben 39 %. Die Ukraine hat ihre Ausgaben um 640 % auf 44 Milliarden erhöht. Einen ähnlichen Anstieg hat es in all den Jahren seit dieses Institut Daten erhebt noch in keinem anderen Land gegeben. Nach Ansicht von Dan Smith, dem Direktor dieses Instituts, ist „die Welt ein sehr viel dunklerer Ort geworden“ als jemals zuvor. „Zwischen 2010 und 2022 wurden doppelt so viele Menschen getötet wie in der Dekade zuvor. Die Zahl der Flüchtlinge hat sich ebenfalls verdoppelt, und es gibt fast doppelt so viele bewaffnete Konflikte, nämlich 58. Das tragische an der Gegenwart ist“, so Smith, „dass wir internationale Kooperation noch nie so bitter nötig hatten wie jetzt. Aber es wird ein internationaler Vertrag nach dem anderen aufgekündigt, zuletzt die bilaterale Waffenkontrolle zwischen USA und Russland“.
Doch so wie der militärische Einsatz der russischen Armee unschuldige ukrainische Opfer zur Folge hat, so hat der Einsatz der ukrainischen Armee mit ihren immer moderner werdenden und damit immer todbringenderen Waffensystemen, nicht weniger tödliche Folgen und lässt ebenfalls viele Tote zurück, die jedoch im Westen nicht betrauert werden. Eine Statistik über die unschuldig gestorbenen russischen Bürgerinnen und Bürger wird nicht geführt. Sollen wir etwa daraus schließen, dass unschuldige tote russische Bürgerinnen und Bürger – die gibt es auch in diesem Land – offensichtlich weniger wert sind als tote ukrainische Bürgerinnen und Bürger?
Weniger dramatisch aber aus politischer Sicht nicht weniger beachtenswert stellt sich uns in diesen Tagen auch das Verhältnis zwischen ukrainischen Athleten und russischen Athleten dar. Sämtliche ukrainische Athletinnen und Athleten erhalten in den westlichen Medien höchste Aufmerksamkeit. In ihrer Vorbereitung auf die Olympischen Spiele wird ukrainischen Einzelathleten und Mannschaften jede Hilfe unterbreitet und zugesagt. Die russischen Athleten werden hingegen als „homogene Masse“ betrachtet und Einzelschicksale werden als nicht berücksichtigenswert bei seite geschoben.
Wenn in diesen Tagen jemand die sofortige Beendigung dieses fürchterlichen Krieges fordert, wenn jemand sich der Maxime „Frieden schaffen ohne Waffen“ verpflichtet fühlt, jemand „Waffen zu Pflugscharen verwandeln“ möchte, wenn jemand eine diplomatische Lösung dieses Konflikts fordert, so wird ihm nicht nur von den Verantwortlichen in der Ukraine sondern auch von der großen Mehrheit der politischen journalistischen Kommentatoren, von der großen Mehrheit der westlichen Politiker und von angeblichen oder tatsächlichen Militärexperten Naivität und Inkompetenz vorgeworfen. Es wird behauptet, dass es zum jetzigen Zeitpunkt keine Möglichkeit für eine diplomatische Lösung des Konflikts gäbe und dass sowohl Russland als auch die Ukraine zum aktuellen Zeitpunkt an Friedensverhandlungen nicht interessiert seien. Nicht nur ukrainische Politiker, sondern auch die deutsche Außenministerin sprechen von einem „Sieg“, der bei diesem Krieg durch die Ukraine erreicht werden muss, ohne allerdings zu klären, unter welchen Bedingungen man von einem „Sieg“ sprechen kann. Völlig unklar ist auch wie die eine Kriegspartei im Vergleich zu anderen auf der Grundlage welcher Kompromisse ihre Bereitschaft erklären könnte, um in Friedensverhandlungen einzutreten.
Auffällig ist, dass von allen Experten, die diese Position einer notwendigen Verlängerung des Krieges vertreten, keiner davon den Zeitpunkt benennen kann, an dem es ihrer Meinung nach möglich sein könnte, in Friedensverhandlungen einzutreten. Die Frage, ob der Krieg, nachdem er bereits über ein Jahr andauert noch ein weiteres Jahr oder gar noch weitere Jahre fortgeführt werden soll, wird von diesen tatsächlichen oder angeblichen Militär- und Kriegsexperten nicht beantwortet. Man muss vielmehr den Eindruck gewinnen, dass kaum jemand an einer schnellen Beendigung des Krieges wirklich interessiert ist, dass mit einer Fortführung des Krieges vielfältige Interessen einhergehen, die von wirtschaftlichen Interessen über geopolitische und machtpolitische Interessen bis hin zu wahltaktischen Interessen reichen.
Dabei kommt es von Seiten der EU und des europäischen Westens zu einer Boykottmaßnahme nach der anderen gegenüber Russland und Belarus, die meist von der derzeitigen EU- Präsidentin lauthals verkündet werden, deren Durchsetzung jedoch nur ganz selten überprüft wird, und die ganz offensichtlich die geplanten Wirkungen nicht erreichen. Diese Annahmen legen zumindest die in den westlichen Medien veröffentlichen Daten zur Wirtschaftsentwicklung in Russland und zu den aktuellen Lebensverhältnissen in diesem Land nahe.
Gleichzeitig muss man jedoch erkennen, dass zumindest für die Bundesrepublik Deutschland die sog. „Zeitenwende“ und die nahezu vollständige Ausrichtung der EU-Politik und der deutschen Politik am Krieg in der Ukraine teilweise fatale Auswirkungen aufzuweisen hat. Es wird dabei einem einzigen Land der Welt nahezu die vollständige politische Aufmerksamkeit gewidmet, was zur Folge hat, dass die problematische Entwicklung in vielen anderen Regionen dieser Welt immer öfter aus dem Blick dieser Politikstrategie gerät. Die Fokussierung der westeuropäischen Politik auf die Ukraine bedeutet eine Vernachlässigung aller übrigen politischen Möglichkeiten und eine grundlegende Verschiebung der außenpolitischen Interessen Deutschlands und Europas. Die geopolitische Distanz zu China und zu großen Teilen Asiens vergrößert sich dabei ebenso auf eine gefährliche Weise wie die Distanz zu Afrika und Lateinamerika. Gleichzeitig hat die Fokussierung auf die Ukraine innenpolitisch zu erheblichen Verwerfungen geführt. Die ohnehin nur unzureichende Absicherung der Energieversorgung Deutschlands und vor allem dessen wichtige Industriestandorte haben sich dadurch verschärft. Die bewusst vorgenommen Eingriffe in einen globalen Welthandel haben die ohnehin bereits absehbaren inflationären Entwicklungen begünstigt und die in einem schwierigen Konsens hergestellten Entwicklungsziele im Bereich der Klimapolitik mussten teilweise zurückgenommen werden oder können nicht eingehalten werden. Die Abhängigkeit von den USA hat auf eine erschreckende Weise zugenommen.
Es verstärkt sich der Eindruck, dass sich unsere westliche Welt in einer auf Dauer angelegten Krise befindet, deren Ende nicht in Sicht ist. Drei Jahre Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die Inflation, die Renaissance der Atomkraft, der Klimawandel waren und sind die Angstquellen unserer Zeit. Nachrichten über Lösungen werden durch das „soziale Geschrei“ der Sozialen Medien allenfalls noch am Rande wahrgenommen. „Überall nur Abgrund, Krise, Krankheit, Hoffnungslosigkeit, Depression“…“Und jetzt öffnet auch noch KI die Kellertür in den endgültigen Abgrund“, so kennzeichnet Sebastian Hermann in der SZ vom 1. Mai 2023 unsere Situation.
Bei immer mehr Menschen hat diese Situation Resignation zur Folge und ihr Mitgefühl stößt immer häufiger an Grenzen. Immer mehr Menschen verweigern sich der negativen Nachrichtenflut in unseren Massenmedien, immer größere Teile des Publikums wenden sich von diesen ab und ziehen sich zurück in ihre Privatheit. „News Fatique“ wird von unserem Zeitgeist diese neue Krankheit genannt und sie wird von einer Studie des Leibniz- Instituts dokumentiert, der zufolge 2022 65 % der von diesem Institut befragten online- Nutzer zumindest gelegentlich vermieden hat, Nachrichten zu konsumieren. Immer mehr Menschen weigern sich, Informationen über den Zustand der Welt an sich heranzulassen. Die Ursache hierfür muss gewiss nicht nur bei der Politik, sondern sehr viel intensiver als es bislang der Fall war bei den Massenmedien selbst gesucht werden. Auch hierzu sind die Beobachtungen von Hermann in der SZ vom 1. Mai beachtenswert: „Nachrichten entkoppeln sich womöglich zunehmend vom tatsächlichen Zustand der Welt. Das mit dickem Strich gemalte Gemälde fällt düsterer aus als es die Realität vor der Leinwand ist. Zum Beispiel hat eine Analyse von 23 Millionen Überschriften aus amerikanischen Medien… gezeigt, dass sich zwischen 2000 und 2019 wachsende Negativität eingeschlichen hat. Mehr Wut, mehr Angst, mehr Abscheu und Traurigkeit. Der Anteil emotionaler neutraler Überschriften nahm im Untersuchungszeitraum hingegen ab“. Die Ursachen für diese Entwicklung sind überwiegend ökonomischer Natur. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Klickraten pro negativ gefärbtes Wort in einer durchschnittlich langen Überschrift steigen hingegen positiv gefärbte Sprache die Klickrate nach unten drückt. Die Psyche der Rezipienten reagiert ganz offensichtlich stärker auf negative Reize als auf positive, das Schlechte wirkt intensiver als das Gute. Schlechte Nachrichten provozieren größere Beachtung, wirken glaubwürdiger, seriöser und wichtiger als positive. „Weil Medienunternehmen weltweit um Aufmerksamkeit und ihr Überleben kämpfen, Politiker sowie Aktivisten von der Beachtung leben, passen Sie ihre Angebote ebenfalls an das an, was ihr Publikum offenbar fordert – bis die Dosis und die Darreichungsform irgendwann zu stark und zu grell geworden sind und die Menschen sich erschöpft abwenden“, so Sebastian Hermann in der SZ.
Eine ähnliche Reaktion ist in diesen Tagen auch in Bezug auf die ausschließliche Ausrichtung des politischen Handelns West-Europas am Krieg in der Ukraine zu beobachten. Die einseitige Berichterstattung, die nicht selten nur der ukrainischen Kriegspropaganda folgt, hat längst eine noch erträgliche Übersättigungsrate überschritten und es kann deshalb auch kaum noch verwundern, dass die Bereitschaft zur Hilfe und Unterstützung der ukrainischen Bürger immer mehr abgenommen hat.
Das nur selten vorhandene Mitgefühl und die viel zu wenig erkennbare Brüderlichkeit gegenüber russischen Bürgerinnen und Bürgern scheint nun zunehmend auch auf alle übrigen Bürgerinnen und Bürger außerhalb Deutschlands zuzutreffen.
Dabei wäre ein Nachdenken über Brüderlichkeit und Gerechtigkeit und die Förderung einer Fähigkeit zu einer wohlwollenden und anteilnehmenden Haltung gegenüber den „Fremden“ und gegenüber den „Anderen“ ein grundlegender Beitrag für eine Einsicht in die notwendigen demokratischen Pflichten, deren Akzeptanz und Befolgung für das Überleben unseres Gemeinwesens immer dringender geworden sind. Gustav Seibt warnt uns zu Recht, dass „Hybris, Übermut, Arroganz, die Gewissheit im historischen Recht zu sein“ schon immer „Keime des Verderbens“ enthielt (SZ 23.4.2023).
Besonders auffällig ist dabei das Versagen all jener Institutionen, von denen man eigentlich am ehesten eine Friedensinitiative erwarten könnte und dass es aufgrund deren Forderungen zu verstärkten diplomatischen Bemühungen kommen kann, die die dringend notwendigen Gespräche zwischen den Kriegsparteien wieder möglich machen. Die Ohnmacht der UN in Bezug auf den Ukraine- Konflikt ist dabei ganz offensichtlich und ihre Bemühungen kommen über bloße Appelle nicht hinaus.
Es muss aber auch von einem Versagen der kirchlichen Organisationen gesprochen werden, allen voran des Vatikans und des Weltkirchenrats. Wenn überhaupt, so erschöpfen sich deren Initiativen in schönen Worten auf der Kanzel. Deutliche und klare Forderungen gegenüber der Politik sind hingegen nicht zu erkennen. Ebenso wenig gibt es erfolgversprechende Bemühungen um einen zielführenden Dialog zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und den übrigen Weltkirchen, der auch einen Einfluss auf die Entscheidung der russischen politischen Führung haben könnte.
Besonders auffallend ist auch das Versagen der organisierten Friedensbewegung so wie sie es noch im vergangenen Jahrhundert gegeben hat. Deren Organisationsgrad ist wohl mittlerweile äußerst gering geworden und ihre Kommunikationsmedien haben so gut wie keine Reichweite. Lediglich die Initiative von Alice Schwarzer gemeinsam mit Sahra Wagenknecht hat eine umfassende nationale Resonanz erreichen können. Doch in Bezug auf erfolgversprechende Waffenstillstandsverhandlungen ist man angesichts der Ignoranz der Repräsentanten des dominanten politischen Systems auch damit kaum einen Schritt weitergekommen.
Betrachtet man nüchtern diesen Befund so ist es schon mehr als bedenklich, wenn man auf der Suche nach einem geeigneten Mediator in der derzeit nahezu ausweglosen Situation sich auf den Modernen Olympismus besinnen muss und wenn die Durchführung der Olympischen Spiele 2024 in Paris als eine der wenigen friedenspolitischen Chancen beurteilt werden kann, über die unsere Welt in diesen Tagen verfügt. Dass hierbei die Teilnahme neutraler Athleten mit russischem Pass – auf der Grundlage einer angemessenen Überprüfung ihrer Neutralität – gehören muss, ist dafür eine unverzichtbare notwendige Bedingung. Die deutschen Olympischen Sportfachverbände – allen voran auch deren Dachorganisation, der DOSB – sind deshalb aufgefordert, die vom IOC und dessen deutschem Präsidenten vorgeschlagene und von einer dezidierten sportpolitischen Verantwortung geprägten Maßnahmen zur Absicherung und Durchführung der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris und zur Teilnahme neutraler Athleten an internationalen Sportveranstaltungen mit eindeutigen Solidaritätsbeschlüssen zu unterstützen. Dazu muss auch gehören, dass sich diese Verbände in aller Entschiedenheit gegen eine staatliche Bevormundung öffentlich zur Wehr setzen und ihre Autonomie und parteipolitische Neutralität verteidigen. Sie können und dürfen nicht zulassen, dass westeuropäische Ministerinnen und Minister darüber entscheiden, wer an internationalen Sportveranstaltungen teilnehmen darf und wer nicht. Nehmen die Sportorganisationen ihre eigene Satzung und die von Ihnen verabschiedeten Ethik- Codes ernst und beachten sie darüber hinaus das für Deutschland gültige Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz(AGG) und die ihnen vorliegende Menschenrechtsempfehlung der UN in Bezug auf die „Teilnahme neutraler Athleten“ bei den Spielen in Paris, so müsste nicht zuletzt aufgrund der Charta der Olympischen Spiele, denen sich alle Verbände zu verpflichten haben, wenn sie an den Spielen teilnehmen möchten, eine solidarische Unterstützung der Sportpolitik des IOC eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Dies gilt nicht zuletzt auch für all jene „Vereinigungen“ in Deutschland und darüber hinaus, die vorgeben, Interessensvereinigungen der Athletinnen und Athleten zu sein, bei deren Aussagen und Kritik an der Sportpolitik des IOC in Bezug auf die Durchführung der Olympischen Spiele in Paris diesbezüglich jedoch erhebliche Zweifel angebracht sind.
Abschließend ist anzumerken, dass ALLE Olympischen NOKs die „Olympische Charta“ des IOC unterzeichnet und damit anerkannt haben – darunter auch die Ukraine. Damit haben alle Olympischen Sportorganisationen Verbindlichkeiten eingegangen, die gültig sind. Sie haben sich damit dem Gebot der politischen Neutralität verpflichtet und das Versprechen abgegeben, das Gebot der Autonomie der sportpolitischen Entscheidungen zu beachten, die somit unabhängig von staatlicher Beeinflussung stattfinden müssen. Fast alle olympischen Organisationen haben sich zusätzlich einem Ethik- Code verpflichtet, indem die olympischen Werte Toleranz, Respekt, Würde und Fair Play herausgestellt werden. Dezidiert wird dabei auch zum Ausdruck gebracht, dass jede Diskriminierung insbesondere in Bezug auf Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung oder politische Haltung nicht toleriert wird.
Selten zuvor standen diese Werte und Menschenrechte so sehr auf dem Prüfstand in den Organisationen des Sports wie es in diesen Tagen der Fall ist. Man muss und darf von den Olympischen Sportorganisationen zu Recht erwarten, dass sie ihren eigenen Verpflichtungen gerecht werden und bei deren Beschlüsse in Bezug auf die Teilnahme neutraler Athleten und Athletinnen bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris ihre eigenen Regeln beachten.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 9. 5. 2023