Die Leichtathletik ist ohne Zweifel eine der traditionsreichsten Sportarten. Waren es im 18. Jahrhundert zunächst vorrangig die Läufe, die die Massen faszinierten und die Wettleidenschaft befriedigten, so kamen im 19. Jahrhundert zunehmend Wurf- und Sprungduelle hinzu. Auch sie waren beim Publikum äußerst beliebt. Als Coubertin die modernen Olympischen Spiele in Athen 1896 initiierte, war es deshalb naheliegend, dass die beliebte Sportart Leichtathletik zur Königsdisziplin der Olympischen Spiele wurde. Mit dem Begriff „Track and Field“ wurde eine Palette von Einzelwettkämpfen unter das Dach eines gemeinsamen Verbandes gebracht und 1912 war es dann möglich mit der Gründung der IAAF eine Organisation zu schaffen, deren vorrangige Aufgabe darin zu sehen war, dass sie über die Regeln der Leichtathletik wacht, um auf diese Weise Athletinnen und Athleten in den Disziplinen der Leichtathletik faire Wettkämpfe zu ermöglichen.
Mittlerweile sind mehr als 100 Jahre vergangen und die Anzeichen mehren sich, dass die Leichtathletik als eine traditionsreiche Sportart immer mehr in eine Krise geraten ist. Das Publikumsinteresse ist eher rückläufig – dies gilt vor allem für Europa, die Hochburg der ehemals sehr erfolgreichen Leichtathletik.
Die Einschaltquoten bei Leichtathletik-übertragungen im Fernsehen sind nur noch ganz selten als zufriedenstellend wahrzunehmen. Leichtathletikveranstaltungen sind ökonomisch höchst riskant geworden, nicht selten wird von den Veranstaltern am Ende ein Defizit bilanziert und immer deutlicher ist zu erkennen, dass sich die Leichtathletikwettkämpfe ohne staatliche Subventionen an einem freien Sportmarkt nicht bewähren können. Die kritische Situation in der sich die Leichtathletik befindet wird nunmehr bereits seit mehr als zehn Jahren beklagt. Athleten, Trainer und Funktionäre haben diese Klagen ebenso vorgetragen wie die Partner aus der Wirtschaft und die sportartenbegleitenden Massenmedien. Die Art, wie die Leichtathletik dem Zuschauer präsentiert wird, scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein. Die Dauer der Wettkämpfe wird in Frage gestellt. Die Wettkämpfe selbst werden in ihrer Regelstruktur kritisch diskutiert. Neue Wettkampfideen scheinen gefragt zu sein und vielfältige Reformvorschläge werden deshalb nicht nur in Diskussionen geäußert. Ganze Kataloge von Verbesserungsvorschlägen wurden hierzu bereits publiziert. Die Leichtathletik scheint dabei durchaus eine Sportart der klugen Köpfe zu sein. An Ideenreichtum mangelt es nicht und selbst wenn es an eigenständigen Ideen fehlen würde, so lassen sich viele Reformen aus der Entwicklung und Erneuerung anderer Sportarten ableiten, die auch für eine Modernisierung der Leichtathletik geeignet wären.
Blickt man auf die vergangenen 15 Jahre zurück, so ist jedoch keine Reform zu erkennen, Stagnation ist vielmehr das kennzeichnende Merkmal für diese Periode. Es stellt sich deshalb die Frage, warum es anderen Sportarten gelingen konnte sich zu modernisieren, sich auf die gewandelten Bedürfnisse der Zuschauer einzulassen, warum es für sie möglich wurde, ihre Sportart im großen Sportmarkt konkurrenzfähig zu platzieren, währenddessen die Leichtathletik in ihren alten Strukturen erstarrt. So sind Schwimmen und Kunstturnen bei den Olympischen Spielen aus der Sicht unabhängiger Kontrolleure gemeinsam mit der Leichtathletik auf den ökonomisch bedeutsamen Platz eins aufgeschlossen, was eine erhebliche Zunahme an finanziellen Erlösen für Kunstturnen und Schwimmen bedeutet. Die Leichtathletik muss hingegen finanzielle Einbußen hinnehmen. Volleyball ist es durch entscheidende Regelveränderungen gelungen, für Alt und Jung in gleicher Weise als attraktive Sportart wahrgenommen zu werden. Biathlon hat in Kooperation mit Fernsehsendern die Sportart zu einer völlig neuen Unterhaltungsattraktion geformt und selbst Feldhockey kann dank mutiger Regeländerungen neue Erfolge aufweisen. Gewiss sind nicht alle Regeländerungen unter dem Aspekt der Attraktivitätssteigerung erfolgreich gewesen. Es gibt auch Sportarten, die trotz Veränderungen ihre Randposition nicht verlassen konnten und nicht jede Regeländerung kann auch als angemessen bewertet werden, insbesondere dann, wenn dabei die Interessen der Athleten in den Hintergrund treten und bloße Attraktivitätsbemühungen die ethische Grundlage ganzer Sportarten gefährden. Trotz dieser einschränkenden Anmerkungen stellt sich jedoch für die Leichtathletik die Frage, warum es ihr nicht gelingen kann, die Leistungen ihrer Athletinnen und Athleten, die nach wie vor attraktiv sind, mittels neuer Formen der Wettkampforganisation und -präsentation ins Zentrum des Publikumsinteresses zurückzuführen. Es stellt sich auch die Frage, wie aus der langatmig und für viele Zielgruppen sich als langweilig erweisende Sportart eine coole Sportart werden kann, die junge Menschen anspricht und dennoch auch für ältere Menschen attraktiv ist.
Wer heute die Leichtathletik verändern möchte, der muss zunächst und vor allem die Frage stellen, wer in den vergangenen 15 Jahren Reformen verhindert hat, wo die Blockierung existiert und wer für sie verantwortlich ist. Sucht man eine Antwort auf diese Frage, so ist sehr schnell zu erkennen, dass es vor allem Verfahren der Steuerung sind, die die notwendigen Reformprozesse innerhalb der Leichtathletik verhindern.
Will man Regeln verändern, so bedarf es demokratischer Mehrheitsentscheidungen bei Regel-Kongressen die alle zwei bzw. vier Jahre stattfinden. Schon allein dieser Sachverhalt deutet daraufhin, dass Veränderungen innerhalb der Leichtathletik langatmige Prozesse darstellen, die das Risiko in sich bergen, dass die notwendigen schnellen Entscheidungen nicht möglich sind. Angesichts der fragwürdigen Kompetenz der bei Kongressen anwesenden Entscheidungsträger sind fachliche Fehlentscheidungen nicht auszuschließen. Betrachten wir die Verfahren zur Regeländerung innerhalb der Leichtathletik etwas genauer, so muss man darüber hinaus erkennen, dass es vor allem personelle Konstellationen sind, die eine entscheidende Regelveränderung nahezu unmöglich machen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Technischen- und der Wettkampfkommission zu. Die Technische Kommission wird vom IAAF-Kongress gewählt, die Wettkampfkommission wird vom Council der IAAF nominiert. Bei beiden Verfahren kann nicht sichergestellt werden, dass lediglich fachliche Kompetenz ausschlaggebend für die Wahl jener Personen ist, die in den Kommissionen das Sagen haben. Die Technische Kommission rekrutiert ihr Personal in der Regel aus Kampfrichtern, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Die Tatsache, dass sie vorrangig die bestehenden Regeln zu überwachen haben, legt teilweise die Annahme nahe, dass diese Kommission eher traditionsorientiert und erhaltend als verändernd tätig ist. Für große Experimente fehlt der Mut, es gibt aber auch nicht den Ort und die Gelegenheit in Experimenten neue Regeln zu erproben. Werden neue Regeln eingeführt, so haben sie für die gesamte Welt zu gelten, deshalb sind auch die Entscheidungen mit großer Vorsicht durchzuführen. Dies wiederum hat zur Folge, dass paradigmatische Veränderungen nahezu völlig ausgeschlossen sind.
Ein weiteres Merkmal des Verfahrens ist darin zu sehen, dass sich die jeweiligen Vorsitzenden der Kommissionen und Komitees durch eine außergewöhnliche Macht bzw. Einfluss auszeichnen. Dies gilt ganz besonders für die Präsidenten der Leichtathletik. Sie werden wohl auf demokratische Weise gewählt, doch befinden sie sich einmal in Amt und Würden, so sind sie nahezu unantastbar. Stellt sich ein Präsident gegen eine Reform, so ist diese höchst unwahrscheinlich. Mehrheitsentscheidungen gibt es so gut wie gar nicht, es sei denn der Präsident ist sich seiner Mehrheit sicher. Auf diese Weise wird Demokratie zum bloßen Machtspiel des Präsidenten. So konnte ein über 14 Jahre amtierender Präsident die Einführung neuer Wettkämpfe bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2015 äußerst erfolgreich verhindern. Die Einführung einer Staffel-Weltmeisterschaft benötigte mehr als zehn Jahre. Und obgleich die große Mehrheit im Rat der IAAF der Auffassung war, dass gemischte Staffeln eine sinnvolle Bereicherung sein könnten, machte der Präsident deren Verhinderung zu einer Chefangelegenheit, indem er darauf hinwies, dass solange er Präsident sei, eine gemischte Staffel niemals stattfinden wird. Vergleichbare autoritäre Strukturen sind in der Wettkampfkommission anzutreffen und auch im Technischen Komitee gilt vor allem das Wort des Vorsitzenden – spricht er sich gegen einen Regeländerungsvorschlag aus, so ist die Veränderung höchst unwahrscheinlich. Angesichts dieser Führungsstrukturen sind die Gremien der Leichtathletikverbände zu Debattierzirkeln verkommen, in denen redundant die gleichen Themen diskutiert werden, zu den notwendigen Entscheidungen kann es jedoch nicht kommen weil Strukturen und bestimmte Personen eine Systemblockade bedingen, die jede Reform unmöglich macht. Die Organisation der Leichtathletik und die Steuerungsprozesse durch Leichtathletikgremien sind ganz offensichtlich nicht mehr zeitgemäß. Will man die Sportart modernisieren, so muss die Führungsstruktur verändert und das Personal ausgetauscht werden. Fragwürdige und langatmige pseudo-demokratische Entscheidungsprozesse müssen durch nachvollziehbare, kurze Entscheidungswege ersetzt werden, die sich vor allem durch die Verantwortung der Entscheidungsträger auszeichnet. Gewiss ist es dabei verständlich, dass viele in der Leichtathletik heute auf Neuwahlen hoffen, doch dies kann allenfalls als erster Schritt gesehen werden. Werden nicht gleichzeitig die Führungs- und Verwaltungsstrukturen verändert, so besteht die große Gefahr, dass die Situation, geprägt von Lethargie, Lähmung und Frustration auch über die Neuwahlen hinaus fortgesetzt wird und die entscheidenden Veränderungen ausbleiben. Genau dies ist nach dem letzten IAAF-Kongress 2015 eingetreten. Es gibt zwar einen neuen Präsidenten, doch eine Reform der Wettkampfstrukturen hat noch immer nicht stattgefunden. Der bevorstehende Kongress der IAAF in London in dieser Woche ist ohne Zweifel eine Chance. Die Mitglieder der IAAF sind aufgefordert ihre Änderungsideen auf den Tisch zu legen, damit die Diskussion über die notwendigen neuen Organisationsformen und das notwendige neue Personal eröffnet werden kann.
Letzte Überarbeitung: 26.07.2017