Vom Lockdown zu einem neuen Aufbruch

Noch deutlicher als zuvor wurde und wird während der Coronapandemie offensichtlich, dass mangels einer zielorientierten Führung das Kulturgut Sport in unserer Gesellschaft Schaden nimmt. Würde es nicht viele junge Athletinnen und Athleten und engagierte Trainerinnen und Trainer geben, die mit ihren Leistungen auf wirkungsvolle Weise die deutsche Gesellschaft bei zukünftigen olympischen Spielen und Weltmeisterschaften repräsentieren, und würde es nicht die vielen Turn und Sportvereine geben, die den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland ein anspruchsvolles und vielfältiges Sportangebot unterbreiten, so müsste man den Zustand, in dem sich die Organisation des deutschen Sports derzeit befindet als ärgerlich bezeichnen. Wie das aktive Sporttreiben trotz seiner wissenschaftlich vielfach nachgewiesenen Präventionsfunktion einem völligen Lockdown unterworfen wurde, wie fast alle Sportverbände nahezu widerstandslos eine politische Intervention in ihrem eigenen Hoheitsgebiet hingenommen haben, kann nur Verwunderung hervorrufen. Angesichts der großen Leistungen, die die deutschen Sportorganisationen in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts für unsere Gesellschaft erbracht haben, muss diese lethargische Haltung der Sportorganisationen Kritik hervorrufen und es muss deshalb die Frage gestellt werden, wie es zu solch einer Situation kommen konnte.

Die Ursache für diese missliche Situation ist nicht zuletzt in einer Führungsschwäche des deutschen Sports begründet. Sie hängt deshalb auch mit Persönlichkeiten zusammen, die in den letzten Jahrzehnten den deutschen Sport nach innen und nach außen repräsentiert haben. Betrachtet man die Dachorganisationen des deutschen Sports in Bezug auf ihre Erfolge und Leistungen, die sie in den beiden letzten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts gegenüber der Gesellschaft aufzuweisen haben, so gibt sich leider für viele Organisationen nahezu eine Fehlbilanz. Dies gilt für manchen Spitzenverband, dies gilt aber auch für den Deutschen Olympischen Sportbund. Weder konnten zwingend notwendige Reformen auf den Weg gebracht, noch erfolgreiche neue Projekte in die Gesellschaft hineingetragen werden. Unter gesellschaftlichen, kulturellen aber auch unter wissenschaftspolitischen Gesichtspunkten haben die Organisationen des Sports kaum mehr eine Rolle gespielt und sie sind in Bezug auf ihre eigenen Strukturen und Institutionen teilweise sogar gefährdet. Der Deutsche Olympische Sportbund wird wohl von einem Präsidium geführt, das sich durchaus durch politisches Selbstbewusstsein auszeichnet und das sich sportpolitische Ziele vorgenommen hat. Jedoch wenig von dem Vorgenommenen konnte aufgrund misslicher Strukturen in seiner eigenen Organisation erreicht werden. Personalkonflikte, Rücknahme von Projekten, Aufgabe von Strukturen, dies sind Indizien, die darauf hinweisen, dass im deutschen Sport eine Reform der Hauptamtlichkeit dringender denn je ist, dass aber auch die ehrenamtlichen Führungsgremien einer Evaluation bedürfen und dass die Dachorganisationen des deutschen Sports gut beraten wären, wenn sie für ehrenamtliche Positionen Persönlichkeiten gewinnen würden, die den Sport mit einer Modernisierungsfähigkeit und mit neuen Ideen darstellen.

Bei mancher Dachorganisation des deutschen Sports ist zu beklagen, dass die Kommunikation mit wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten nur bedingt gelungen ist. Dem DOSB ist vor allem die Vordenkerrolle abhandengekommen, was auch in dem Abbau all jener wissenschaftlich gestützten Beratungsinstitutionen zu erkennen ist, die noch im vergangenen Jahrhundert den deutschen Sport als eine besondere Organisation auszeichneten. Eine einstmals durchaus als notwendig erachtete Einrichtung, wie das Deutsche Olympische Institut, wurde aufgrund einer Reihe von Fehlentscheidungen zum unbedeutenden Sitzungsort degradiert und personell und finanziell immer mehr in Frage gestellt. Die Willi Daume Stiftung wurde bereits mit dem Tag ihrer Gründung sportpolitisch ins Abseits gestellt. Angesichts solcher Schwächen war es mehr als folgerichtig, dass die deutsche Wirtschaft vermehrt auf Distanz zum deutschen Sport ging. Es ist der DSM (Deutsche Sport Marketing GmbH) zu verdanken, dass aus dieser misslichen Situation heute noch das Beste gemacht wird. Doch vergleicht man die Vermarktungserfolge der Olympischen Komitees ähnlicher Sportnationen, so sieht man auf welch bescheidenem Niveau sich der deutsche Sport bewegt. Nicht weniger bescheiden ist der internationale Einfluss, den der deutsche Sport heute noch ausübt. Gäbe es nicht das engagierte Bemühen des deutschen IOC-Präsidenten um dringend notwendige olympische Reformen, so müsste man fast von einer Degradierung Deutschlands reden. Hier rächt sich noch immer, dass lange Zeit das politische Handeln des deutschen NOK durch das Verdrängen schwieriger Fragen geprägt war, dass unbequeme Probleme auf die lange Bank geschoben wurden und man sich dadurch entlastete, dass die Zuständigkeitsfrage gestellt wurde. Ökonomisch bewegen sich manche Dachorganisationen des deutschen Sports, insbesondere einige Fachverbände, auf einem gefährlichen Pfad. Gäbe es nicht die engagierte Unterstützung durch den Staat, so hätten sich längst einige Verbände selbst in Frage gestellt. Die Beziehungen zur Wirtschaft sind alles andere als erfolgreich zu bezeichnen, aber auch die Beziehung zu wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft, zu den Massenmedien, zur Arbeitswelt, zu den Kirchen, zum Wissenschafts-, Bildungs- und Erziehungssystem zeichnen sich längst nicht mehr durch besondere Qualität oder gar durch kreative Aktionen aus.

Gibt es einen Ausweg aus dieser erstarrten Situation? Eine personelle Erneuerung, das ist mehr als deutlich zu erkennen, wird für jeden neuen Weg, den man zu gehen bereit ist, eine notwendige Bedingung sein. Verharren die Verbände noch länger in ihren festgefahrenen Personalstrukturen, so wird der Sport weiter Schaden nehmen, so wie er bereits im vergangenen Jahrzehnt und in diesen Tagen Schaden nahm und nimmt. Fast alle Verbände benötigen eine programmatische Erneuerung, sie bedürfen klarer Zielvorgaben, sowohl für die ehrenamtliche Führung, als auch für die hauptamtliche Mitarbeit. Der deutsche Beitrag im Internationalen Olympischen Komitee bedarf einer inhaltlichen Präzisierung und der Deutsche Olympische Sportbund einer strukturellen Reform. Neue Mitgliedsstrukturen der Verbände sind dabei ebenso zu diskutieren wie auch neue Mitgliedschaften denkbar sind. Das Verhältnis zur Wirtschaft muss auf völlig neue Beine gestellt und bestimmte Themen dürfen nicht zu Tabus erklärt werden. Gesucht ist auch eine bessere Organisation des Leistungssports in den olympischen und nicht-olympischen Fachverbänden im Interesse der Athletinnen und Athleten, die sich bei Olympischen Spielen mit den Besten der Welt messen wollen.

Gesucht ist aber auch eine Organisation, die gesellschafts-, sozial- und kulturpolitisch eine herausragende Rolle in unserer Gesellschaft einnimmt. Das, was über den Olympischen Sport zum Ausdruck gebracht werden kann, kann kulturell durchaus höchste Anerkennung für sich in Anspruch nehmen. Will der Deutsche Olympische Sportbund diesen Weg zur Erneuerung gehen, so sollten die Mitglieder, die darüber zu befinden haben, ihre Entscheidung von Kompetenzen, Programmen, aber auch von Persönlichkeiten abhängig machen, die das Unbequeme aussprechen, die die Probleme angehen und die bereit sind, auch Risiken einzugehen. Denn auf dem Weg, der neu zu gestalten ist, wird es sicher auch Rückschläge geben. Doch auch dazu muss zukünftig den Sportverantwortlichen ein Mandat gegeben werden. Unverzichtbar wird sein, dass die Führungslast nicht auf eine Person allein ausgerichtet ist. Arbeitsteilige Strukturen sind dringend notwendig, das Ressortprinzip ist unersetzlich und eine effektive Kommunikation innerhalb neu zu schaffender Exekutivgremien muss auf Dauer gewährleistet sein.

Die Aufwertung der Hauptamtlichkeit, die bislang oft nur eine Statistenrolle in den Sitzungen der meisten Verbände einnehmen konnten, ist eine weitere notwendige Bedingung. Dies alles ist nur dann möglich, wenn die Repräsentanten der Fachverbände in ihren Präsidien die olympische Politik begleiten, wenn sich die Mitglieder innerhalb der Mitgliederversammlung des DOSB auf der Grundlage eines kompetenten Urteils zu ihren Entscheidungen bekennen und wenn dabei Seilschaften und Klüngelkonstellationen tabuisiert sind. Nicht zuletzt die letzte Forderung lässt das Beschriebene als Utopie erscheinen. Sind die Mitglieder des Deutschen Olympischen Sportbunds jedoch bereit, die Situation ihrer Organisation auf den Prüfstand zu stellen, so werden sie zumindest erkennen, dass Wahlen bei Mitgliederversammlungen eine Chance darstellen und wegweisende Bedeutung haben. Entscheidet man sich für das „Weiterso“, so entscheidet man sich für den schon seit langem zu beobachtenden Führungskonflikt, man entscheidet sich für die Lähmung innerhalb seiner Organisation. Entscheidet man sich für eine inhaltliche und personelle Erneuerung, so muss man sich des Weges bewusst sein, der zu gehen ist. Hierzu sollten die Programme der Kandidaten für die Führungspositionen in den Organisationen des deutschen Sports auf den Prüfstand gestellt werden, ob sie sich für die erwünschte Erneuerung eignen. In der Verantwortung gegenüber den sporttreibenden Bürgerinnen und Bürgern, in der Verantwortung gegenüber den Athletinnen und Athleten gibt es zu diesem Weg keine Alternative.

Letzte Aktualisierung: 15.07.2020