Tianjin 2017 – Die besonderen Spiele

Vom 27.08.-08.09.2017 haben „The 13th Games of the People‘s Republic of China“, so der offizielle Name, in Tianjin stattgefunden. Tianjin ist eine der wichtigsten Hafenstädte der Volksrepublik China. Sie gehört zur Gruppe der regierungsunmittelbaren Städte, zusammen mit Shanghai, Peking und Chongqing. Sie hat somit den Rang einer Provinz und untersteht direkt der Zentralregierung der Volksrepublik China. Das Verwaltungsgebiet hat eine Fläche von 12.000 Quadratkilometern und es leben dort mehr als 15 Millionen Menschen. Tianjin ist ein Industriezentrum, insbesondere für die Computerindustrie. Es ist aber auch eine Universitätsstadt mit international bedeutenden Universitäten. Neben der Tianjin Universität, der Nankei Universität und der University of Technology gibt es zahlreiche weitere Hoch- und Fachhochschulen, Forschungsinstitute und Bibliotheken. Insgesamt gibt es in Tianjin 15 Universitäten, daneben noch die Akademy of Fine Arts, das Agricultural College, das Konservatorium für Musik und die Sporthochschule sowie das Urban Construction Center.

Die Spiele von Tianjin waren ohne Zweifel ein Meilenstein für die chinesische Sportentwicklung. Die Geschichte der Nationalen Spiele reicht zurück in die Qing-Dynastie, als 1909 die ersten Spiele in Peking stattgefunden haben. Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 wurde 1959 die Idee der Nationalen Spiele aufgegriffen und in  Tianjin fanden nunmehr diese Spiele zum 13. Male statt (vgl. Tabelle 1).

JahrNr.DatumAustragungsort
1959I13. September – 3. OktoberPeking
1965II11.–28. SeptemberPeking
1975III12.–28. SeptemberPeking
1979IV15.–30. SeptemberPeking
1983V18. September – 1. Oktober Shanghai
1987VI20. November – 5. DezemberGuangzhou
1993VII15. August – 19. SeptemberPeking/Sichuan/Qinhuangdao
1997VIII12.–24. OktoberShanghai
2001IX11.–25. NovemberGuangzhou
2005X9.–23. OktoberJiangsu
2009XI16.–28. OktoberShandong
2013XII31. August–12. SeptemberLiaoning
2017XIII27. August–8. SeptemberTianjin

Tabelle 1: Die Nationalen Spiele Chinas seit 1959

 

Die Nationalen Spiele Chinas sind keine Olympischen Spiele im Kleinen wie sie häufig von ausländischen Experten eingestuft werden. Sie sind vielmehr das größte Sportereignis der Welt, wesentlich größer als die Olympischen Spiele und sie zeichnen sich durch mehrere eigenständige Merkmale aus. So gibt es bei diesen Spielen keine Hymnen. Zum ersten Mal wurde in Tianjin bewusst auf einen Medaillenspiegel verzichtet. Zum ersten Mal wurden auch Wettbewerbe für Freizeitsportler in das Programm der Spiele integriert und zum ersten Mal konnten auch Overseas-Chinesen an den Spielen teilnehmen. Auch sie sollen an Präsident Xi Jinpings „chinesischem Traum“ teilhaben. Der US-Amerikaner Jay Shi schrieb dabei Geschichte bei den Spielen in Tianjin, in dem er als erster Overseas-Chinese am 50m Pistolenwettbewerb teilnahm. Er wurde 1979 in Tianjin geboren und war mit seinen Eltern kurz danach in die USA ausgewandert. Neben ihm sind weitere sechs Overseas-Athleten den im Juni 2017 ausgeschriebenen Einladungen des Organisationskomitees gefolgt und haben an den Wettbewerben teilgenommen. Dies ist ein besonderer Ausdruck für die Kohäsion und die Solidarität aller Chinesen auf dieser Welt. Für die Winterspiele 2022 erhofft sich die chinesische Führung eine Fortsetzung dieser Öffnung, wobei die Overseas-Athleten vorher allerdings einen chinesischen Pass erhalten müssen, damit sie an den Spielen für China starten dürfen.

Maskottchen „Jinwa“ der Nationalen Chinesischen Spiele von Tianjin 2017

„National Games for a healthy China“, das Motto der 13. Spiele und dessen Maskottchen „Jinwa“, das bei der Ausübung aller Sportarten zur Darstellung gebracht wurde, sollten dabei den Wechsel in der politischen Ausrichtung der Spiele signalisieren. Während der Tage von Tianjin gab es in 31 Sportarten, die in 49 Sportstätten ausgetragen wurden, 341 Entscheidungen. Sämtliche 22 Provinzen, die vier Metropolregionen und die vier autonomen Regionen haben dabei mit ihren Mannschaften teilgenommen. Ergänzt wurde das Starterfeld durch eine Mannschaft der Volksarmee und durch sechs Mannschaften verschiedener Industriezweige oder großer Staatsorganisationen (Polizei, Kohle, Eisenbahn, Xinjiang Productions). Insgesamt haben 12.721 professionelle Athletinnen und Athleten an diesen Spielen teilgenommen. Für die Freizeitwettbewerbe wurden 7.620 Amateursportler zugelassen, die sich in 126 Wettbewerben in 19 Massensportarten vergleichen konnten. Diese Wettbewerbe sollten die Idee des „Sport für Alle“ in China wiederspiegeln.

Rund 17.000 Volunteers gab es bei den Nationalen Spielen

Da es in den früheren Nationalen Spielen immer wieder zu Ausschreitungen, zu Wettkampfbetrug und zu erheblichen Dopingvergehen gekommen war, hatte sich das Organisationskomitee der 13. Spiele für eine weitere Erneuerung entschieden. Es wurden Kampfrichter der internationalen Fachverbände eingeladen, um auf diese Weise die Wettkämpfe fairer zu gestalten und sie vor möglichen Manipulationen zu schützen. 58 Kampfrichter in elf Sportarten nahmen diese Einladung an und waren verantwortlich für den Schutz des Fair Play bei diesen besonderen Spielen. Besonders eindrucksvoll war auch die Leistung der 17.000 freiwilligen Helfer, die überwiegend als Volunteers aus der Studentenschaft der fünf Universitäten von Tianjin rekrutiert wurden. Für die Athleten und für die Besucher standen 1.000 Mitarbeiter eines gut ausgebildeten medizinischen Dienstes zur Verfügung und 36 Krankhäuser boten ihre Bereitschaftsdienste an. Mehr als 2.700 Journalisten berichteten über die Spiele und CCTV übertrug die Spiele live.

Wie es für China heutzutage nahezu eine Selbstverständlichkeit ist, wurden die Spiele mit einer spektakulären Feier eröffnet, bei der Staatspräsident Xi Jinping anwesend war und auch IOC-Präsident Bach seine Bewunderung über dieses besondere Ereignis zum Ausdruck brachte. Nicht weniger großartig war die Schlussfeier und da auch die Wettbewerbe selbst zu meiner eigenen Überraschung sehr viel besser besucht wurden als dies in früheren Zeiten bei sportlichen Großereignissen in China der Fall war, konnten die Bürgerinnen und Bürger von Tianjin die Nationalen Spiele 2017 als die wohl bestbesuchtesten Nationalen Spiele aller Zeiten feiern.

Athletendorf bei den Chinesischen Spielen von Tianjin

Neben der außergewöhnlichen Publikumsresonanz zeichneten sich die Spiele von Tianjin vor allem auch durch ein perfekt ausgestattetes Athletendorf und durch Sportstätten aus, die in der Sportarchitektur einem Vergleich mit den besten Sportstätten der Welt jederzeit standhalten können. Dies ist nicht zuletzt den idealen Bildungsstrukturen Tianjins zu verdanken. Nahezu jede Universität und Fachhochschule verfügt über eine eigene Sportarena, die modernsten Ansprüchen genügt und multifunktional ausgerichtet ist. So konnten die Wettbewerbe in den olympischen Disziplinen in Sportarenen ausgetragen werden, die ohne Ausnahme den höchsten Ansprüchen genügten. Besonders eindrucksvoll waren das Schwimmstadion im neuerbauten olympischen Zentrum und das Olympia- und Leichtathletikstadion, das von den Chinesen als „Wassertropfen“ bezeichnet wird, da es wohl in seiner äußeren Erscheinung diese Ähnlichkeit aufweist.

Während meines Besuches der Spiele war es mir möglich, die Wettkämpfe in zehn verschiedenen Sportarten zu besuchen und dabei jeweils die herausragenden Sportstätten zu bewundern. Jede Sportart fand in einer neuen oder nahezu neuen Sportarena statt. Tribünen von Fünftausend bis zu 50.000 Zuschauern standen zur Verfügung. Die technische Ausstattung dieser Arenen war in jeder Hinsicht vorbildlich. Das sportliche Niveau der Wettkämpfe zeichnete sich durch außergewöhnliche Leistungen aus. Selbst in dem in China eher fremden Handballsport gab es ein Turnier von jeweils acht Provinzen, die den Titel des Nationalen Meisters ausspielten. Die Leichtathletik faszinierte bei den wichtigsten Abendveranstaltungen mehr als 40.000 Menschen und die beliebteste Sportart in China, das Tischtennisspiel, fand nahezu während des gesamten Wettbewerbs vor einer außergewöhnlichen Zuschauerkulisse statt. Die Zuschauer gliederten sich nach den Provinzen, entsprechend schnell konnte auch die Zuschauerschaft wechseln, wenn neue Provinzen am Start waren. Angesichts der großen Entfernungen der verschiedenen Sportstätten zueinander, konnte der schnelle Zuschauerwechsel nur verwundern. Doch ein vorbildliches Straßensystem, das sich durch sehr breite und meist sechsspurige Straßen auszeichnet, waren schnelle Verbindungen zwischen den einzelnen Sportstätten auch dann möglich, wenn sie Distanzen bis zu 50km aufwiesen.

Sportarenen bei den Chinesischen Spielen von Tianjin

Die mehr als 20.000 Athletinnen und Athleten, Kampfrichterinnen und Kampfrichter und Offiziellen waren in einer neuerbauten Apartmentstadt untergebracht. Mehr als 100 Hochhäuser mit jeweils über 30 Etagen standen voll ausgestattet zur Verfügung. Der Verkauf der Apartmentwohnungen hat bereits stattgefunden und unmittelbar nach Beendigung der Spiele kann dieser neue Stadtbezirk von seinen zukünftigen Bürgern bezogen werden. Während der Spiele stand eine überdimensional große Athletenmensa im Mittelpunkt des Dorfes, in der mehrere tausend Athleten gleichzeitig versorgt werden konnten. Zugänglich war diese Mensa 24 Stunden am Tag und sie spiegelte die Vielfalt der chinesischen Küche wieder, aber auch an islamische Athletinnen und Athleten und an weitere Minderheiten Chinas hatte man dabei gedacht.

Nie zuvor dienten die Nationalen Spiele einer äußerst klar formulierten Zielsetzung Chinas, wie dies in Tianjin der Fall war. China möchte sich der Welt als eine Xiaokang-Society, d.h. als eine prosperierende und gesunde Gesellschaft präsentieren. Der Spitzensport hatte bei diesen Spielen dabei keineswegs seine Bedeutung verloren. Im Zentrum der sportlichen Wettbewerbe standen die olympischen Helden und Weltmeister Chinas in den verschiedenen olympischen Sportarten. China wird gewiss auch zukünftig diese olympischen Helden verehren und alles dafür tun, dass auch bei zukünftigen Olympischen Spielen möglichst viele Goldmedaillen erreicht werden. Seit 1979, als China in die olympische Familie zurückgekehrt ist, war der olympische Erfolg ohne Zweifel von herausragender Bedeutung. Ende 2014 gab es jedoch eine Direktive der Regierung die Sportindustrie in ihrem Wachstum zu beschleunigen und zu verändern, damit sich immer mehr Chinesen sportliche Ausrüstung leisten und aktiv Sporttreiben können. Präsident Xi Jinping, dem diese Direktive zuzuschreiben ist, ist Chinas erster Präsident, der sich persönlich um die Belange des chinesischen Sports kümmert. Er ist nicht nur Fußballfan, in seinem Traum von einer Erneuerung der chinesischen Nation ist der Sport ein zentraler und integraler Faktor. Fitness ist für ihn die Basis für einen gesunden Lebensstil. Beim 18. Nationalen Kongress der kommunistischen Partei Chinas wurde sein Antrag zur Promotion einer Massenfitness in seinem Arbeitsbericht ausgewiesen und in seinem Nationalen Plan zur Entwicklung der „mass fitness“ aus dem Jahr 2016 wird für das Jahr 2020 erwartet, dass von den 1,3 Milliarden Chinesen 435 Millionen regelmäßig aktiv am Sport teilnehmen. Ein Jahr zuvor hatte Präsident Xi Jinping seine „Milestone Soccer Reform“ verabschiedet. Dabei geht es um den Bau von mehr als 20.000 Fußballplätzen. Die Sportanlagen sollten generell für Kinder und Jugendliche leichter zugänglich werden und die Organisation des Fußballs ist landesweit zu optimieren. Vor allem ist der sogenannte „on campus sport“, der Sport an Bildungseinrichtungen bis hin zu den Universitäten und Sporthochschulen auf das Fußballspiel sehr viel intensiver auszurichten, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Dass dabei auch wirtschaftliche Interessen verfolgt werden ist naheliegend. Mit dem Programm „Healthy China“ geht ein massives Wachstum der verschiedenen Sportbranchen einher. Ziel ist dabei, dass 800 Billionen US-Dollar als Umsatzziel im Jahr 2025 erreicht werden.

Maskottchen der Nationalen Chinesischen Spiele von Tianjin 2017

Das Ziel, die chinesischen Massen zu einem aktiven Lebensstil anzuleiten, ist ohne Zweifel anspruchsvoll angesichts der in China nach wie vor wachsenden sozialen Ungleichheit und der Benachteiligung großer Bevölkerungsgruppen in fast allen Provinzen. Die bislang erreichten Erfolge sind dennoch bemerkenswert. In China herrscht ein Marathonfieber, wie es wohl in keinem anderen Land der Welt anzutreffen ist. Gab es vor sechs Jahren nur 22 Marathonangebote, so ist die Zahl der Marathonläufe in China im Jahr 2017 auf 600 angestiegen. Mehr als fünf Millionen Chinesen haben an diesen Läufen teilgenommen. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel, dass Xi Jinping mit seiner neuen Politik anstrebt durchaus realistisch. Dafür spricht auch der Erfolg der chinesischen Sportartikelindustrie, die von „ANTA Sports Products Limited“ angeführt wird. Deren Sportausrüstung wird in Jinjiang produziert. 2007 wurde ANTA Sports eine Aktiengesellschaft, deren Marktwert jüngst mit 9 Milliarden US-Dollar bestimmt wurde. Bis zum Jahr 2020 wird ANTA Sports 100 Millionen Paar Schuhe und 130 Millionen Stück an Sportkleidung verkaufen. 11.000 eigene Stores gehören zu dieser neuen Konzeption hinzu. Jüngst hat ANTA Sports die japanische Firma „Descente“ gekauft, die ANTA den Eintritt in den Wintersportmarkt ermöglicht. In den nächsten Jahren sollen Winterstores eröffnet werden. Die Zielgruppe sind dabei die neuen Mittelschichten Chinas, die vermehrt auch ein Interesse am Wintersport artikulieren. Mit den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking und in der Hebei-Provinz im Norden Pekings, kann es ohne Zweifel zu einer Popularisierung des Wintersports kommen und auch hierbei kann die geplante Verdoppelung der Wintersportressorts, der Hotelkapazitäten, der Ausbildungseinrichtungen für den Eis- und Schneesport und der Erweiterung des Schulsportangebots ein wichtiger Baustein in Xi Jinpings „mass sports policy“ sein.

Sportveranstaltungen bei den Nationalen Spielen Chinas 2017

Trotz des großen Erfolges der 13. Nationalen Spiele der Volksrepublik China stellt sich auch für dieses Ereignis die Frage der weiteren Entwicklung. Ähnlich wie bei den Olympischen Spielen muss gefragt werden, ob ein ständiges Wachstum einen sinnvollen Wert für diese Entwicklung darstellt. Die Neukonzeption der Spiele wird wohl von der Mehrzahl der chinesischen Experten positiv bewertet. Die Zulassung von Amateursportlern neben den im Zentrum stehenden professionellen Athleten wird als sinnvoll erachtet. Die Frage stellt sich jedoch, ob die Kosten solcher Spiele nicht jegliches vernünftige Maß überschreiten. Unter einem naheliegenden politischen Gesichtspunkt, unter dem Aspekt des „nation building“, was in China nach wie vor ein relevantes Anliegen ist, scheinen die Spiele noch immer sinnvoll zu sein. Das Bedürfnis nach Identifikation, insbesondere eine Identifikation mit der Heimat, lässt sich immer häufiger bei vielen Chinesen beobachten. Die Provinz aus der sie kommen, ist für viele Chinesen bedeutsamer als das große Gebilde der Volksrepublik selbst. Will man diese Identifikation verstärken, so könnten Hymnen für jede Provinz, Provinzfahnen und weitere markante Provinzsymbole durchaus ein weiterführendes Konzept für die Nationalen Spiele sein. Sprechchöre bei den Wettkämpfen und lautstarke Unterstützung der jeweils sogenannten „eigenen“ Athleten können als Hinweis auf dieses Bedürfnis gedeutet werden. Umgekehrt könnte jedoch ebenfalls wichtig sein, dass provinzübergreifende Mannschaften und gemischte Teams zukünftig eine chinesische Gemeinschaft betonen, die man bei der derzeitigen Konzeption vermisst. Mit europäischen Maßstäben lassen sich diese Spiele allerdings wohl kaum beurteilen. Als europäischer Beobachter wurde mir einmal mehr klar, wie eigenständig und unabhängig sich diese chinesischen Spiele entwickelt haben und warum auch die Größe der Spiele sich nach europäischen Vorstellungen wohl kaum beurteilen lässt. Angesichts der Größe des Landes und angesichts der dort lebenden 1,3 Milliarden Menschen verbieten sich unangemessene europäische Vergleiche nahezu von selbst. Das Verständnis von Masse, Größe und politischem Nutzen in China ist etwas völlig anderes, als dies für Europa der Fall ist.

Verfasst: 13.09.2017