Teilnahme neutraler Athleten an den Olympischen Spielen in Paris 2024 – Eine nach wie vor ungelöste sportpolitische Herausforderung für das IOC

Ich habe vor einigen Wochen den Versuch unternommen, mich mit einem Essay in „sport-nachgedacht.de“ an der Frage nach der Teilnahme neutraler Athleten¹ bei den Olympischen Spielen Paris 2024 zu beteiligen und in die bereits damals sehr kontrovers geführte Diskussion einen sachlichen Beitrag einzubringen. Die Rückmeldungen waren überwiegend positiv. Nicht zuletzt haben einige Verantwortliche aus den deutschen Sportverbänden die dort vorgenommene klare Trennung zwischen einer „autonomen und politisch neutralen Sportpolitik“ und einer „staatlichen Sportpolitik“ und einer dadurch bedingten Arbeitsteilung begrüßt.

Zwischenzeitlich hat die Diskussion über die Frage der Teilnahme russischer Athleten noch weiter an Fahrt zugenommen und es ist dabei immer häufiger zu erkennen, dass immer mehr Menschen, die sich an dieser Diskussion beteiligen, nicht immer hinreichend wissen über was sie sprechen. Dies gilt für Repräsentanten aus dem Bereich der Politik gleichermaßen wie für Repräsentanten aus dem Bereich des Sports.

Von den Kritikern einer Teilnahme russischer Athleten werden ohne Zweifel auch sachliche Argumente vorgetragen, die diskussionswürdig sind, und die bei den demnächst anstehenden Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Es fällt jedoch auf, dass nahezu die gesamte vorgetragene Kritik an einer Teilnahme russischer Athleten mit einer völlig unsachlichen Kritik am IOC und vor allem auch an dessen Präsidenten einhergeht. Einmal mehr kann man dabei beobachten, dass Deutschland ganz offensichtlich in Bezug auf dessen massenmediale Wahrnehmung des IOC und dessen Präsidenten ein „massenmedialer Sonderfall“ in Europa und in der Welt darstellt. Das schon über ein Jahrzehnt andauernde IOC-Bashing durch deutsche Massenmedien zeigt dabei ganz offensichtlich seine Wirkung. Immer häufiger zeichnen sich Minister der Bundesregierung und Bundestagsabgeordnete durch eine polemische Kritik am IOC und dessen Präsidenten aus, ohne dass sie über das notwendige Wissen und über Kenntnisse zu den teilweise sehr komplexen Zusammenhängen verfügen. Gleiches gilt für manche Äußerungen von Sportfunktionären und für einige Athletinnen und Athleten, die von den Medien zu Stellungnahmen aufgefordert werden. Nicht wenige Stellungnahmen zeichnen sich durch Unverfrorenheit und Polemik aus und es ist dabei ganz offensichtlich, dass insbesondere Repräsentanten staatlicher Politik lediglich von ihrem eigenen innen- und außenpolitischen Unvermögen ablenken wollen. Heuchelei ist ganz offensichtlich zu einem Markenzeichen der Politik einiger Mitglieder deutscher Parlamente und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland geworden.

Hat die Diskussion über die Frage der Teilnahme russischer Athleten in Deutschland eine derartige „Qualität“ erreicht, so ist es schwierig insbesondere mit den Repräsentanten des derzeit blühenden politischen Opportunismus, in einen demokratisch sachlichen Dialog

einzutreten. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, wenigstens noch einmal die entscheidenden Schritte nachzuzeichnen und damit auch die zentralen Inhalte wiederzugeben, die das IOC unter der Führung von IOC- Präsident Bach seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine unternommen hat. Die folgenden fünf Etappen können dabei unterschieden werden

  1. In der Sitzung vom September 2022 der IOC- Exekutive in Lausanne und beim „Olympic Summit“ im Dezember 2022 beschloss das IOC einen „Strategischen Rahmen für Menschenrechte“. Der Strategische IOC-Rahmen für Menschenrechte umfasst 50 Seiten und wird die Arbeitsweise des IOC, die Ausgestaltung zukünftiger Olympischer Spiele und die weitere Entwicklung der olympischen Bewegung ganz wesentlich beeinflussen. Mit diesem Rahmen soll sichergestellt werden, dass die Menschenrechte in jedem Zuständigkeitsbereich bei den Spielen und im Umfeld der Spiele geachtet und beachtet werden. Dieser Rahmen wird die Prozesse der IOC- Verwaltung, die Lieferketten für die Organisation von Olympischen Spielen, die Auswahl künftiger Gastgeber von Olympischen Spielen, die Organisation der Spiele, die Athletenvertretung und deren Mitsprache und Mitbestimmung, die Bereiche „Safe Sport“ – also belästigungs- und missbrauchsfreier Sport – und den „inklusiven Sport“ beinhalten und beeinflussen. Eine weitere Folge dieses Beschlusses ist die Einrichtung und Gründung einer Menschenrechtsabteilung (seit März 2021). Die Menschenrechte sind darüber hinaus in der Olympischen Charta fest verankert.
    Mit der Verabschiedung des „Strategischen Rahmens für Menschenrechte“ stellt das IOC die Rechte der Menschen in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Es ist vor diesem Hintergrund geradezu nahe liegend, dass die Teilnahme von individuellen Athletinnen und Athleten an Olympischen Spielen sich als eine Menschenrechtsfrage erweisen muss und das IOC die Menschenrechtskonvention der UN bei der Beantwortung dieser Fragen zu berücksichtigen hat.
  2. Am 25. Januar 2023 verabschiedete das IOC eine „Erklärung zur Solidarität mit der Ukraine, zu den Sanktionen gegen Russland und Belarus und zum Status der Athleten aus diesen Ländern“. In Dieser Erklärung wurden die bereits bestehenden Sanktionen gegenüber Russland bekräftigt, was das folgende bedeutet:
    • ¹Es dürfen von einem Internationalen Sportfachverband oder NOK keine internationalen Sportveranstaltungen in Russland oder Belarus organisiert oder unterstützt werden.
    • Kein russischer oder belarussischer Offizieller der Regierung oder des Staates darf zu einer internationalen Sportveranstaltung oder einem internationalen Treffen eingeladen oder akkreditiert werden.
    • Im Hinblick auf die Solidarität mit den ukrainischen Athletinnen und Athleten und der ukrainischen Olympischen Gemeinschaft werden die Unterstützung und das Engagement zu Gunsten der ukrainischen Athleten fortgesetzt. Ziel ist es, eine starke Mannschaft des NOKs der Ukraine bei den Olympischen Spielen Paris 2024 und den Olympischen Winterspielen Milano Cortina 2026 zu haben.
    • Alle internationalen Sportorganisationen werden aufgefordert, alle möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um das Training, die Vorbereitung und die Teilnahme ukrainischer Athleten an internationalen Sportveranstaltungen zu ermöglichen.

In Bezug auf die Frage nach der Teilnahme „individueller Athleten“ weist das IOC darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der vom IOC konsultierten Olympischen Stakeholder bereit sind zu einem starken Bekenntnis zum einigenden Auftrag der olympischen Bewegung. Diese Mehrheit ist auch bereit dem einigenden Auftrag gerecht zu werden, insbesondere in Zeiten der Teilung, der Konfrontation und des Krieges. Sie ist bereit, eine diskriminierungsfreie Behandlung aller Athleten im Einklang mit der Olympischen Charta zu achten und sie vertritt die Auffassung, dass staatliche Regierungen nicht entscheiden dürfen, welche Athleten an welchem Wettbewerb teilnehmen können und welche nicht. Kein Athlet sollte nur aufgrund seines Passes an der Teilnahme an Wettkämpfen gehindert werden.

Deshalb stellt sich das IOC mit seinen Mitgliedsorganisationen dem besonderen Auftrag, einen Weg für die Teilnahme von „neutralen Athleten“ an Wettkämpfen unter strengen Bedingungen weiter zu erörtern.

In der Erklärung werden auch die ersten Bedingungen bereits genannt:

  1. Die Athleten können nur als „neutrale Athleten“ an den Wettkämpfen teilnehmen und in keiner Weise ihren Staat oder eine andere Organisation ihres Landes vertreten.
  2. Die Athleten haben die Olympische Charta uneingeschränkt zu respektieren. D.h. nur solche Athleten können an den Spielen teilnehmen, die nicht gegen die Friedensmission des IOC verstoßen haben, indem sie den Krieg in der Ukraine aktiv unterstützen.
  3. Die Athleten können nur dann teilnehmen, wenn sie den Welt-Antidoping-Code und alle einschlägigen Anti-Dopingregeln und Bestimmungen vollständig einhalten. Im Vorfeld der Olympischen Spiele müssen alle Athleten individuellen Trainings- und Wettkampfkontrollen unterzogen werden.

Das IOC wurde von allen Teilnehmern, die an der Anhörung beteiligt waren, aufgefordert, die Konsultationssitzungen fortzuführen, wobei jeder internationale Sportfachverband die alleinige Zuständigkeit für seine internationalen Wettkämpfe hat.

Besondere Beachtung bei dieser Konsultation erhielt ein Bericht der UN-Sonderberichterstatterin für Kulturelle Rechte und der UN-Sonderberichterstatterin für Gegenwärtige Formen von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz. In diesem Bericht wird die Besorgnis der UN zum Ausdruck gebracht, dass man ernsthaft besorgt sei über die Empfehlung, russische und belarussische Athleten, Sportfunktionäre und Kampfrichter allein aufgrund ihrer Nationalität grundsätzlich von internationalen Wettkämpfen auszuschließen. Dies wirft ernste Fragen zur Nichtdiskriminierung auf.

Zur Kenntnis genommen wurde auch die von allen UN-Mitgliedstaaten, einschließlich der Ukraine, verabschiedete Resolution A/77/L. 28 der UN-Generalversammlung vom 1. Dezember 2022, in der anerkannt wird, dass internationale Sportgroßveranstaltungen im Geiste des Friedens organisiert werden sollten und dass der verbindende und versöhnende Charakter solcher Veranstaltungen respektiert werden sollte. In dieser Resolution wird auch die politische Neutralität der Olympischen Bewegung und die Unabhängigkeit und Autonomie des Sports sowie die Aufgabe des Internationalen Olympischen Komitees, die olympische Bewegung zu führen, einstimmig unterstützt. Zur Verabschiedung dieser Resolution sagte der Präsident der UN-Generalversammlung: „Ich ermutige alle Mitgliedstaaten, den verbindenden Geist des Sports und der olympischen Bewegung zu bewahren. Es ist für die Welt weitaus vielversprechender, wenn die Nationen auf den Sportplätzen miteinander wetteifern als auf den Schlachtfeldern. Ersteres macht uns edler und stärker Letzteres hinterlässt Tod und Verwüstung“.

3.   Aus Anlass der Rodelweltmeisterschaften in Oberhof im Januar 2023 weist IOC-Präsidenten Bach in zwei ausführlichen Interviews gegenüber der ARD und dem ZDF daraufhin, dass es bislang keine Beschlüsse gibt, denen zufolge russische Athletinnen oder belarussische Athletinnen und Athleten bei Wettkämpfen teilnehmen dürfen. Es sei auch noch nicht die Rede von Paris gewesen. Die bisherige und aktuelle Diskussion ging und gehe vielmehr um „individuelle neutrale Athleten“ ohne jeden Bezug zu irgendeiner Nationalität, denn dies sei ein Erfordernis der Olympischen Charta, die jegliche Diskriminierung verbietet. Die Rolle des Sports müsste auch in der Zukunft eine einigende sein. Das sei der Grundgedanke der Olympischen Spiele und der internationale Sport dürfe keine Spaltung vertiefen. Zum heutigen Zeitpunkt sei, jedoch klar, dass es bei den Spielen in Paris keine russischen Flaggen, keine russischen Hymnen, keine Uniformen und keine Regierungsvertreter der beiden Nationen geben wird.

4.  Am 22.2. 2023 veröffentlichte das IOC eine Erklärung „Krieg in der Ukraine – ein Jahr nach Kriegsbeginn“. In dieser Erklärung wird der brutale Angriffskrieg, der unendliches menschliches Leid zur Folge hat, bei dem Tausende unschuldige Menschen getötet werden und der zerstörte Städte und Landschaften hinterlässt, in aller Entschiedenheit verurteilt und der ukrainischen Bevölkerung wird das tiefste Mitgefühl ausgesprochen. Das IOC schließt sich in dieser Erklärung den Friedensaufrufen an und erklärt sich bereit, einen bescheidenen Beitrag zu friedensstiftenden Bemühungen zu leisten. Der Krieg – so wird in der Erklärung hingewiesen – stellt eine eklatante Verletzung des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Olympischen Friedens dar und damit auch eine Verletzung der Olympischen Charta. Aus diesem Grund sanktioniert das IOC die russischen und belarussischen Staaten und Regierungen, die diesen Krieg allein zu verantworten haben. Es werden keine internationalen Sportveranstaltungen in Russland oder Belarus organisiert. Es werden keine Hymnen gespielt und keinerlei Flaggen oder Nationalsymbole gezeigt und keine Regierungsangestellten oder Staatsbeamten zu internationalen Sportveranstaltungen akkreditiert. Das IOC betont noch einmal seine unerschütterliche Solidarität mit den ukrainischen Athletinnen und Athleten, die Tag für Tag unsäglichem Leid ausgesetzt sind. Das IOC hat seinen Solidaritätsfond für die Ukraine verdreifacht, um den ukrainischen Athletinnen und Athleten die größtmögliche Unterstützung für die Realisierung ihres „Olympischen Traumes“ zu gewähren. Zum Zeitpunkt dieser Erklärung konnten bereits 3000 Athletinnen und Athleten von dieser Unterstützung profitieren. Das IOC hält an seiner Friedensmission fest, die ganze Welt im friedlichen Wettstreit zu vereinen. Als nachahmenswerte Beispiele für diesen friedlichen Wettstreit kann auf die Athletinnen und Athleten aus Nord- und Südkorea, aus Israel und Palästina, aus Armenien und Aserbaidschan verwiesen werden. Das IOC ist der Auffassung, dass die Friedensbemühungen vom Dialog leben müssen. Olympische Wettkämpfe, bei denen die Olympische Charta respektiert wird, können Impulse für diesen Friedensdialog geben, sie können einen Schritt auf dem Weg zum Frieden sein. Olympische Spiele können ganz gewiss nicht Kriege und Konflikte verhindern Sie können auch nicht alle politischen und sozialen Herausforderungen dieser Welt aus Anlass von Spielen thematisieren. Dies muss aus gutem Grund die Aufgabe nationaler und internationaler Politik sein. Aber Olympische Spiele können als Vorbild für eine Welt dienen, in der alle dieselben Regeln befolgen und einander respektieren. Sie können uns inspirieren, Probleme zu lösen, indem wir Brücken bauen, welche zu einem verständnisvolleren Miteinander der Menschen beitragen. Sie können die Tür für Friedensbemühungen und einen kontroversen Meinungsaustausch öffnen, gerade auch dann, wenn man bei politischen Konflikten mit Exklusion und Spaltung nicht weiterkommt. Die Erklärung des IOC zu diesem schmerzhaften Jahrestag des russischen Angriffskrieges endet mit dem erneuten Aufruf an die ganze Welt: „Give Peace a Chance“.

5. In einem regelmäßig ergänzten „Q&A-Katalog“ mit Fragen und Antworten zur Solidarität mit der Ukraine, zu den Sanktionen gegen Russland und Belarus sowie zum Status der Athleten aus diesen Ländern geht das IOC ausführlich auf die aktuelle Situation ein. Einige IOC-Antworten sind meines Erachtens beachtenswert und sollen deshalb auszugsweisen im Folgenden wiedergegeben werden:

Das IOC und seine Mitglieder haben die Frage der Teilnahme der russischen und belarussischen Athleten als „neutrale Athleten“ kontrovers diskutiert und es gab dabei abweichende Meinungen. Doch die publizierte Position des IOC genießt die überwältigende Unterstützung der internationalen Sportfachverbände, der Olympischen Sommerverbände, der Nationalen Olympischen Komitees des afrikanischen, europäischen, ozeanischen und panamerikanischen Olympischen Kontinentalverbandes sowie die Unterstützung der Vereinigung aller Nationalen Olympischen Komitees (ANOC).

    • Das IOC bedauert, dass das NOK der Ukraine mit einem Boykott der Spiele droht und damit zu einer Eskalation des Problems beiträgt, obgleich die Frage nach der Teilnahme individueller neutraler Athleten mit russischem oder belarussischem Pass an den Spielen in Paris 2024 von den Gremien des IOC bis dato noch gar nicht diskutiert wurde. Das IOC hat Verständnis für besorgte Äußerungen, insbesondere aus den baltischen Ländern. Es weist jedoch mit Nachdruck noch einmal darauf hin, dass es nicht Sache der Regierung ist zu entscheiden, wer an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen darf. Denn das wäre das Ende der internationalen Sportwettbewerbe, der Weltmeisterschaften und der Olympischen Spiele wie wir sie kennen.
    • Das IOC ist demnach noch immer auf der Suche nach einer Lösung, die der Mission des Sports gerecht wird, d.h. es soll möglich werden, dass auch in Paris der Sport vereint und nicht zu einem Mehr an Konfrontation oder Eskalation beiträgt.
    • Das IOC weist den Vorwurf der „Komplizenschaft mit Russland“ entschieden zurück. Es weist darauf hin, dass das IOC im Gegensatz zu den meisten anderen globalen internationalen Organisationen Sanktionen gegen die verantwortlichen Staaten und Regierungen verhängt hat.
    • Das IOC sieht sich nicht auf der „falschen Seite der Geschichte“. Die Geschichte wird vielmehr zeigen, wer mehr für den Frieden bewirkt: Diejenigen, die versuchen die Kommunikationslinien offen zu halten, oder diejenigen, die isolieren oder spalten wollen. Das IOC hat seine Friedensmission bereits mehrfach unter Beweis gestellt so in Bezug auf den Konflikt zwischen Nord und Südkorea, zwischen Israel und Palästina und zwischen dem Kosovo und Serbien.
    • Beschuldigungen, das IOC sei „Förderer von Krieg, Mord und Zerstörung“, wie sie von ukrainischen Offiziellen geäußert wurden, werden als verleumderische Äußerungen in aller Entschiedenheit und auf das schärfste verurteilt. Ganz gleich wer sie äußert, sie können keine Grundlage für eine konstruktive Diskussion mit dem IOC sein.
    • Das IOC begrüßt die Resolution der 11. Dringlichkeitssitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit dem Titel „Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen für einen umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine“. In dieser Resolution werden – ganz im Sinne des IOC – die Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen aufgefordert, die diplomatischen Bemühungen um einen umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine im Einklang mit der Charta verstärkt zu unterstützen. Das IOC, das als nichtstaatliche Organisation den Status eines ständigen Beobachters bei den Vereinten Nationen hat, ist bereit, seine Unterstützung für die diplomatischen Bemühungen um einen dauerhaften Frieden nicht nur fortzusetzen, sondern zu verstärken. Als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine und seines Engagements für seine friedensstiftende Mission hat das IOC die ukrainische und die UN-Flagge zusammen mit der Olympischen Flagge vor dem Olympischen Haus in Lausanne gehisst, um so an den dunklen Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine mit Unterstützung von Belarus zu erinnern.
    • In Erwiderung der Resolution des Europäischen Parlaments, in der die „Entscheidung des IOC russischen und belarussischen Athleten zu gestatten, an den Qualifikationswettkämpfe für die Olympischen Spiele 2024 in Paris unter neutraler Flagge teilzunehmen“, weist das IOC daraufhin, dass die Resolution sich auf eine angebliche Entscheidung bezieht, die es bis zum heutigen Zeitpunkt noch gar nicht gibt. Das IOC befindet sich nach wie vor in einem Prozess der Sondierung eines ersten Konzepts für die Teilnahmebedingungen. Die Erklärung des Europäischen Parlaments steht nicht nur im Widerspruch zur Position des UN-Menschenrechtsrates, sie steht auch im klaren Widerspruch zur Autonomie der Sportorganisationen, die ein wesentlicher Bestandteil des Europäischen Sportmodells und ein Grundprinzip ist, das von den EU Institutionen bei vielen Gelegenheiten anerkannt wurde, u.a. in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. November 2021 zur Sportpolitik der EU, in der es heißt: „Die EU sollte bestrebt sein, die europäische Dimension des Sports weiter zu entwickeln und dabei seinen besonderen Charakter und seine Autonomie zu achten“.
    • Das IOC weist mit Nachdruck darauf hin, dass die Frage wer als „neutraler Athlet“ bei den Spielen in Paris teilnehmen kann und darf derzeit noch nicht beantwortet werden kann und Spekulationen über diese Frage nicht hilfreich sind. Derzeit wird ein erstes Konzept für die Teilnahmebedingungen ausgelotet. Es wurde in dieser Frage noch kein Beschluss gefasst. Wie die Einzelheiten aussehen könnten, muss noch ausgearbeitet und beschlossen werden. Es ist noch nicht einmal ganz klar, ob und wie der erste Schritt getan werden soll. Das IOC befindet sich in Konsultationen mit den einzelnen internationalen Sportfachverbänden, welche die alleinige Zuständigkeit für ihre internationalen Wettbewerbe haben. Ungeklärt ist auch die Frage, inwieweit die bislang diskutierten Vorstellungen zu neutralen individuellen Athleten auf Mannschaftssportarten übertragen werden können. Klar ist lediglich, dass neutrale Athleten sich nicht mit der Flagge, der Hymne, den Farben oder irgendeiner Art von Identifikation ihrer Länder und NOKs in Verbindung bringen dürfen.
    • Was russische Forderungen betrifft weist das IOC daraufhin, dass die Sanktionen gegen die Staaten Russland und Belarus und ihre Regierungen nicht verhandelbar sind.
    • Bei den Spielen in Paris hat Regel 50.2 der Olympischen Charta und deren Richtlinien Geltung für alle Teilnehmenden. Dies gilt auch für die so genannten „neutralen Athleten“. Während der Wettbewerbe auf dem Spielfeld, im Olympischen Dorf, während offizieller Anlässe einschließlich der Siegerehrung, Eröffnungs-und Abschlussfeier gilt das Demonstrationsverbot.

Wer bereit ist die hier skizzierten fünf Etappen inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen, die bislang das IOC mit seinen Mitgliedsorganisationen in den vergangenen beiden Jahren im Zusammenhang mit der Frage beschritten hat, ob russische und belarussische Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen 2024 in Paris teilnehmen sollen, der kann sich über die vielen maßlosen und auch meist polemischen Interventionen aus Kreisen der staatlichen Politik nur wundern. Vorschnell werden Forderungen erhoben, ohne dass man sich über den eigentlichen Sachstand des Entscheidungsprozesses kundig gemacht hat. Weder wird die Olympische Charta respektiert noch hält man sich an die eigenen Beschlüsse im europäischen Parlament oder in den Vereinten Nationen. Schon gar nicht kann man erkennen, dass aus diesen Kreisen der staatlichen Politik eigenständige Beiträge zu einer friedlichen Lösung des militärischen Konflikts erbracht werden.

Gleichzeitig muss jedoch bei einer sorgfältigen Lektüre der IOC- Etappen am Ende die sorgenvolle Frage aufgeworfen werden, wann das IOC bereit sein wird, eine Entscheidung für oder gegen eine Teilnahme „neutraler Athleten“ an den Olympischen Spielen in Paris zu treffen und wann das IOC bereit ist, den Fahrplan für eine Teilnahme neutraler Athleten mit konkreten zeitlichen Daten zu versehen. Dem IOC läuft schon längst die Zeit davon. Denn es sind nur noch etwas mehr als fünfzehn Monate bis zu der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris. In den meisten Olympischen Fachverbänden hat bereits der Qualifikationsprozess für die Spiele begonnen. Die in einigen Olympischen Fachverbänden vorherrschende Unklarheit über die Frage der Teilnahme von neutralen Athleten bzw. von neutralen Mannschaften kann dabei durchaus auch auf die Entscheidungsschwäche des IOC in Bezug auf das an Komplexität wohl kaum zu überbietende Problem zurückgeführt werden. Die in diesen Tagen bestehende Herausforderung für das IOC könnte wohl kaum größer sein.

Außenstehende können in dieser schwierigen Situation dem IOC allenfalls Anregungen unterbreiten, was bei dem dringend nunmehr erforderlichen Entscheidungsprozess in den nächsten Wochen beachtet werden könnte oder sollte.

Wer – wie ich – die Olympische Charta als das „Grundgesetz für den modernen Olympismus“ bezeichnet und als solches achtet, für den muss die erste Prämisse der bevorstehenden Entscheidung lauten, dass die Entscheidung selbst in jeder Hinsicht mit der Olympischen Charta übereinstimmen und zu vereinbaren sein muss.

Die zweite Prämisse, die meines Erachtens zu beachten ist, bezieht sich auf die Stellungnahmen der UN-Sonderberichterstatterinnen, in denen diese darauf hinweisen, dass ein Ausschluss von russischen und belarussischen Athleten, Offiziellen und Kampfrichtern allein auf Grund ihrer Nationalität ernste Fragen zum Gebot der „Nicht-Diskriminierung“ aufwerfen würde. Es käme damit zu einer Menschenrechtsverletzung. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse, muss dem IOC empfohlen werden, sich für eine Teilnahme neutraler Athleten mit russischem und belarussischem Pass auszusprechen.

Diese Prämisse wird allerdings nicht von allen Juristen geteilt. So kommt eine Juristin, die im Auftrag des DOSB – ohne vorherige Konsultation des IOC und dessen Präsidenten, der immerhin noch immer auch Ehrenpräsident dieser Organisation ist – ein Gutachten zu dieser Frage erstellt hat, zu einer gegenteiligen Empfehlung. Würde das IOC dieser Empfehlung folgen, so müssten die russischen Athleten von den Spielen in Paris ausgeschlossen werden. Die Frage der Teilnahme belarussischer Athleten müsste demnach unterschiedlich beurteilt werden, da Belarus bislang keine vergleichbare angreifende Kriegspartei im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist, wie dies bei Russland der Fall ist. Ob belarussische Athleten für die Spiele zugelassen werden sollen, wird in dem Gutachten allerdings nicht endgültig beantwortet. In dem Gutachten werden die Menschenrechte der ukrainischen Athleten besonders gewichtet. Sie werden schützenswerter erachtet als die Menschenrechte unschuldiger russischer Athleten. Meines Erachtens werden die erheblichen Benachteiligungen, Einschränkungen und Lasten ukrainischer Athleten in dem Gutachten zu Recht in den Blick der juristischen Aufmerksamkeit gerückt. Allerdings wird nicht gesehen, dass es auch unschuldige russische Athleten geben kann, die den Krieg weder verursacht haben noch dafür verantwortlich gemacht werden können, die sogar Opfer dieses Krieges sein können. Sie sind seit mehr als einem Jahr ebenfalls gravierend benachteiligt, wenn es um deren aktuelle sportliche Leistungsentwicklung und um deren notwendigerweise erforderliche systematische Vorbereitung auf eine mögliche Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris 2024 geht. Hinzu kommt, dass die Teilnahme von „neutralen russischen oder belarussischen Athleten“, die keine Schuld am Krieg haben, in keiner Weise die Rechte der ukrainischen Sportler einschränkt.
In diesem Gutachten werden die Unschuld menschlicher Individuen und das Menschenrecht auf Nicht-Diskriminierung ganz offensichtlich relativiert, was unter ethischen Gesichtspunkten problematisiert werden müsste. Hinzu kommt, dass die Grundlagen dieser Relativierung fragwürdig sind. In der Beurteilung der Menschenrechtsverletzungen, die den ukrainischen Athleten durch diesen Krieg ohne Zweifel zugefügt werden, bezieht sich das Gutachten auf die massenmediale Berichterstattung in Deutschland und auf ukrainische Daten. Anders geartete Berichterstattung und gegenteilige Daten über den Konflikt werden nicht zur Kenntnis genommen oder beurteilt. Fragwürdig ist auch die Annahme in dem Gutachten, dass mit einem Ausschluss der russischen Athleten das IOC einen friedenspolitischen Beitrag erbringen und der Krieg dadurch zu einem schnelleren Ende kommen würde. Einige militärpolitische Expertisen legen jedoch genau die gegenteilige Annahme nahe.

Das IOC kommentierte dieses Gutachten mit folgender Aussage: „Das IOC nimmt die Position des DOSB zur Kenntnis. Es ist normal, dass es auch Gegenstimmen gibt, vornehmlich aus einigen Ländern in Europa. Die laufenden Konsultationen des IOC genießen die überwältigende Unterstützung der internationalen Sportfachverbände, ihres Dachverbands (Association of Summer Olympic International Federations/ASOIF), der Nationalen Olympischen Komitees (NOKs), einschließlich aller fünf kontinentalen Verbände (Association of NOCs of Africa, European Olympic Committees, Olympic Council of Asia, Oceania National Olympic Committees und Panam Sports) sowie der Association of National Olympic Committees (ANOC), die alle 206 Nationalen Olympischen Komitees vertritt.
Was die Auslegung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen betrifft, so verlässt sich das IOC auf die Auslegung der UN-Sonderberichterstatterinnen.“

Nach Abwägung der unterschiedlichen juristischen Meinungen und der unterschiedlichen militärpolitischen Annahmen, wie es zu einem Ende des Krieges kommen kann und welche Maßnahmen dabei friedensstiftend sein können, ist meines Erachtens dem IOC zu empfehlen, sich bei der Menschenrechtsfrage in erster Linie an der eigenen Olympischen Charta zu orientieren und die Stellungnahmen der UN- Sonderberichterstatterinnen besonders zu gewichten. Demnach wäre eine Teilnahme neutraler Athleten  an den Spielen auch weiterhin zu empfehlen.

Ist damit die Entscheidung zur Teilnahme gefallen, so muss geklärt werden, welcher Prüfung jeder einzelne Athlet zu unterziehen ist, bevor seine Teilnahme genehmigt wird. Aus nahliegenden und mehrfach bereits erörterten Gründen verbietet sich dabei eine „Gesinnungsprüfung“. Das IOC und die Organisatoren der Olympischen Spiele 2024 müssen sich somit damit abfinden, dass es grundsätzlich möglich sein wird, ja dass es vermutlich sogar sehr wahrscheinlich sein wird, dass neutrale Athleten mit russischem und belarussischem Pass insgeheim den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstützt haben bzw. gedanklich und möglicherweise mit nicht bekannten Taten unterstützen, sie jedoch nach außen vorgeben, in der Frage der Unterstützung eine neutrale Position einzunehmen. Die politische Gesinnung ist jedoch grundsätzlich bei allen Athletinnen und Athleten, die an Olympischen Spielen teilnehmen, eine “Tabula rasa“, ein unbeschriebenes Blatt. Dies war in der Vergangenheit bereits der Fall, ist es in der Gegenwart und es wird auch in der Zukunft kein Ausschlusskriterium für die Teilnahme bei Olympischen Spielen sein können. In jedem Team, das von einem NOK zu den Olympischen Spielen 2024 entsandt wird, ist es möglich, dass sich unter den Athletinnen und Athleten des jeweiligen Teams auch Unterstützer des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine befinden. Ohne juristisch belastbare Beweise können solche Unterstützer aus einem Olympiateam nicht ausgeschlossen werden. Liegen sie vor, so ist ein Ausschluss zwingend geboten. Doch dies gilt für die neutralen Athleten gleichermaßen wie für alle übrigen Athleten.

Die von Kritikern vorgetragenen Bedenken, dass sich sämtliche russische und belarussische Athleten in einer direkten Abhängigkeit zu ihren jeweiligen Staaten befinden, sind berechtigt. Doch die gleiche Abhängigkeit gibt es bei allen übrigen Teilnehmern von Olympischen Spielen auch. Sämtliche NOKs die an den Spielen in Paris teilnehmen befinden sich in einer mehr oder weniger starken Abhängigkeit direkt oder indirekt zu ihrer jeweiligen Nation und zu ihrem jeweiligen Staat. Die Zugehörigkeit eines Athleten zu einem Militär-Sportclub kann kein Ausschlusskriterium sein, zumal das Militär in sehr vielen Staaten, die mit ihren Olympiamannschaften an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen werden, eine zentrale Rolle im jeweiligen Hochleistungssystem dieser Staaten spielt. Von den mehr als 10.000 Athletinnen und Athleten, die bei den letzten Olympischen Spielen in Tokio 2020 teilgenommen haben, war eine übergroße Mehrheit der Athleten in ein professionelles ganzjähriges Vollzeitverhältnis des jeweiligen Hochleistungssportsystems der Herkunftsländer eingebunden. In jedem dieser Systeme gibt es zahlreiche staatliche Anknüpfungspunkte und Abhängigkeiten zur jeweils anzutreffenden Regierung. Für einen Ausschluss von Athleten, mit der Begründung, dass diese einem militärischen Sportverein angehören, gibt es in der Olympischen Charta keine Grundlage. Jene, die dies fordern, müssten auch die Frage beantworten ob sie dann auch alle jene Staaten von den Olympischen Spielen ausschließen wollen, die als totalitär gelten, und wer über diese Ausschlüsse zu entscheiden hätte.
Nicht weniger berechtigt sind die kritischen Hinweise, dass „neutrale Athleten mit russischem oder belarussischem Pass“ während deren Teilnahme an den Spielen in Paris von der Öffentlichkeit als russische Athleten wahrgenommen werden, die Leistungen dieser Athleten mit Russland identifiziert werden und Russland diese Leistungen propagandistisch missbrauchen wird. Doch auch diesbezüglich muss darauf hingewiesen werden, dass aus gutem Grund in der Olympischen Charta hervorgehoben wird, dass bei Olympischen Spielen nicht Nationen, sondern individuelle Athleten antreten und dass ein Medaillenspiegel, wie ihn die Massenmedien und erfolgreiche Nationen schon seit langer Zeit missbräuchlich pflegen, nicht vorgesehen ist. Der propagandistische Missbrauch von an Olympischen Spielen teilnehmenden Athleten und Athletinnen durch staatliche Regierungen hat eine lange Tradition und Beispiele dafür lassen sich bei allen vergangenen Spielen aufzeigen. Mit diesem Missbrauch und mit einer fragwürdigen Identifikation der neutralen Athleten mit ihrem Herkunftsland Russland oder Belarus muss das IOC bei einer Entscheidung zu Gunsten der Teilnahme von neutralen Athleten leben. Sie sind Teil des Dilemmas, in dem sich die olympische Bewegung bei den Spielen in Paris befinden wird.
Wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages seine Ablehnung einer Teilnahme neutraler Athleten bei den Spielen in Paris u. a. damit begründet, dass die Gefahr besteht im Falle der Teilnahme „neutraler Athleten“ aus Russland und Belarus diese in Paris vom Publikum gefeiert werden könnten, so muss man ihm wohl antworten, dass dies in Frankreich durchaus möglich ist, denn laut einer Umfrage vom 5.3.2023 im Auftrag des Fernsehsenders ntv haben 72 % der Franzosen nichts gegen den Start dieser Athleten einzuwenden. Der Abgeordnete muss sich mit dieser Möglichkeit wohl abfinden und er wird es vermutlich auch überleben. Sollte er die Absicht haben, die Olympischen Spiele in Paris als Mitglied des Sportausschusses des Deutschen Bundestages selbst zu besuchen, so möchte ich ihn bereits jetzt vor einem möglichen weiteren „Affront“ warnen: Viele Besucher der Spiele werden bei einer Fahrt mit der Metro  den wichtigen Umsteigebahnhof „Stalingrad“ (Place de la Bataille-de- Stalingrad“ passieren.

An dieser Stelle muss ein besonderer Sachverhalt hervorgehoben werden, der für den bevorstehenden Entscheidungsprozess von zentraler Bedeutung ist. Folgt man der Olympischen Charta, so entscheidet über die Teilnahme von Athleten nicht das IOC, sondern dessen Partnerorganisationen, die Internationalen Olympischen Sportfachverbände (die IFs) und die Nationalen Olympischen Komitees (die NOKs). Aufgabe der IFs ist es, ihre Zulassungskriterien für die Wettkämpfe der Olympischen Spiele in Übereinstimmung mit der Olympischen Charta festzulegen und dem IOC zur Genehmigung vorzulegen, (Regel 26). Gemäß Regel 27 ist jedes NOK verpflichtet, an den Spielen der Olympiade durch die Entsendung von Athleten teilzunehmen. Diese dürfen sich nicht an Aktivitäten beteiligen, die im Widerspruch zur Olympischen Charta stehen. „Sie haben ihre Delegationen zu Olympischen Spielen aufzustellen, zu organisieren und zu leiten. Die NOKs entscheiden über die Meldung von Athleten an das IOC, die durch die nationalen Verbände vorgeschlagen werden. Diese Auswahl hat sich nicht allein auf sportliche Leistungen eines Athleten, sondern auch auf seine Eignung zu gründen, der Sport treibenden Jugend eines Landes als Vorbild zu dienen. Die NOKs haben sich zu vergewissern, dass die von den nationalen Verbänden vorgeschlagenen Meldungen in jeder Hinsicht den Vorschriften der Olympischen Charta entsprechen“.
Die Frage, wann der späteste Zeitpunkt eingetreten ist, an dem „neutrale Athleten“ zu den Spielen in Paris einzuladen sind, ist meines Erachtens mit Blick auf frühere Verfahren zur Einladung neutraler Athleten nicht eindeutig zu beantworten. Regel 44.1 der Olympischen Charta schreibt vor, dass das IOC ein Jahr vor Eröffnung der Olympischen Spiele Einladungen an die NOKs zu versenden hat. Dies wäre der 26. Juli 2023. Wenn sich das IOC entscheidet, neutrale Athleten zuzulassen, dann kann möglicherweise die IOC– Exekutive dies bis zum letzten Tag entscheiden. Die Charta gibt hierüber keine Auskunft.

Für mich, der die Olympische Charta als bindend für den Entscheidungsprozess über die Teilnahme von Athletinnen und Athleten anerkennt und ernsthafte Alternativen in der aktuell stattfindenden Diskussion nicht erkennen kann, die eine geeignete Grundlage für die anstehende Entscheidung sein könnten, steht somit fest, dass damit die Entscheidung über die Teilnahme neutraler russischer und belarussischer Athleten von den beiden Nationalen Olympischen Komitees in Russland und Belarus getroffen werden muss. Das IOC und in gewisser Weise auch die internationalen Sportfachverbände befinden sich damit in einem unauflösbaren Dilemma und ganz offensichtlich gibt es in dieser aktuell sehr kritischen Situation nur schlechte Lösungen für das komplexe Problem der Nominierung neutraler Athleten. Doch es wird darauf ankommen, dass man sich über die beste der schlechten Lösungen verständigen und einigen kann.

Dieses Dilemma kann meines Erachtens nur dadurch etwas verkleinert werden, dass der Entscheidungsprozess dieser beiden Komitees durch eine unabhängige Beobachterkommission überwacht wird, die möglichst auch im Auftrag der Vereinten Nationen arbeitet. Ferner müsste das IOC den beiden NOKs ein Beraterteam zur Seite stellen und die beiden NOKs müssten sich gegenüber dem IOC verpflichten, dass sie bereit sind, sämtliche weiteren Schritte und Maßnahmen transparent offenzulegen. Dazu müsste auch gehören, dass sämtliche Sitzungen dieser NOKs in einem Live-Streaming Kanal des IOC in englischer Sprache übertragen werden. Am Ende dieses Prozesses wird vermutlich die Nominierung eines großen Olympiateams sog. neutraler Athleten mit russischem und belarussischem Pass stehen, das sich in Bezug auf dessen Größe nur unwesentlich von früheren Delegationen der NOKs von Russland und Belarus unterscheiden wird. Dies sollte jedoch nicht als ein besonderes Problem erachtet werden und kann durchaus erwünscht sein, wenn bei der Nominierung die Regeln der Olympischen Charta befolgt werden.

Eines würde bei dem von mir hier angedachten Entscheidungsprozess jedoch vermutlich offengelegt werden: Das IOC hat ganz offensichtlich in der Vergangenheit immer wieder bei seinem Handeln sein eigenes Grundgesetz, die Olympische Charta, nur sehr ungenügend beachtet. Der eigene Anspruch in Bezug auf die zwingend erforderliche „politische Neutralität“ und auf die nicht weniger wichtige „Autonomie des IOC gegenüber der staatlichen Politik“ wurde viel zu oft von den eigenen NOKs missachtet. Wenn Sportminister gleichzeitig die Präsidenten von Nationalen Olympischen Komitees sind, wenn staatliche Repräsentanten die Entscheidungsprozesse in Nationalen Olympischen Komitees dominieren und direkt beeinflussen, dann wird die Glaubwürdigkeit des IOC beschädigt, was notwendigerweise auch in diesen Tagen bei der bevorstehenden Entscheidung über die Teilnahme neutraler Athleten der Fall sein wird. Hier rächt sich die Tatsache, dass von den autonomen Sportorganisationen in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig für eine klare Trennung ihrer eigenen Politik von der staatlichen Politik getan wurde. Die Olympische Charta ist in dieser Beziehung sehr eindeutig. Regel 27.6 schreibt vor, dass die NOKs „sich jedem Druck… zu wieder setzen“ haben. Es lässt sich wohl auch zukünftig kaum vermeiden, dass politische Parteien danach gieren, Führungspositionen in den nationalen Organisationen und Dachorganisationen des Sports mit Parteimitgliedern zu besetzen. Dennoch muss auch von solchen Repräsentanten Unabhängigkeit im Denken verlangt werden können und sie haben die konstitutiven Prinzipien, das Gebot der politischen Neutralität und das Gebot der Autonomie, die für das Fortbestehen internationaler Sportwettkämpfe zwingend notwendig sind, zu respektieren und bei ihrem Handeln zu beachten.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 20. 3. 2023